Wir veröffentlichen das Interview mit Helmut Pohl, das Oliver Tomlein führte und das in der Konkret vom Juni nicht vollständig abgedruckt worden ist. (Red.)
Zwischen RAF und etlichen Gefangenen hat es eine Spaltung gegeben, die Gefangenen treten nach außen hin nicht mehr als einheitliche Gruppe auf. Als wer oder für wen sprechen Sie in diesem Interview?
Zuerst spreche ich für mich. Aber es fließt auch ein, was ich von anderen Gefangenen weiß. Wir sind seit dem Hungerstreik 1989 allerdings fast alle vereinzelt gewesen. Es gab keine Möglichkeit zum Austausch über die neue Situation. Und die Post ist dafür auch kein geeignetes Medium.
Warum nicht?
Unsere Post wird seit über zehn Jahren ausgewertet. Vom BKA werden damit Projekte zur Stilerkennung gefüttert, jede Zeile von uns wird benutzt - das macht eine Diskussion unmöglich. Es geht aber auch praktisch nicht, ausschließlich über so ein schwerfälliges Medium wie Briefe zu kommunizieren. Es ist einfach ein Unding, nach jahrelanger Isolation und anschließender Abschottung von Außenkontakten. Trotzdem besteht das Kollektiv aber noch weiter: Wir kämpfen zusammen um unsere Freiheit.
Wie erklären Sie, daß sich in Folge der Zäsur von 1992, als die RAF angekündigt hat, die bewaffneten Aktionen gegen Menschen einzustellen, die Gefangenengruppe aufgelöst hat und die RAF von der politischen Bildfläche verschwunden ist?
Eine Zäsur, wie wir sie gewollt haben, ist überhaupt nicht gemacht worden. In unserer Vorstellung war Zäsur das Stichwort für eine Transformierung von dem, was die RAF bisher war, zu einer politischen Kraft, die auf die neue politische Situation einwirken kann. Und das ist nicht gelungen. '92 sind nur endlich diese Aktionen eingestellt worden, und der Rest hat sich in Luft aufgelöst. Die Ursache liegt darin, daß eine politische Auseinandersetzung darüber, wie es künftig weitergehen kann, überhaupt nicht in Gang gekommen ist.
Aber es gibt mittlerweile ein ganzes Buch voller Papiere, voller Kritik und Selbstkritik von RAF und Gefangenen ...
Aber diese Papiere der RAF und was als "Selbstkritik" lief, das war doch keine wirkliche Kritik. Das war die 80er Jahre umbiegen oder einmal durch die Waschanlage und die Kiste umspritzen. Die sogenannte "neue Politik" der RAF hatte nur versucht, eine Variante "revolutionärer Politik" im alten Grundschema zu machen, eine Reproduktion desselben, aber sozusagen diesmal ganz richtig. Und so eine Abwandlung des alten Grundkonzepts reicht nicht hin. In diesem Zusammenhang, ich finde es auch nötig, daß die Illegalen ihre Auflösung als RAF erklären. Das wollen auch andere Gefangene ausdrücklich, daß es hier gesagt wird. Und dann muß man sehen, was sich entwickelt.
Wie hätte Ihrer Meinung nach die Diskussion verlaufen müssen?
Um das zu erklären, ist es nötig, sich die Geschichte des Zäsur-Gedankens anzuschauen. Das erste Mal ist von seiten der Gefangenen 1987 von Zäsur die Rede gewesen ...
Also nach den Anschlägen auf den MTU-Manager Ernst Zimmermann, den Siemens-Manager Kurt Beckurts und den Diplomaten Gerold von Braunmühl. Bestand ein Zusammenhang zwischen Ihrer Zäsur-Diskussion und den Anschlägen?
Der Zäsur-Gedanke hat vor allem was mit den internationalen Entwicklungen zu tun. Uns war 1987 klar geworden, daß die Verhältnisse dabei waren zu kippen. Und deswegen mußte nach unserer Meinung das gesamte Konzept, das RAF bis dahin ausgemacht hatte, in Frage gestellt werden. Aus dieser Analyse ist aber keine Diskussion entstanden, sie ist steckengeblieben. Das ist auch eine Kritik an uns Gefangenen: Wir hätten damals, als deutlich wurde, daß wir nicht weiterkommen, von uns aus erklären müssen, daß es so nicht weitergehen kann. Aber wir haben damals gedacht, das geht nicht, damit dringen wir nicht durch. Die Grundgedanken waren uns auch einfach zu wenig, wir konnten, weit weg im Gefängnis und einzeln isoliert, auch nicht sagen, was das alles letztlich bedeutet und wie es weitergehen wird. Trotzdem hätten wir damit herauskommen müssen. Wenigstens hatten wir den Finger draufgelegt, als einige der wenigen damals.
Und wir haben im Hungerstreik '89 noch einmal versucht, diese grundsätzliche Neuorientierung einzuleiten. Danach über unser Drängen darauf, daß die RAF die Einstellung der Aktionen erklärt und dann politische Diskussion, Freiheit der Gefangenen.
Das war eine intern geäußerte Forderung?
Ja, das waren unsere internen Diskussionen, was die bewaffneten Aktionen betrifft.
Wieso haben Ihrer Meinung nach die neuen internationalen Entwicklungen dazu geführt, daß der bewaffnete Kampf keinen Sinn mehr macht?
Immer wieder wird die Politik der RAF mit dem bewaffneten Kampf gleichgesetzt. Das war aber nie so gedacht, das sollte nie so sein, und wo es so war, war es ein Fehler. Der Zäsur-Gedanke hat deswegen auch mit dem bewaffneten Kampf erstmal gar nichts zu tun. Mitte der achtziger Jahre war weltweit eine Tendenz zur Entgrenzung festzustellen. Ein Beispiel aus unserer Diskussion damals. In Mittelamerika wurde ein Vernichtungskrieg geführt, und er ist hier überhaupt nicht mehr wahrgenommen worden, im Gegenteil, es wurde das entgegengesetzte Bild verbreitet, und das hat gegriffen. Es ging hier immer darum, daß dort angeblich demokratische Fortschritte zu verzeichnen wären, während tatsächlich ganze Landstriche zerstört worden sind. Gleichzeitig ist hier in Zentraleuropa in allen wesentlichen Bereichen die Macht mit ihren Projekten durchgekommen. Ob es jetzt um Gentechnik geht, um Atomtechnologie, um Festung Europa oder um militärische Strukturen. Es war ein Qualitätsumschlag. Ich will dazu sagen: der für uns zu dieser Zeit sichtbar wurde. Nicht-Europäer haben uns dazu gesagt, sie hätten das 1980 herum diskutiert, das zeigt auch etwas.
Und deswegen war es für uns von enormer Bedeutung, daß aus einem weiten linken Spektrum Leute zusammenkommen und diskutieren, um zu begreifen, in welche katastrophale Richtung sich die Verhältnisse entwickeln. Denn es war ja nicht nur unser Ansatz, Politik zu machen, überholt worden, auch die anderen linken Gruppen, ja sogar das linke bürgerliche Lager waren gescheitert und standen mit einem Mal ohne angemessene Instrumentarien und Methoden da, die geholfen hätten, mit der neuen Lage umzugehen.
Das heißt, die Entscheidung gegen Anschläge, wie sie früher Kennzeichen der RAF waren, hat grundsätzlichen Charakter. Wie paßt das aber zu Ihrer Erklärung von 1993, in der Sie geschrieben haben: "Ich mache diese Aussagen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, heute nicht mehr. Und die Möglichkeiten, die in der Zäsur gesteckt haben, dürften vorbei sein. Und deswegen werde ich einen Teufel tun und den bewaffneten Kampf ,absagen'." Das paßt besser zu dem Hardliner-Image, das Ihnen die Bundesanwaltschaft verpaßt hat.
Es war sicher ein Fehler, daß ich diesen Schlußpassus der Erklärung im Zorn so formuliert habe. Aber wer den ganzen damals in der TAZ abgedruckten Text liest, kann leicht feststellen, daß der Sinn im Zusammenhang ist: Ich lasse mich nicht zur Staatspropaganda erpressen. Von uns ist damals eine deklaratorische Absage an Gewalt und die RAF-Politik von Anfang an verlangt worden - und dazu bin ich nicht bereit. Die Zäsur war nicht als diese Art Zugeständnis gedacht, sie wäre notwendig gewesen, um weiter Politik zumachen. In der Anfangszeit unserer Zäsur-Diskussion haben Besucher von uns und die RAF gar nicht verstanden, worum es uns ging. Beispielsweise wurde uns immer wieder entgegengehalten, daß der Angriff aufrechterhalten werden müßte. Ich persönlich finde das überhaupt keinen überzeugenden Gedanken: Wenn zwischendurch was Richtiges gemacht wird, dann schadet es nicht, "wenn der Angriff nicht aufrechterhalten wird". Aber selbst wenn man das anders seiht, hätte man eine andere Angriffsform finden müssen. Und da hat es in dieser Zeit Überlegungen gegeben - z.B. daß anstelle der Erschießungen Sabotageaktionen auf hohem Niveau gemacht werden könnten. Aber umgesetzt worden ist auch das nicht. Und dieser Hardliner-Vorwurf: der hat mit dem, was wir Gefangenen tatsächlich machen oder sagen, nichts zu tun. Bis 1992/92 galten wir Gefangenen grundsätzlich alle als "hardliner" - und zwar trotz unserer Anstrengungen, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Ich erinnere hier nur mal an diese Vollmer/Käsemann/Walser-Initiative 1988: darauf sind wir eingegangen, und zwar nicht als taktisches Manöver, sondern weil es uns in um diesen Zäsur-Gedanken ging. Aber der Apparat hat das verhindert. Als "hardliner" galten wir trotz unserer Bemühungen im Hungerstreik 1989, obwohl wir da mit Leuten aus dem Apparat und vielen anderen gesprochen und geredet haben - und alle wußten, daß wir was Neues wollen. Damals sind angebliche Angriffspläne von uns erfunden und durch die Medien lanciert worden. Und es ging dann gegen die übrigbleibenden Gefangenen weiter, trotzdem wir durch Irmgard Möller auch öffentlich erklärt hatten, daß wir die Einstellung der Aktionen begrüßen. Tatsachen haben in dem Propaganda-Rollback überhaupt keine Rolle gespielt.
Wenn man es sich heute anschaut, dann muß man sagen: Statt einer Transformierung der RAF und der notwendigen politischen Entscheidung in der Gefangenenfrage für alle Gefangenen ist eine Spaltung gekommen, die über die Reduzierung auf einige wenige Gefangene und die entsprechende "Hardliner"-Propaganda das zu dieser Zeit aktuelle Gefangenenproblem "erledigt" und es den Staatsapparaten ermöglicht hat, an uns übrigbleibenden Gefangenen doch noch zu versuchen, was sie 20 Jahre lang mit allen Gefangenen vorhatten, zu Ende zu bringen.
Was könnte das Interesse der Bundesanwaltschaft daran sein?
Ihr ist vor allem wichtig, die politische Feinderklärung fortwirken zu lassen, und sie will offensichtlich auf keinen Fall den politischen Prozeß zulassen, den wir anstreben. Die RAF-Geschichte soll mit einer Abrechnung beendet werden, die sich natürlich auch an Personen festmacht, und soll eben nicht in einen politischen Prozeß münden. Und das hat nicht nur was mit der RAF zu tun, sondern zeigt insgesamt, wie Gesellschaft nach Vorstellung von BKA und Bundesanwaltschaft funktionieren soll.
Aber daß das funktionieren kann, hat doch auch was mit der RAF selber zu tun, die nie sehr offen für kontroverse Diskussionen war und die sich niemand vorstellen konnte als eine Gruppe, die zu einem anderen Mittel greift als zu dem, Menschen zu töten.
Sicher hat das auch mit der RAF zu tun. In den 80er Jahren war es keine Spezialität der RAF, nicht offen für kontroverse Diskussionen zu sein. In anderen linken Gruppen war es genauso. Die Ursache dafür liegt meiner Meinung nach ziemlich weit zurück, der Grundfehler bei uns, aber eben auch in vielen anderen linken Gruppen, war, daß politische Strukturen immer wenig oder gar nicht entwickelt wurden. Statt dessen hat sich Ideologie und Aktionismus durchgesetzt. Dabei hatte das RAF-Konzept immer schon beinhaltet, daß es ein Primat der Politik geben muß, die bewaffnete Aktion sollte die Politik befördern, aber nicht ersetzen.
Daß die RAF gerade nicht in erster Linie politisch, sondern militärisch handelt, haben auch linke Gruppen immer wieder kritisiert.
Ja, aber immer nur so, wie es ihnen gerade in ihr politisches Konzept gepaßt hat. Deswegen sind diese Auseinandersetzungen immer wieder gescheitert. Ich denke, daß der Grundfehler von allen, den Gruppen der radikalen Linken allgemein und der RAF, war, daß wir uns viel zu wenig in der Realität bewegt haben und viel zu sehr in der Ideologie. Es gab Treffen, Papers, Konzeptdiskussionen, Veranstaltungen, Kampagnen - aber das war nichts Reales. Und der Zusammenbruch der radikalen Linken Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre war die Stunde der Wahrheit für diese Struktur von Politik, wie sie aus den sechziger Jahren gekommen ist - wenn etwas erkämpft worden wäre, aus allem, worum es die ganze Zeit ging, dann hätte da etwas von hinübergenommen werden müssen. Aber das ist nicht geschehen. Statt dessen Selbstauflösung und Run auf die Plätze. Und letztlich bringt das darauf, bei der RAF war es ja nur auch nicht anders als sonst, daß die deutsche radikale Linke oder Linke überhaupt nie aus dem Widerspruch rausgekommen ist, im weitestentwickelten System zu leben und die sich daraus ergebenden Widersprüche gleichzeitig nicht auszuhalten. Einerseits möchte man raus, zu etwas anderem, andererseits ist es der beste von allen Plätzen, die sichtbar sind. Dieser Widerspruch hat in unserem Spektrum eine Theorie und Praxis hervorgebracht, die von ideologischem Denken, in sich kreisender Betriebsamkeit und Aktionismus geprägt war. Ich nennen das ,Politik-Ersatz'. Und Politik heißt hier: reale Prozesse. Nicht Ideologie. So schlau wie die weiße europäische Linke und noch mal ganz besonders die BRD-Linke war auf der ganzen Welt kaum jemand. Niemand hat mehr gelesen, so viel geredet wie die Linke hier. Das ist aber nicht Politik. Sie zeigt sich als stationärer Prozeß, der in diesen gesellschaftlichen Rahmen eingepaßt bleibt. Ein Beispiel dafür, was ich mit "stationär" meine - Frauen kommen doch seit langem massiv damit, daß diese sogenannte Sexismus-Debatte, die Männer-Diskussion, immer nur das Ergebnis hat, daß das Problem debattenmäßig bewältigt wird, damit politisch erledigt ist und alles so bleiben kann, wie es vorher war. Und da haben sie recht. Es ist eine Art Problembeseitigungsmechanismus. In dem Beispiel ist das nur besonders dicht. Es ist auch im Anti-Rassismus da. Es war beim WWG '92 da, die guten Veranstaltungen als Ersatz.
Und die RAF ist Ihrer Meinung nach Teil dieses stationären Prozesses?
Sie war Teil davon geworden. Die Aktionen, die dann in der 2. Hälfte der achtziger Jahre gemacht wurden, waren für die meisten der heutigen Gefangenen grundsätzlich falsch. Die bewaffnete Aktion hatte für uns ja immer eine strategische Funktion. Sie sollte was klarmachen und weiterbringen. Die Aktionen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren aber nur noch eine Aneinanderreihung von Erschießungen. Und letzten Endes, wenn man sie auf einen politischen Kern reduziert, bleibt nichts übrig als Bestrafungsaktionen. Und die RAF wußte auch, daß wir diese Aktionen kritisieren. Sie wußten z.B. von mir auch ausdrücklich, daß ich dagegen bin, daß die Entwicklung so weitergeht, daß Leute abtauchen. Wenn ein Konzept keine Perspektive mehr hat, kann man, selbst wenn man sagt, der Angriff muß aufrechterhalten werden, nicht neue Leute holen. Die stellen sich vor, sie setzen dort den Kampf, den sie in konkreten Basisprojekten gemacht haben, an anderer Stelle fort, gehen aber tatsächlich ins Leere. Ich will hier kein falsches Bild aufkommen lassen, ich will uns nicht davon abtrennen. Wir waren alle Teil davon und haben es getragen. Ich spreche hier zur Verkehrung der Verhältnisse in der Abwicklung des Gefangenenproblems während der letzten Jahre. Wir haben es weitergetragen, vom Aufschrei bis zum Verstummen, weil wir eine Kontinuität wollten. Wir waren vollständig überstimmt von den absehbaren Auswirkungen des gesamten Umbruchs und haben gedacht, es muß doch eine Kraft her. Das hat uns die entscheidende Konsequenz versperrt.
Aber widerspricht sich das nicht: einerseits eine Kontinuität zu wollen, andererseits dagegen zu sein, daß neue Leute in die Illegalität gehen?
Es ging nicht um eine Kontinuität der RAF, wie sie bestanden hat, sondern um eine Kontinuität von Inhalten. Der bewaffnete Kampf war doch nicht der Inhalt der RAF. Der Inhalt der RAF war, wenn man es mal auf den Punkt bringt, Befreiung.
Sie kritisieren die Anschläge und Attentate der RAF in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Was war denn vorher besser? Wo sehen Sie z.B. den Unterschied zwischen dem fehlgeschlagenen Versuch, General Kroesen zu töten, und dem Genickschuß auf den Diplomaten von Braunmühl?
Sie sprechen da eine Aktion an, wo das unterschiedliche Verständnis aufeinandertrifft. Wir haben Aktionen wie die gegen Braunmühl Anfang der Achtziger verworfen, wir waren durch die Funktion dieses Amts auf einen seiner Vorgänger gestoßen, weil für uns dabei das Mittel und der politische Zweck kraß auseinandergefallen wäre. Übrigens eben auch aus der Erfahrung von denen von uns aus der 77er Zeit, die als fiktive "hardliner" besonders beliebt sind. Die Aktion gegen Kroesen oder gegen den Stützpunkt Ramstein erfolgte dagegen im Rahmen der Auseinandersetzung um die NATO-Nachrüstung. Beide waren bestimmt als strategische Aktionen, die angreifen sollten, was unserer Meinung nach den weltweiten Umbruch forcierte: die militärische Aufrüstung in den Zentren.
Die Nachrüstung zu verhindern war auch ein Ziel der Friedensbewegung, die im großen und ganzen die RAF-Anschläge strikt abgelehnt hat. Hat Sie das nicht stutzig gemacht?
Na ja. Es gab ja auch viele, die die Friedensbewegung stutzig gemacht hat. Die Friedensbewegung hat zum Beispiel eine starke nationale Schlagseite gehabt. Sie hat sich vor allem dagegen gewandt, daß der Krieg hier geführt werden soll, und dieser Teil der Friedensbewegung hat sich auch nicht um imperialistische Interessen und Kriegsziele geschert.
Wenn Sie an der Friedensbewegung zu Recht eine nationale Schlagseite kritisieren, dann muß es Ihnen doch beim Leser mancher alter RAF-Texte auch unbehaglich werden. Dort wird Deutschland auch als US-Kernstaat bezeichnet und als besetztes Land charakterisiert.
Das sind Töne, die aus den 70er Jahren kommen und die ihren Grund in einer fatal verkürzten Analyse hatten: Aus der Tatsache, daß das US-Kapital weltweit führend war und daß die US-Konzerne die deutschen Konzerne dominiert haben, ist geschlossen worden, daß die BRD eine Art US-Kolonie sei. Das war falsch. Aber in unserer Politik hat diese Überlegung nur eine untergeordnete Rolle gespielt.
Aber die Anschläge richteten sich meistens gegen US-Militäreinrichtungen oder US-Militärs.
Ja. Aber immer im Zusammenhang mit der NATO und der Nachrüstung. Das waren keine Aktionen gegen die USA als Besatzer. Aber ich gebe zu, daß es da in der Linken insgesamt und damit auch in unserem Spektrum offene Flanken gab. Es gab antiamerikanische Blüten, die gingen so weit, daß US-Kultur abgelehnt wurde. Aber wir, ich war damals illegal, haben diesen als Antiimperialismus verkleideten Antiamerikanismus in Gesprächen und bei unseren Kontakten kritisiert. Das hat allerdings manchmal nichts geholfen. Es gibt da sowieso ein falsches Bild davon, wie die Situation von uns und von unserem Umfeld damals war. Wir haben Anfang der Achtziger auch die RAF nicht verstärken wollen, wir haben Leute, die zu uns stoßen wollten, in die Kämpfe vor Ort zurückgeschickt. Wir wollten Strukturen und politische Prozesse, und zurück kam die Aufforderung, wir sollten Aktionen machen. Den Druck konnten wir damals auch nicht ändern. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß alles so läuft, wie man sich das in einem Konzept ausdenkt und vorstellt. Das hat später bei der Zäsur-Debatte ja auch nicht geklappt.
Es gab lange Zeit die Forderung der Gefangenen, in ein oder zwei großen Gruppen zusammengelegt zu werden, damit eine Auseinandersetzung untereinander stattfinden kann. Was denken Sie heute, wie es weiterlaufen könnte?
Es kann für uns nur darum gehen, wieder auf die Tagesordnung zu setzen, daß wir raus müssen. Nach wie vor ist das eine politische und keine juristische Frage. Es geht hier nicht um eine abstrakte prinzipielle Ebene. Wir haben es auch nicht mit der Justiz im allgemeinen zu tun, sondern mit der BAW und den Staatsschutzgerichten, und wir haben die bekannte Haft- und Prozeßgeschichte. Abgesehen davon geht es den meisten von uns gesundheitlich außerordentlich schlecht, so daß diese Perspektive zwanzig Jahre und noch ein bißchen mehr, je nachdem, wie man sich individuell verhält, für uns keine ist. Wir müssen jetzt Wege zur Entlassung finden. Und dafür muß es eine Entscheidung geben, die mehr ist als nur Worte. Es muß etwas sichtbar werden, vor allem in unserem Gefangenenstatut: Was manch man sonst mit jemandem, den man in absehbarer Zeit rauslassen will? Der kann seine sozialen Beziehungen nach draußen aufbauen. Entsprechendes muß für uns auch möglich werden. Wir müssen anfangen können, Grundlagen zu bauen dafür, wie wir anschließend leben wollen. Es muß Kommunikation und Arbeitsprojekte geben können. Wir haben ja derzeit fast keine Kontakte nach draußen. Man muß sich klar machen, daß dieses Interview eine der ganz wenigen Gelegenheiten ist, wo ich mit jemandem von draußen zusammenhängend länger sprechen kann. Mein größter Erfolg in meiner ganzen Haftzeit war vor einigen Wochen 90 Minuten Gespräch ohne LKA-Überwachung.-
Ist diese Orientierung auf Kommunikation mit Leuten von draußen bei den Gefangenen Konsens?
Es geht bei uns hin und her, weil manche meinen, es sei wichtiger, daß wir Zusammenlegung haben und was Gemeinsames veröffentlichen können. Ich war immer der Meinung, daß es viel wichtiger ist, daß aufgemacht wird.
Wir sind alleine zu wenig, um weiterzukommen, wir brauchen weiterreichenden Austausch. Es kann auch gar nicht darum gehen, das, wofür vor Jahren das Stichwort "Diskussion" stand, jetzt noch nachzuholen. Natürlich suchen wir Gespräche für gemeinsames Interesse, das ist ja klar, aber Kommunikation mit draußen hat für uns vor allem den Sinn, erste Schritte auf dem direkten Weg zur Freiheit zu finden.
Das Schlimmste, was bei uns jetzt geschehen war, und daraus resultiert auch die ganze Schärfe der inneren Auseinandersetzung, ist, daß wir aus langen Jahren der Isolation nicht etwa in eine Situation gekommen sind, in der wir diese Isolation hätten verarbeiten können. Das, was in diesen langen Jahren geschehen ist, hätten wir zusammen mit anderen besprechen und verarbeiten müssen. Aber das wurde nicht zugelassen. Statt dessen sind wir aus der Isolation ins Vakuum der normalen Stationen gekommen, in einen Kreis von Personen im Gefängnis, der auch sehr klein ist und wo das nicht geht, und nach außen sind wir weiterhin strikt abgeschottet geblieben. Da sind erst die gesundheitlichen Abstürze bei uns gelaufen, da kam die Isolation voll zur Wirkung. Und diese Isolation mit ihren Folgen, die wir am eigenen Leib erlebt haben, die muß überall, wo sie auftaucht, bekämpft werden. Wenn einer lange drin war, muß danach etwas geschehen, da kann man nicht einfach den Deckel aufmachen, und dann muß er sehen, wo er bleibt und wie. Und wenn ich das hier sage, als einer, der es selbst mitgemacht hat, dann nicht, um unsere schlimme Geschichte herauszustellen, sondern weil es sich in den Gefängnissen abzeichnet, daß diese systematische Isolation, der wir vom ersten Tag an ausgesetzt waren, zunehmend auch allgemein auf andere Gefangene angewandt wird, die wegselektiert werden sollen.
Redebeitrag auf der Anti-Nato-Demo - Berlin
Wir dokumentieren im folgenden einen Redebeitrag, der auf der Anti-Nato-demonstration am 3.6. in Berlin gehalten wurde und dem die rund 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufmerksam zuhörten.
Wir reden jetzt von den Gefangenen aus der RAF, weil sie an vorderster Front gegen die Nato-Kriegspolitik gestanden haben. Weil wir wollen, daß sie frei sind.
Die RAF hatte sich vorgenommen, aus den Bedingungen hier mit den Befreiungsbewegungen im Süden der Welt eine gemeinsame Kraft gegen das imperialistische System aufzubauen und es so zu überwinden. Also ein Befreiungsprojekt zur Verteidigung bzw. Rückeroberung des Lebens für die Mehrheit der Weltbevölkerung.
Es war in den 70ern greifbar, einen Durchbruch gegen die globale zerstörerische Entwicklung der imperialistischen Herrschaft zu erkämpfen. Das lag an der Stärke und Massenhaftigkeit der Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika und dem gleichzeitigen Aufbruch in Westeuropa und Nordamerika.
Wir wissen alle, daß es anders gekommen ist und daß alle mit einer Entwicklung konfrontiert sind, wie die Reichen und Regierenden vorpreschen Richtung Weltfaschismus.
Trotzdem waren die Kämpfe für eine Umwälzung nicht umsonst.
Die Guerilla hat die Wirklichkeit in der BRD entscheidend mit geprägt. Sie hatte eine starke Wirkung auf die gesamte Linke. Es gab natürlich Distanzierungen bis hin zum Verrat, aber auch und das ist wichtiger: viele legale Gruppen bezogen sich auf die Analyse und Strategie der RAF. In der internationalistischen Arbeit, in den Kämpfen gegen imperialistischen Krieg, gegen die Nato.
In der Zeit gab es viel Kritik an der Fixierung auf die Militärstruktur. Davon war einiges berechtigt,
aber die Wirklichkeit jetzt hat unsere Vorstellungen von damals weit überholt:
die Annexion der DDR, der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, Bundeswehrsoldaten in Kambodscha, Somalia, Jugoslawien und Georgien, ein General als Innensenator von Berlin ...
Angesichts der Triumphe des Kapitals stellt sich die Frage: Warum werden die Gefangenen weiter gequält, obwohl dieser Befreiungsprozeß abgeschlossen zu sein scheint.
Es ging dem Staat von Anfang an darum, die Gefangenen nicht nur einzusperren, sondern sie durch spezielle Methoden zu brechen. Diese Folter - seit 25 Jahren in Variationen praktiziert - hat Spuren hinterlassen. Sie hat Spuren hinterlassen, aber sie ist nicht vollständig durchgekommen. Sie hat ihr Ziel nicht erreicht, denn es ihnen nicht gelungen, alle zu brechen und damit jede Spur dieser Politik auszulöschen.
Langandauernde, z.T. internationale Mobilisierung für die Freiheit der Gefangenen erkämpfte die Entlassungen zuerst von Günter Sonnenberg 1992 bis jetzt im Mai die von Hanna Krabbe.
Das Vernichtungsinteresse des Staates konzentriert sich auf die, die jetzt noch drin sind. Die beabsichtigte Zementierung endloser Haft durch die inszenierten Kronzeugen-Prozesse, die fortgesetzte gesundheitliche Zerstörung der Gefangenen zeigen das deutlich.
"Was könnte das Interesse der Bundesanwaltschaft daran sein?" So ist eine Frage in dem Interview mit Helmut Pohl, Gefangener aus der RAF in den frühen 70er und danach seit 84.
Er sagt: "Ihr ist v a. wichtig, die politische Feinderklärung fortwirken zu lassen, und sie will offensichtlich auf keinen Fall den politischen Prozeß zulassen, den wir anstreben.
Die RAF-Politik soll mit einer Abrechnung beendet werden, die sich natürlich auch an Personen festmacht, und eben nicht in einem politischen Prozeß münden, und das hat nicht nur mit der RAF zu tun, sondern zeigt insgesamt, wie die Gesellschaft nach Vorstellung von BKA und Bundesanwaltschaft funktionieren soll ..."
Diese gesellschaftliche Bedeutung hat auch Sieglinde Hofmann in dem Kronzeugenprozeß gegen sie dargestellt: Als Warnung und Abschreckung gegen eine neue Generationen des Aufbruchs und um Untertanen zu produzieren. Denn mehr denn je braucht das kapitalistische imperiale System eine Mischung aus Egoismus, Gleichgültigkeit, Mitläufertum, Entpolitisierung einerseits und reaktionäre, rassistische, faschistische Cliquen - etablierte Cliquen - andererseits als vorherrschenden gesellschaftlichen Mainstream.
Weil es immer umfassender, grenzenloser und aggressiver weltweit und im Inneren der Metropolen agiert, die Anzahl der Menschen, die ausgegrenzt sind und werden, deren Leben nichts zählt, deren Lebenschancen immer geringer werden, die auf ewig an der Armutsgrenze gehalten werden sollen, wächst im Trikont und in den Metropolen relativ gleichermaßen. Und das soll alles als Normalität gefressen werden ..."
Wir reden hier, weil wir diese Normalität nicht akzeptieren. Wenn wir das nicht schaffen, dagegen solidarische Beziehungen aufzubauen, werden wir kaputtgehen.
Die Bewegungen jetzt gegen Faschismus und Krieg brauchen ein Bewußtsein über ihre Vergangenheit und Ursprünge. Sonst haben sie auch keine Zukunft.
Wir fordern euch deshalb auf, euch an den Initiativen für die Freiheit der politischen Gefangenen zu beteiligen. (...)
Die Menschenwürde behaupten - die Folter besiegen
Freiheit für alle politischen Gefangenen
Freunde und Freundinnen der politischen Gefangenen in der BRD - Berlin, 3.6.96 (gekürzt)
Trotz "Beweisen" aus Folterung
Auszüge aus einer Presseerklärung der "Roten Hilfe Berlin" vom 5. Juni:
"Heute, Mittwoch, den 5. Juni, wurde Benjamin Ramos Vega um 13.05 Uhr über den Flughafen Berlin-Tegel an Spanien ausgeliefert. Ramos Vega wird noch heute der Audiencia Nacional vorgeführt. Die Verteidigerin Schlangenhauf konnte durchsetzen, Ramos Vega beim Flug zu begleiten.
Die Auslieferung wurde in einer Blitzaktion durchgeführt, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVG) die Verfassungsklage von Ramos Vega abgewiesen hat. Nicht einmal seiner Ehefrau wurde noch die Gelegenheit gegeben, sich zu verabschieden.
Kern der Verfassungsklage war das Verwertungsverbot der durch Folter erlangten Erkenntnisse. In ihrer Entscheidung ging die dritte Kammer des BVG davon aus, daß gegen den Belastungszeugen von Ramos Vega Folter angewandt wurde, dennoch wurde das Verwertungsverbot von indirekter Folter nicht als Auslieferungshindernis anerkannt. Diese Entscheidung nannte Verteidiger Becker ,feige und grundrechtsfeindlich'.
Die Entscheidung des BVG ging erst gestern, Dienstag, 4. Juni 1996, per Post bei den AnwältInnen ein, obwohl sie bereits vom 29.5.96 datierte. ... Keine 24 Stunden, nachdem die Entscheidung zugestellt wurde, ist Ramos Vega nun ausgeliefert. Damit ist offensichtlich, daß die Bundesregierung bereits vorab über die Entscheidung informiert wurde, damit sie die Auslieferung organisieren konnte. Die Verteidigung wurde hingegen hingehalten und ihr in skandalöser Form jede Möglichkeit genommen, gegen die Auslieferung vorzugehen. Das Asylverfahren von Ramos Vega war noch nicht abgeschlossen. Die Verteidigung war ... dabei, eine Klage bei der europäischen Menschenrechtskommission einzulegen, mehrere Abgeordnete des Bundestages hatten bereits eine Petition gegen die Abschiebung vorbereitet, mit der der Bundesjustizminister aufgefordert werden sollte, aus politischen Gründen einer Auslieferung nicht zuzustimmen."
Interview mit der RA Petra Schlagenhauf
Sie haben Benjamin Ramos Vega bei seiner Auslieferung nach Spanien begleitet. Wie war die Reise?
Es fing damit an, daß ich von dem Abflug nur zufällig erfahren habe. Von den deutschen Behörden wurde ich nicht informiert. Im Flugzeug fand ich meinen Mandanten im hinteren Teil der Maschine. Die ganzen letzten Reihen waren frei, nur besetzt mit einigen spanischen Polizeibeamten. Mein Mandant sah aus wie ein verschnürtes Paket. Er hatte eine Gesichtsmaske auf, angeblich ein "Spuckschutz" wegen seiner HIV-Infektion. Er war mit den Händen auf dem Rücken gefesselt, sehr unbequem mit einer Plastikfesselung. Ich habe, schon bevor das Flugzeug abhob, gefordert, daß man diese völlig unsinnige Maske abnimmt und auch die Fesselung. Die Maske mußte er jedoch bis Madrid aufbehalten. Auf mein Drängen versuchten die spanischen Beamten nach dem Start, die Plastikfessel abzunehmen. Das gestaltete sich äußerst schwierig. Denn es ist eine Fessel, die zwar einschnappt, aber dann nicht wieder geöffnet werden kann. Man muß sie durchschneiden. Im ganzen Flugzeug war kein geeignetes Instrument vorhanden. Schließlich hat ein Beamter damit mindestens 20 Minuten verbracht, mit einem Besteckmesser von Iberia diese Fessel durchzuschneiden.
Was ist mit Ramos Vega in Madrid passiert?
Er wurde in das berüchtigte Gefängnis Carabanchel gebracht. Am Donnerstag wurde er dem Richter vorgeführt, der auch den Auslieferungsantrag veranlaßt hat. Er ist für das Verfahren zuständig. Mein Mandant wurde gefragt, ob er Aussagen machen will. Er hat ausgesagt, daß er weder Eta-Mitglied ist noch die Eta unterstützt hat. Er hat sich weiter zu den konkreten Vorwürfen nur in geringem Umfang geäußert.
Wie geht es ihm gesundheitlich?
Er wurde von einem spanischen Gerichtsarzt untersucht, der Hautabschürfungen an Hand und Schulter festgestellt hat, die offensichtlich von dem Transport stammen, insbesondere von dieser Fesselung. Der Arzt hat veranlaßt, daß Ramos Vega auf die Krankenstation des Gefängnisses verlegt wird.
Ist schon ein Prozeßtermin in Aussicht?
Nein, aber es kann sein, daß noch dieses Jahr verhandelt wird.
Gibt es in Spanien ein öffentliches Interesse an dem Fall?
Ja, der Fall hat eine wahnsinnig große Medienöffentlichkeit erfahren. Über die Auslieferung haben sämtliche Zeitungen berichtet und alle Nachrichtensendungen.
Hilft oder schadet das Ihrem Mandanten?
Das kann man schlecht einschätzen. Die Tendenz in der in Spanien veröffentlichten Meinung ist natürlich: Endlich ist er da, und endlich hat Deutschland akzeptiert, daß wir hier berechtigt sind, das Verfahren durchzuführen gegen Herrn Ramos Vega. Ich glaube, daß der größte Schutz für ihn ist, daß es eine internationale Öffentlichkeit gibt, und ich habe auch den Eindruck gewonnen, daß sich die spanischen Behörden jetzt bemühen, möglichst keine Fehler zu machen.
Die Auslieferung kam ja unerwartet plötzlich. Was ist mit dem Asylverfahren?
Das ist nicht abgeschlossen. Ganz im Gegenteil. Der Vorsitzende Richter hat ausdrücklich gesagt, daß die Informationen, die das Königreich Spanien gegeben hat, offensichtlich doch mit der Wirklichkeit nicht ganz übereinstimmen. Das ergebe sich aus dem Bericht des Europäischen Komitees gegen Folter, der leider erst im März 1996 veröffentlicht wurde, weil ihn die spanische Regierung bis dahin unter Verschluß gehalten hat. Aus dem ergibt sich, daß in der Guardia Civil systematisch gefoltert wird, daß die spanische Rechtslage eine Sache ist und die spanische Realität eine andere. Mit der Auslieferung sind im Asylverfahren natürlich vollendete Tatsachen geschaffen worden.
(Aus: junge Welt, 8./9. Juni)
"Ich wurde am Donnerstag, den 30. Mai, nach Hannover gebracht und bin hier in der 5. Station.
Jetzt könnte ich hier ein paar Briefmarken gebrauchen, ist hier unbegrenzt.
Beste Grüße an alle.
Ivan
War ein guter Kampf. Mercy!"
Seine neue Adresse: Schulenburger Landstr. 145, 30165 Hannover
Wie wir berichteten, war Ivan für seine Verlegung in den Regelvollzug 44 Tage in einem Wasser- und Brotstreik. Aber die einzigen Zugeständnisse waren "die Benutzung einer TV-Glotze 3mal die Woche ca. 3 Stunden zur Kinderzeit und 2mal die Woche Tischtennis mit einem Gefangenen im separaten Hof mit zwei Bewachern. Also kein Regelvollzug und keine Zwischenmenschlichkeit im täglichen Leben, das heißt weiter Hochsicherheitstrakt."
Deshalb war Ivan am 9.4. in den Hungerstreik getreten, und nach dem sich nichts bewegt hatte, ging er am 1.5. in den Durststreik. Er wurde ins Knastkrankenhaus verlegt und bekam dort Infusionen. Am 13.5. wurde er nach Straubing zurückverlegt und setzt dort seinen Durststreik fort.
Wir denken, daß Solidarität von einigen dazu beigetragen hat, daß sich Ivans Bedingungen verbessert haben:
So erhielt er trotz der Zensur Post, es wurden Offene Briefe an den Knastleiter der JVA Straubing und den bayerischen Justizminister Leeb verfaßt, es gab einen Radiobeitrag in Radio Z aus Nürnberg, ein Flugblatt zu Ivan wurde auf der Demonstration gegen den Abschiebeknast Büren verfaßt ...
(Red.)
Einleitung Radio Dreyeckland::
Das Angehörigen Info ist eine Zeitung, die von den Angehörigen und den Freundinnen und Freunden der politischen Gefangenen seit dem Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF und anderen Gruppen 1989 herausgegeben wird und mittlerweile einmal im Monat erscheint. Es ist eine der ganz wenigen Publikationen in der BRD, in der regelmäßig über die Situation der politischen Gefangenen in der BRD und über die Repression des Staates gegen den linksradikalen Widerstand berichtet wird. Dabei sollen mit der Dokumentation von Erklärungen, Redebeiträgen, Aufrufen etc. den staatlichen Lügen und Verdrehungen authentische Berichte von den Haftbedingungen, zu staatlichen Repressionsmaßnahmen und dem Widerstand dagegen entgegengesetzt werden.
Diese Zeitung ist in der Vergangenheit immer wieder von eben dieser staatlichen Repression heimgesucht worden. Im Verfahren gegen das Info Nr. 168 von Anfang Juni 1995 hat nun das Amtsgericht Hamburg die presserechtlich verantwortliche Redakteurin in erster Instanz von dem Vorwurf der Staatsverleumdung freigesprochen. Anlaß für dieses Verfahren waren u.a. Redebeiträge von Gisela Dutzi vor dem Knast in Frankfurt-Preungesheim und der Gruppe jarama! in Mainz, bei denen es um die Kontinuität staatlicher Verfolgung nach 1945 ging, die sich vor allem in dem Ziel der Zerschlagung jeglichen Widerstands zeigt. Gegen diesen Freispruch hatte die Staatsanwaltschaft sofort Berufung eingelegt. Das Urteil ist also noch nicht rechtskräftig.
Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat auf Veranlassung der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe Ermittlungsverfahren gegen drei weitere Ausgaben des Angehörigen Infos eingeleitet. Über diese Verfahren und die politische Einschätzung des Vorgehens der politischen Justiz gegen das Angehörigen Info sprachen wir mit Christiane Schneider. Sie ist langjährige Mitarbeiterin des Angehörigen Infos und als presserechtlich Verantwortliche in den Verfahren Angeklagte bzw. Beschuldigte.
Auf die Frage, wie sie den Ausgang des Verfahrens einschätzt, sagte sie:
"Das war ein sehr wichtiges Urteil, es ist aber noch nicht rechtskräftig. Der Staatsanwalt, der 90 Tagessätze zu 70 DM gefordert hatte, was eine relativ hohe Forderung gewesen ist, hat Berufung eingelegt. Trotzdem betrachte ich das erst mal als einen sehr wichtigen Erfolg. Die Richterin hat im wesentlichen zwei Gründe angeführt, warum sie uns freispricht. Sie war übrigens keineswegs links, sie war sogar der Überzeugung, daß teilweise die Bundesrepublik Deutschland auch wirklich beleidigt wird. Sie hat aber ein wichtiges Argument angeführt, daß nämlich nicht die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland angegriffen wird, sondern die Verfassungswirklichkeit, und daß das deshalb nicht den Straftatbestand nach 90a erfüllt. Und das zweite Argument, das ich sehr zweischneidig finde, ist, daß eine Zeitschrift wie das Angehörigen Info die Bundesrepublik Deutschland gar nicht beleidigen könne. Das waren erst mal ihre Gründe, aber daß ich freigesprochen wurde, ist wichtig, weil das Verfahren wie alle anderen bisher von der Bundesanwaltschaft eingeleitet worden ist, die ein großes Interesse hat, daß das Info bestraft wird.
Neben diesem Verfahren laufen ja noch 3 andere Ermittlungsverfahren gegen das Angehörigen Info. Was wird euch da vorgeworfen?
Das sind alles Verfahren nach 90a, also das sind jetzt, glaub ich, die Verfahren Nr. 18, 19, 20 und 21 gegen das Angehörigen Info. Diese vier Verfahren, die jetzt gleichzeitig laufen, erheben alle den Vorwurf der Staatsverleumdung, also der Beschimpfung der Bundesrepublik Deutschland. Jetzt muß man sagen, daß dieser Beschimpfungsparagraph, dieser Staatsverleumdungsparagraph ein unsäglicher Paragraph ist, aber selbst dieser Paragraph wird hier überstrapaziert, so weit ausgedehnt, wie es nicht mal dieser Paragraph ertragen kann. Die Vorwürfe sind unterschiedlich. In zwei dieser Verfahren werden wir wegen Bad Kleinen verfolgt; dort hat die Bundesanwaltschaft das Verfahren eingeleitet, weil davon gesprochen wird, daß Wolfgang Grams in Bad Kleinen ermordet worden sei. Im dritten Verfahren geht es um insgesamt fünf Sätze im Angehörigen Info. Ein Satz z.B. aus einer darin dokumentierten Rede, die auf einer Kundgebung vor der Außenstelle des Bundesjustizministeriums in Berlin gehalten wurde, lautet: "In Ihre Verantwortung fällt dabei auch, daß sie gezielt die Krankheit von Gefangenen zu ihrer beabsichtigten Zerstörung einsetzen." Daran sieht man, daß es eigentlich eine solch lächerliche Sache ist, daß hier der 90a bemüht wird, daß man sich schon fragen muß, was eigentlich dahintersteckt.
Du sagtest, das sei mittlerweile das 21. Verfahren gegen das Angehörigen Info. Wie schätzt du die Funktion des Paragraphen 90a in diesem Zusammenhang ein?
Der 90 hat eine ziemlich unangenehme Geschichte, er ist ja auch im Faschismus verwendet worden, um politische Gegner mundtot zu machen - und vielleicht nicht nur mundtot. Er wird jetzt gerade gegen das Angehörigen Info sehr häufig angewandt. Wir sind bisher in allen bis auf zwei Verfahren freigesprochen worden, oder die Verfahren sind eingestellt worden, trotzdem fällt ja diese Häufung der Verfahren im Moment auf. Vier gleichzeitig hatten wir noch nie, und ich glaube schon, daß die Bundesanwaltschaft, die dahintersteckt, im Moment versucht, die Rechtsprechung zu verschieben, den 90a, der seit den 60er Jahren keine sehr große Rolle in der Bundesrepublik Deutschland mehr gespielt hat, wieder zu einem scharfen Instrument zu machen, um den Spielraum für Kritik insgesamt einzuengen.
Ich kann das an den Verfahren verdeutlichen. Es herrscht in der Öffentlichkeit im Moment der Eindruck vor, daß jetzt nach und nach alle Gefangenen aus der RAF alle rauskommen. Das ist aber überhaupt nicht der Fall, und es wird um jeden einzelnen Gefangenen gekämpft werden müssen, damit er rauskommt. Das Angehörigen Info leistet dabei eine sehr wichtige Funktion, nämlich daß es diese Haftbedingungen, diese Verfolgungswut, diese Rachsucht bei der Justiz gegenüber diesen Gefangenen kritisiert, und die Bundesanwaltschaft strebt danach, diese Kritik zum Schweigen zu bringen. Deshalb die Häufung, denn es ist völlig klar: Wird man jetzt viermal verurteilt, wird es das Angehörigen Info schwer haben.
Ich glaube aber, daß es nicht nur um das Angehörigen Info und um die Kritik in dieser Sache, also in der Frage der Behandlung der politischen Gefangenen durch Justiz und Politik geht, sondern daß es allgemein darum geht, den 90, diesen Staatsverleumdungs-, diesen Majestätsbeleidigungsparagraphen wieder zu stärken. Denn wenn man daran denkt, wie die außenpolitische Lage ist, wie die Bundesrepublik Deutschland an dem Krieg gegen die Kurden beteiligt ist, wie sie in der Nato-Osterweiterung tätig ist, wie sie in Jugoslawien mitmischt, wie sie z.B. diesen Streit mit dem Nachbarstaat Tschechische Republik vom Zaun gebrochen hat - da kann man sagen, daß sich hier ein neues düsteres Kapitel von Außenpolitik entwickelt, da brauchen die Herrschenden einen Paragraphen, mit dem sie Kritiker verfolgen können. Ich glaube, das steckt dahinter, und ich glaube, das geht viele Leute an.
Kommentar Radio Dreyeckland
Der 90a wurde und wird vor allem angewendet im Zusammenhang mit den bis heute nicht geklärten Ereignissen um den Tod von Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und einigen anderen politischen Gefangenen und zuletzt der Festnahmeaktion in Bad Kleinen, bei der Wolfgang Grams erschossen wurde. In all diesen Fällen wird das Darstellen dieser Vorfälle als staatlicher Mord mit Kriminalisierung bedroht. An der Kriminalisierung des Angehörigen Infos wird die Strategie der politischen Justiz offensichtlich. Bei diesem Prozeß wie auch bei den Ermittlungsverfahren wurde und wird eine Redakteurin wegen des Abdrucks von Redebeiträgen und Erklärungen verfolgt, die sonst in keinen Medien auftauchen. Die staatliche Verfolgung und Kriminalisierung von linksradikalen Publikationen, die z.B. auch an den Verhaftungen und Razzien im Zusammenhang mit der Untergrundzeitung radikal deutlich wurde, soll damit vor allem einem Ziel dienen: Diese Zeitungen sollen durch die Kriminalisierung zerschlagen werden, so daß die politischen Inhalte, die sonst in den bürgerlichen Medien unterdrückt, verschwiegen oder verfälscht werden, nirgendwo mehr auftauchen. Darüber hinaus soll die Funktion dieser Zeitungen als Diskussionsforum für linksradikale Politik angegriffen werden. Diese wichtigen Funktionen, die linksradikale Zeitungen für die Weiterentwicklung und Verbreitung politischer Inhalte haben, unterstreichen die Notwendigkeit, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren.
Hanna ist draußen - endlich -, und wir sind unbeschreiblich froh darüber, zusammen mit vielen, die immer wieder was in Bewegung gebracht haben, um Hannas Freilassung gegen die tausend Verzögerungen und Blockierungen zu erreichen.
Unser ganzer Wille und unsere Kraft geht dahin, die Freiheit von allen Gefangenen aus der RAF zu erreichen. Was anderes gibt es nicht.
Und es gibt viel für uns zu tun, um die Gefangenen ganz unmittelbar zu unterstützen, in dem, was sie brauchen und was ganz direkt notwendig ist:
von medizinischen Notwendigkeiten, von Anwaltskosten, Zeitungen, Büchern, Paketen (die bei einigen 3x im Jahr mit Nahrungsmitteln möglich sind), die vielen Reisen quer durch die BRD in die Gefängnisse, wo die Gefangenen sind.
Wir könnten noch eine ganze Latte aufzählen. Die unmittelbaren Angehörigen, die das tragen, sind weniger geworden.
Wir bitten deshalb die Leser des Angehörigen Infos und alle, die sich mit den Gefangenen auseinandersetzen wollen und mit ihrer Situation, einen Euch möglichen Betrag aufs Angehörigen-Konto zu spenden. Es ist im Moment dringend!
Angehörigen-Konto: Sonderkonto Kiener, Landesgirokasse Stuttgart, BLZ 600 501 01, Kto-Nr. 5454194
Am 8. Juli 1996 veranstaltet der Infoladen Osnabrück in der Lagerhalle Osnabrück um 20.00 Uhr mit einem/r der Angeklagten eine Info- und Diskussionsveranstaltung unter dem Titel:
"Der Kriminalisierung des antifaschistischen Widerstandes entgegentreten! Zum Prozeß gegen 17 AntifaschistInnen der Autonomen Antifa (M) aus Göttingen"
Auf das Büro der Wiesbadener Rechtsanwälte Groß und Kutsch wurde mit Hilfe des Bundeskriminalamtes ein großangelegter Lauschangriff durchgeführt.
Aufgrund eines Hinweises erhielt das betroffene Rechtsanwaltsbüro bereits am 6. November 1995 Kenntnis davon, daß in einem dem Anwaltsbüro gegenübergelegenen Anwesen ein voll automatisierter Horch- und Observationsposten bestehend aus Richtmikrophonen, Videokamera, Fotoapparat etc. durch Ermittlungsbehörden installiert worden war. Zum damaligen Zeitpunkt existierte der Lauschposten bereits seit mindestens 15 Monaten. Dies stützt sich auf Angaben des Pächters, der bei seinem Einzug im Sommer 1994 den Posten bereits vorfand.
Die Tatsache, daß der Horch- und Observationsposten sofort abgeräumt wurde, nachdem telefonisch die Presse (der Hessische Rundfunk) über den Vorgang informiert worden war, weist darauf hin, daß zusätzlich eine direkte Telefonüberwachung stattfand.
Recherchen in den darauffolgenden Monaten ergaben, daß das Kennzeichen des Fahrzeugs, mit dem die in Zivil gekleideten Herren die Abhör- und Observationseinrichtung überstürzt abtransportierten, bei der zuständigen Zulassungsstelle für das BKA reserviert ist, daß jedoch für den Tag des Abtransportes für das Kennzeichen kein Ausgabevermerk eingetragen war.
Bei weiteren Nachforschungen in der Sache wurde den Unterzeichnenden zugetragen, daß auf Antrag der Bundesanwaltschaft der Ermittlungsrichter des BGH zunächst einen Beschluß nach 100a StPO (Überwachung des Fernmeldeverkehrs) erlassen hatte, dem dann ein Beschluß nach 100c StPO (Einsatz technischer Mittel) nachgeschoben wurde.
Der hier praktizierte Lauschangriff wäre durch diese richterlichen Beschlüsse allerdings keinesfalls rechtlich abgedeckt. Vielmehr ist aufgrund der festgestellten Umstände davon auszugehen, daß es sich vorliegend um eine rechtlich unzulässige Maßnahme der Ermittlungsbehörden handelt.
Da die strafprozessual vorgeschriebene Benachrichtigung der Betroffenen ( 101 StPO) von einer solchen Maßnahme bisher nicht erfolgt ist, muß davon ausgegangen werden, daß der Lauschangriff in modifizierter Weise bis heute fortgesetzt wird.
Es steht zu vermuten, daß der Hintergrund dieses Vorgehens in einem engen Zusammenhang damit steht, daß das betroffene Anwaltsbüro die Eltern von Wolfgang Grams als Nebenkläger in dem Ermittlungsverfahren gegen unbekannte GSG-9-Beamte wegen des Verdachtes des Mordes an Wolfgang Grams vertritt. Mit Hilfe des Lauschangriffs konnten sich die an dem Einsatz in Bad Kleinen unmittelbar verantwortlich beteiligten Dienststellen (BKA und BAW) laufend über den aktuellen Erkenntnisstand der Nebenkläger und deren Aktivitäten bezüglich der Aufklärung des tatsächlichen Geschehens informieren. Die in den Ermittlungsakten zu Bad Kleinen dokumentierte Spuren- und Beweismittelvernichtung durch Experten des BKA konnte somit auf bisher nicht geahnte Weise auch auf Ermittlungsansätze der Nebenklageberechtigten ausgedehnt werden.
Vor wenigen Tagen wurde das Sekretariat des betroffenen Anwaltsbüros durch BKA und Bundesanwaltschaft aufgrund eines Ermittlungsverfahrens gegen eine Mitarbeiterin durchsucht. Eine Verbindung zwischen dem Ermittlungsverfahren und dem Lauschangriff wurde bisher von seiten der Behörden nicht hergestellt. Sollte dies geschehen, ist schon heute festzustellen, daß ein solches Verfahren keine Rechtfertigung für die Durchführung des großangelegten Lauschangriffs auf ein Anwaltsbüro darstellt. Im Rahmen der Berufsausübung eines Rechtsanwaltes kommt der Vertraulichkeit des Wortes eine außerordentliche Bedeutung zu. Die Gespräche mit den Mandanten, insbesondere zwischen Strafverteidiger und Mandant, genießen einen besonderen, grundgesetzlich verankerten Vertrauensschutz. Der begründete Verdacht, daß gerade das Abhören solcher Gespräche Gegenstand des Lauschangriffs war, macht das Ausmaß der Grundrechtsverletzung besonders deutlich.
Es ist bezeichnend, daß, während der "Große Lauschangriff" im Bundestag noch diskutiert wird, die Ermittlungsbehörden ungeachtet der gesetzlichen Grundlagen bereits das praktizieren, was erst den Gegenstand der Beratung der gesetzgebenden Organe bildet.
Der eklatante Rechtsbruch durch die beteiligten "Sicherheitsorgane" ist offenkundig.
Wiesbaden, 29.5.1996
Andreas Groß für RAe Groß und Kutsch
Am Dienstag, den 14. Mai 1996 von ca. 6.30 -15.00 Uhr wurde in Wiesbaden eine Wohngemeinschaft und das Sekretariat einer Anwaltskanzlei auf Anordnung des Ermittlungsrichters beim BGH durchsucht. Bei der Durchsuchung waren Vertreter der BAW, unzählige Beamte des BKA Meckenheim, LKA-Beamte und div. Grüne anwesend. Grundlage für den Durchsuchungsbefehl ist ein Ermittlungsverfahren von Anfang 1994 wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" gegen eine der Bewohnerinnen. Auch die Durchsuchung des Sekretariats in der Anwaltskanzlei basierte auf diesem Verfahren, konkret ging es darum, daß sie dort arbeitet.
Die Begründung für die angebliche Mitgliedschaft war mehr als dünn: die betreffende Person wird verdächtigt aufgrund von Unterlagen, die bei Birgit Hogefeld in Bad Kleinen gefunden wurden, Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Sie sei eine dieser in der Legalität lebenden sog. "Nahtstellenpersonen" und habe sich in dieser Funktion für die RAF mitgliedschaftlich betätigt (was auch immer das heißen soll).
Durchsucht wurde das gesamte Haus, d. h. auch alle Räume der anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft, wobei z. T. auch persönliche Gegenstände wie z. B. Briefe und Postkarten etc. bei den anderen Mitbewohnern beschlagnahmt wurden. Insgesamt wurden diverse aktuelle Flugblätter, Broschüren, Briefe von Gefangenen, sämtliche Infomaterialien zu dem Spitzel Steinmetz, Infos zu aktuellen Verfahren, diverse Video-Kassetten und Computer-Disketten, Adressen und Telefonnummern etc. beschlagnahmt. Dann sind sie mit verschiedenen Textilfasern die vorhandenen Kleidungsstücke durchgegangen und haben Sachen nach Farbkriterien beschlagnahmt.
Während der Durchsuchung war das Gebäude von Polizeibeamten umstellt und der Zugang mit rot-weißem Band gesichert. Beteiligt an der Durchsuchung des Hauses waren ca. 50 Beamte und Beamtinnen der verschiedenen Verfolgungsorgane. Zum Abschluß wurde die Frau, gegen die das Verfahren läuft, noch mit ins Polizeipräsidium genommen, wo ein erfolgloser Verhörversuch stattfand und nach einigem Hin und Her auf eine erneute ED-Behandlung dann doch verzichtet wurde (die letzte hatte 1994 stattgefunden). Sämtliche Bewohner der WG waren auch im Februar diesen Jahres als Zeugen im Verfahren gegen Unbekannt wegen Mitgliedschaft in der RAF und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion (konkret ging es um Weiterstadt) vom BKA vorgeladen worden.
Presseerklärung
Betrifft: Ermittlungsverfahren gegen Michael Steinau wegen Verdachts der Mitgliedschaft in der AIZ
Mein Mandant befand sich vom 19.4. bis 26.4.1996 und befindet sich erneut seit 3.5. bis 10.5.1996 im Hungerstreik. Er protestiert gegen die isolierenden Haftbedingungen, denen er unterworfen ist.
Michael Steinau befindet sich seit dem 26.2.1996 in Untersuchungshaft, z.Zt. in der JVA Lübeck.
Ihm wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Mordversuch im Zusammenhang mit einem Anschlag auf das peruanische Honorarkonsulat in Düsseldorf am 23.12.1995 vorgeworfen, der Haftbefehl wird auf Flucht- und Verdunklungsgefahr gestützt.
Die Haftbedingungen sind als "besondere Sicherungsmaßnahmen" durch Haftstatut des Ermittlungsrichters am BGH geregelt. Mein Mandant ist in einem besonders gesicherten Haftraum unterzubringen, jeder Kontakt mit anderen Gefangenen auch bei den üblichen Gemeinschaftsveranstaltungen wird ausgeschlossen. Er hat nur Einzelhofgang. Besuche finden mit Trennscheibe statt, eine Ausnahme wird lediglich bei den Eltern gemacht.
Dies bedeutet eine fast vollständige Isolation von der Außenwelt.
Diese wird allenfalls durch die weiteren Ermittlungen der Bundesanwaltschaft durchbrochen.
So wurden bereits im März 1996 von BKA-Beamten in Zusammenarbeit mit einem Polizeiarzt dem Mandanten Haare nicht nur abgeschnitten, sondern auch gegen seinen Willen ausgerissen. Am 30.4.1996 wurde der Mandant zu einer Gegenüberstellung verbracht, bei der er die körperliche Mitwirkung verweigerte und die unter den gegebenen Umständen jeden kriminalistischen Sinn entbehrt. Er war mit Handschellen gefesselt, von zwei BKA-Beamten wurde der Oberkörper aufrecht gehalten und der Kopf an den Haaren nach hinten gezogen. Die Handschellen drückten derart auf die Finger, daß im Daumen heute noch ein Taubheitsgefühl besteht, der Mandant hatte mehrere Tage lang Nackensteife und Schmerzen in der Kopfhaut.
Hamburg, 9.5.1996, Rechtsanwältin Ehrhardt
Liebe Genossinnen und Genossen,
Wir möchten einen solidarischen Gruß an die Abschlußversammlung der Mobilisierung gegen das neoliberale Europa schikken, die mit den Initiativen in Torino im März begonnen hat und heute mit dem italienischen Semester abschließt. Für uns, revolutionäre Gefangene, ist das eine Möglichkeit, um anwesend zu sein und uns an einem Kampf zu beteiligen, der immer mehr Proletariern in Europa und auf der internationalen Ebene gemeinsam ist.
Der kontinentale imperialistische Integrationsprozeß, der unter dem Namen Europäische Union läuft, zeigt sich immer mehr als ein Prozeß, der jeden Proletarier in Europa materiell betrifft und der die politischen Entscheidungen der einzelnen Staaten und die Angriffe gegen die Lebensbedingungen und die Kampfbedingungen der proletarischen Klassen bestimmt, die nicht länger durch die sogenannten "nationalen Interessen" vermittelt werden.
Die Europäische Union stellt sich als eine KONFLIKTBEZIEHUNG dar, die nach innen und nach außen verflochten ist, als der Versuch einer Antwort auf die weltweite Krise der kapitalistischen Produktionsweise, der sich in der Politik des wilden Neoliberalismus verwirklicht, im Kontext der Globalisierung der Produktion und der Märkte ( nach innen in der Gesamtheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik um in Übereinstimmung mit den vom Maastrichter Vertrag vorgezeichneten Kriterien zu gelangen; nach außen in der Außen- und Sicherheitspolitik, die Schritt für Schritt Europa neudefiniert als harten imperialistischen Kern, auch unter dem Aspekt der diplomatischen und militärischen Projektion.
Zu diesem Abschlußzeitpunkt sind richtigerweise einige "starke" Diskussionsthemen festgestellt worden: internationale Krise und die Entwicklung in "Polen" ( USA, Europa, Japan); Entwicklung des Widerspruchs Kapital/Arbeit im europäischen imperialistischen Pol ( die europäischen proletarischen Kämpfe gegen das Maastricht-Europa), Europäische Union und Repression der Kämpfe (vom "europäischen Rechtsbereich" bis zum Schengener Abkommen ...). In diesem "Gruß" wird eine größere Aufmerksamkeit auf den "dritten Punkt" gelegt werden.
Die Europäische Union also als eine KONFLIKTBEZIEHUNG,
die nach innen und außen verflochten ist, auf verschiedene Art
und Weise, aber von derselben Qualität gekennzeichnet. D.h., auf
der einen Seite als konterrevolutionäre Strategien repressiver
und präventiver Art; auf der anderen als scharfe Konkurrenz, als
militärische Projektion und imperialistische
Herrschaftsprojektion gegen die Länder des Trikont und gegen den
Osten. Ein Teil des "Dritten Weltkrieges" von dem uns aus Chiapas der
Subcomandante Marcos im Namen der
EZLN spricht - mit einer nur scheinbaren Übertreibung.
Wir möchten von präventiver Konterrevolution sprechen ( eine Gesamtdefinition für ALLE Aspekte, in denen sich die Handlungen der Staaten gegen die Klassengegensätze artikulieren) als immanente Notwendigkeit des Kapitals und als Qualität eines Angriffs der nicht nur die rein repressiven Aspekte der Kämpfe berührt, sondern auch und vor allem die Gesamtheit der Strategien, die an der Klassenspaltung arbeiten, an der Entsolidarisierung, am Versuch der Enteignung sogar der Fähigkeit und Phantasie, soziale Veränderung sich vorzustellen.
Im Prozeß der europäischen Union, der von einigen Lichtflecken ausgeht und dessen Etappen immer enger werden, haben wir auch eine entsprechende Veränderung der nationalstaatlichen Form beobachten können, ihrer Funktionen, ihres Verhältnisses mit der Vermittlung/Durchführung des Klassenwiderspruchs. Dem schrittweisen Funktionsverlust der nationalstaatlichen Form gegenüber der Internationalisierung der Kapitale und der Monopolisierung/Globalisierung von Produktionen und Märkten, entsprach ein Anstieg der Rolle des Staates im Bereich der Sicherheitspolitik, der öffentlichen Ordnung, der Prävention innerhalb des "europäischen Rechtsbereiches" und in seiner Projektion auf Drittstaaten. Ein Prozeß, der vor langem begonnen hat: die TREVI-Gruppe, Europol und schließlich die Institutionalisierung des Rassismus mit Schengen und seinem Anhang an Ausschluß- und Repressionsmaßnahmen. Dort wo die Entscheidungsprozesse in Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik in eine supranationale Sphäre übertragen werden, verstärkt das Aufeinanderabstimmen der Sicherheitspolitik die Handlungskraft der einzelnen Staaten in einem gemeinsamen Panorama.
Dieses hat seine Krönung im Schengener Abkommen gefunden, das Normen und Kriterien setzt, wie sich die Staaten informieren müssen, und in den konkreten Taten dieser letzteren zur Modifizierung der legislativen Normen und der Vollstreckungsinstrumente, und mit dem Ziel, in den europäischen Rahmen wieder einzutreten. Es ist die Leitlinie de Schengener Abkommens, die die nationalen Gesetze zur Einwanderung, zum Asylrecht, zur Kontrolle der Grenzen neu definiert; wie auch die Neuorganisierung der Repressionsapparate und die Koordinierung der Polizeiapparate, das Anti-Terrorgesetz in Frankreich , oder in Deutschland die Aktion gegen die Kurden und die PKK. Oder die Sondergesetzgebung in Italien, die ausgehend von der Antimafia ihren Schatten überallhin ausstreckt (und bis zur Einbeziehung der Armee als fast völlig stabile und auf dem ganzen Territorium ausgebreitete "Polizeikraft" reicht) oder, weiterhin, das schändliche Anti-Einwanderungsdekret, das von der Regierung Dini, PDS und Lega gemeinsam ausgebrütet wurde.
Die breite legislative Neubearbeitung, die von der Gesamtheit der westlichen europäischen Länder unternommen wurde, betrifft eine Neudefinition und Uniformierung der Gesetze für die politische und soziale Repression. Sie zielt darauf, eine Stabilisierung im Bereich der inneren Kontrolle zu erreichen, sowohl auf der politischen Ebene wie auf der Ebene der Massen, und, zusammengenommen, eine Verstärkung seiner imperialistischen Position, "indem sie für ein US-amerikanisches Modell optiert, d.h. nationale Gesetzgebungen, die untereinander kompatibel sind und angepaßt sind an die verschiedenen Ausgangsbedingungen auf jedem Territorium, eine Kompatibilität, die von einer obersten gemeinschaftlichen Gerichtsbarkeit regiert und harmonisiert wird " (aus der Zeitschrift Front).
Wieder einmal spielen die Vereinigten Staaten das "Modell" und den Wegbereiter im Kontext des hierarchisierten Integrationsprozesses der stärksten kapitalistischen Länder und der ihnen untergeordneten Gebiete, von der für jeden Staat eine konterrevolutionäre Politik entstammt, die die "nationale Übersetzung" einer generellen Tendenz ist.
Der Spieleinsatz ist immer derselbe: Dafür sorgen, daß jeder gesellschaftlicher Aufruhr, jeder antagonistische Schub, jede Störung des "kapitalistischen Status quo dieser Epoche vorgebeugt wird, kontrolliert, umgewandelt, und durch die gesellschaftliche Kooptation kompatibel gemacht wird.
Oder einfach aus der Tür geworfen, wie es mit den Einwanderern und den Flüchtlingen aus dem Trikont oder dem Osten passiert, oder durch die sozialen Ausgrenzungsschichtungen innerhalb der "Festung" Europa: Arbeitslose, Menschen mit befristeten Arbeitsverhältnissen, Menschen ohne Absicherungen. Zusammengefaßt, auf jede erdenkliche Art und Weise und mit allen Mitteln verhindern, daß sich aus den Klassenwidersprüchen eine revolutionäre Klassenpolitik entwickelt. Dies ist eine Priorität, die die imperialistischen bürgerlichen Kreise seit der Nachkriegszeit quält, und die durch den sozialen und revolutionären Zusammenstoß vertieft wurde, der in den Anfängen der 60er Jahre in vielen europäischen Ländern begann, und die jetzt noch viel akuter geworden ist, angesichts der immer zerstörerischeren Politik, die das imperialistische und zentraleuropäische Bürgertum versucht, den europäischen Proletariern und den Völkern des Südens der Erde aufzuzwingen.
Diese Verbindung zu begreifen ist lebensnotwendig, gegen diese Politik zu kämpfen ist notwendig als ein Teil der proletarischen Kämpfe, um Organisation-Kommunikation-Kampf zu schaffen, um aus der Perspektivlosigkeit zu treten und aus der Isolierung, in die das Bürgertum jeden Proletarier absondern möchte: hier in Europa und auf internationaler Ebene. Proletarischer Internationalismus hat heute diese Bedeutung von GEMEINSAMEN KAMPF GEGEN EINEN GEMEINSAMEN FEIND, eine internationalistische Einheit, die es aufzubauen gilt als Voraussetzung für den revolutionären Prozeß dieser Epoche.
Internationale Einheit im anti-kapitalistischen und anti-imperialistischen Kampf !
Gemeinsam werden wir siegen !
Latina 18. Mai 1996, Caterina Spano vom Kommunistischen Gefangenenkollektiv "Wotta Sitta"
Chile
Am 12. Mai haben die chilenischen Gefangenen ihren Hungerstreik erfolgreich beendet. Der Präsident der Abgeordnetenkammer konnte die Gefangenen besuchen und einen Bericht an die Regierung verfassen.
Dank auch des internationalen Drucks konnten die Inhaftierten ihre Forderungen durchsetzen, und es ist ihnen u.a. gestattet, Geld zu erhalten und BesucherInnen zu empfangen.
Den Gefangenen selbst geht es gesundheitlich nicht gut. Sie haben teilweise bis 43 kg an Gewicht verloren.
(Red.)
Der folgende Brief wurde am 7. April an den US-Präsidenten Bill Clinton geschickt:
"Herr Präsident,
am 25. Juni 1875 wurden zwei FBI-Agenten in Pine Ridge, South Dakota, umgebracht, ohne daß die Täter identifiziert wurden.
In einem ungerechten und manipulierten Verfahren wurde Leonard Peltier, ein Mitglied der Chippewa-Sioux Nation, verurteilt.
Diese Verurteilung ist Teil einer permanenten und systematischen Kampagne gegen indigene Männer und Frauen von Nordamerika, die für Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit kämpfen.
Wir wissen, daß diese Kampagne von der Regierung, deren Präsident Sie sind, durchgeführt wird.
Heute fordern die TeilnehmerInnen dieses amerikanischen Treffens - für Menschlichkeit und gegen Neo-Liberalismus -, die aus allen Gegenden Amerikas kommen,
- die sofortige und bedingungslose Freilassung von Leonard Peltier, einem Repräsentanten des indigenen Widerstands von Nordamerika
- und absolute Anerkennung der Menschenrechte der indigenen Völker dieses Kontinents.
Hochachtungsvoll
Subcommandate Marcos und mehr als 200 andere Unterschriften
Im Februar dieses Jahres legte Mumias Anwaltsteam gegen diese Entscheidung (von Richter Sabo, es werde keine Wiederaufnahme des Verfahrens geben - Red.) vor dem Obersten Gerichtshof von Pennsylvania, dem Pennsylvania Supreme Court, Berufung ein. Bis Ende Mai muß die Gegenseite, also die Staatsanwaltschaft, auf diesen Berufungsantrag geantwortet haben. Danach liegt es im Ermessen des Gerichts, wie und wann über den Antrag entschieden wird. Es ist z.B. völlig unklar, ob es eine mündliche Anhörung beider Seiten geben wird oder ob das Gericht nach Aktenlage entscheiden wird. Das Gericht geht von Mitte Juli bis Mitte September in die Sommerpause, so daß allgemein angenommen wird, daß eine eventuelle Anhörung und Entscheidung erst im Herbst oder Winter 1996 erfolgen wird. Die Zusammensetzung des Pennsylvania Supreme Court ist allerdings alles andere als vielversprechend. Die sieben Richter werden - wie PolitikerInnen auch - von den WählerInnen in Pennsylvania für eine Amtszeit von sieben Jahren gewählt. D.h. es finden politische Wahlkämpfe um die Richterämter statt. Es wird davon ausgegangen, daß alle Richter Wahlkampfspenden von der Fraternal Order of Police (FOP), der größten Polizeigewerkschaft, und kleineren Polizeivereinen erhalten haben. Bei zumindest einem neuen Richter, der Anfang 1996 ins Amt kam, konnte nachgewiesen werden, daß er Wahlkampfspenden von der Pennsylvania State Trooper Association angenommen hat. Der einzige afroamerikanische Richter im Supreme Court und derzeitige Vorsitzende Richter, der sich öffentlich für ein neues Verfahren für Mumia ausgesprochen hatte, wird zum Sommer vorzeitig in den Ruhestand gehen. Len Weinglass, Anwalt von Mumia, beschreibt die Entscheidungskriterien der Richter im Pennsylvania Supreme Court folgendermaßen: "Eine Entscheidung für Mumia wird als eine Entscheidung gegen die Polizei angesehen. Das können und wollen die Richter nicht riskieren."
Für den wahrscheinlichen Fall einer negativen Entscheidung durch das Pennsylvania Supreme Court hat Gouverneur Ridge schon angekündigt, daß er einen neuen Hinrichtungsbefehl für Mumia unterschreiben wird. Dagegen muß dann von Mumias Anwälten bei einem Bundesgericht wieder eine Aussetzung des Hinrichtungsbefehls beantragt werden. Gouverneur Ridge, der im Vietnamkrieg Scharfschütze in einer Sondereinheit war und anschließend als Staatsanwalt Karriere gemacht hat, hatte kurz nach seinem Amtsantritt 1995 ein Gesetz durchgedrückt, wonach ein Gouverneur nach der Ablehnung des Berufungsantrages eines Todesstrafengefangenen durch das Pennsylvania Supreme Court innerhalb von 90 Tagen den Hinrichtungsbefehl für den jeweiligen Gefangenen unterschreiben muß. Der Zweck dieser gesetzlichen Bestimmung ist es, den Zeitraum zwischen den einzelnen Berufungsschritten zu verkürzen bzw. Darauf zu setzen, daß viele Todesstrafengefangene kein Geld für Anwälte haben, die die Fälle bis in die höchsten Instanzen betreuen. Darüber hinaus wurde 1995 in Pennsylvania ein Todesstrafengefangenen hingerichtet, obwohl ihm noch eine Berufungsinstanz offengestanden hätte ... Gouverneur Ridge wurde im Wahlkampf von der Fraternal Order of Police (FOP) unterstützt und hat die Hinrichtung von Mumia als eines seiner politischen Ziele deklariert.
Im Nachgang zum faschistischen Bombenanschlag von Oklahoma im April 1995 und als Wahlkampfbeitrag hatte Präsident Bill Clinton, dem ständig seine "Softness on Crime" (also ein lascher Umgang mit dem "Kriminalitätsproblem") vorgeworfen wird, ein neues Anti-Terrorismus-Gesetz im US-Abgeordnetenhaus und im US-Senat eingebracht. In der ursprünglichen Fassung dieses "Anti-Terrorism Act of 1995" war von der Todesstrafe nicht die Rede, auch wenn die neuen Polizeistaatsmaßnahmen schon drastisch genug waren. Die Pro-Todesstrafen-Lobby in beiden Häusern des US-Kongresses und in beiden Parteien hat dann aber schnell die Chance erkannt und bei den Verhandlungen über das Gesetz einen entscheidenden Zusatz durchgesetzt. Dieser Zusatz sieht vor, daß das sog. Habeas Corpus Recht von Todesstrafengefangenen wesentlich eingeschränkt bzw. De facto abgeschafft wird. Das Recht auf Habeas Corpus wurde bei der Gründung der USA in der US-Verfassung festgeschrieben und bedeutete ursprünglich ein Recht auf Haftprüfung durch einen Bundesrichter bzw. ein Bundesgericht. Mittlerweile bedeutet es das Recht auf eine Überprüfung des gesamten Falls und des Strafmaßes durch die Bundesrichter. Dabei prüfen die Bundesrichter, ob die verfassungsmäßig garantierten Rechte eines Todeskandidaten durch die Rechtsprechung der Gerichte auf Bundesstaatsebene verletzt worden sind. Ist dies der Fall, können die Bundesrichter das Urteil aufheben und ein neues Verfahren anordnen. 40% aller Todesurteile, die von Bundesstaatsrichtern bzw. -Gerichten verhängt werden, werden von Bundesrichtern wegen Verfahrensmängeln und Verletzung verfassungsmäßig garantierter Rechte wieder aufgehoben. Angesichts der Diskrepanz in der Rechtsprechung war der Pro-Todesstrafen-Lobby der Entscheidungsspielraum der Bundesrichter, die nicht gewählt, sondern auf Lebenszeit ernannt werden, schon lange ein Dorn im Auge. Durch den Gesetzeszusatz im neuen "Anti-Terrorismus-Gesetz" ist es ihnen gelungen, diesen Entscheidungsspielraum auf ein Minimum zu begrenzen. Bundesrichter können jetzt nur noch in Fällen, in denen eine "übermäßige" Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte des Gefangenen nachgewiesen werden kann, ein neues Verfahren und die Aufhebung der Strafe anordnen. Im Klartext heißt das: Eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte ist durchaus o.k., nur "übermäßig" darf sie nicht sein. Und eine Bestimmung von "übermäßig" findet wohlweislich nicht statt. Darüber hinaus sind die Richter jetzt an die Auslegung des Verfassungsrechts der jeweiligen Gerichte auf Bundesstaatsebene gebunden.
Len Weinglass geht davon aus, daß Mumia - und die meisten Todesstrafengefangenen - nach diesen neuen Kriterien keine Chance mehr auf ein neues Verfahren haben wird. Bis zur Verabschiedung des neuen "Anti-Terrorismus-Gesetzes", das Ende April 1996 von Clinton mit dem Zusatz zur Todesstrafe unterschrieben wurde, waren Mumia und seine AnwältInnen davon ausgegangen, daß die Chancen für ein neues Verfahren durch eine positive Entscheidung von einem Bundesgericht relativ gut waren. Die de facto Abschaffung des Rechts auf Habeas Corpus steht im engen Zusammenhang mit einer immer weitreichenderen Einschränkung der Gefangenenrechte allgemein. So ist es Gefangenen im US-Bundesstaat Kalifornien jetzt verboten worden, direkte Interviews mit der Presse zu führen. Erlaubt sind nur noch Telefoninterviews ... Darüber hinaus ist per Gesetz verboten worden, daß AnwältInnen aus staatlichgeförderten Rechtshilfebüros Gefangene in Verfahren gegen die jeweilige Gefängnisleitung vertreten.
Im Gegensatz zu den anderen staatliche angeordneten Verschlechterungen für die Situation gab es bei der De-facto-Abschaffung des Habeas-Corpus-Rechts einen Aufschrei der liberalen Presse. So fanden sich dann u.a. in der New York Times, der Washington Post, der Los Angeles Times und sogar in US Today scharfe Angriffe auf Clintons "Ausverkauf der verfassungsmäßig garantierten Rechte". Leider muß man/frau davon ausgehen, daß diese Zeitungen, deren redaktionelle Position ohnehin gegen die Todesstrafe ist, liberaler als ihre LeserInnen sind. Mittlerweile gibt es mehrere Klagen gegen die Gesetzesbestimmungen vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington, der dann endgültig über die Verfassungsmäßigkeit der De-facto-Abschaffung des Rechts auf Habeas Corpus entscheiden wird.
Angesichts der neuen Entwicklung auf der juristischen Ebene wird die Solibewegung und jegliche Form von politischem Druck auf Gouverneur Thomas Ridge noch wichtiger als vorher. In den USA selber wächst die Solibewegung - insbesondere an den Unis. Am 20. Mai zum Malcolm-X-Gedenktag (19. Mai) wurden in Washington beim Justizministerium ca. 30.000 Petitionen überreicht. Gefordert wird, daß US-Justizministerin Janet Reno eine Untersuchung über die Verletzung von Mumias Bürgerrechten und die andauernde Verfolgung durch den Polizeiapparat einleitet. Mumias UnterstützerInnen fordern die Einleitung einer solchen Untersuchung, die unabhängig vom juristischen Stand des Verfahrens stattfindet, u.a. aufgrund der seit 1969 andauernden FBI-Überwachung von Mumia und der Nichtherausgabe der Observationsakten bei der Polizeibehörde in Philadelphia. Die UnterstützterInnen bitten darum, den Druck auf Janet Reno durch internationale Brief- und Faxaktionen zu erhöhen!!!
In Frankreich gab es in den letzten Monaten noch einmal eine große Unterschriftensammelaktion der KPF. Nur in der BRD gibt es eine eher unerfreuliche Entwicklung. Im März hat der Freiburger freie Journalist Burkhard Müller-Ullrich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift "Die Solidarität" zum einen die Solibewegung für Mumia vollständig diskreditiert. Zum anderen kommt er, nachdem er sich ausschließlich auf die Tatversion der Staatsanwaltschaft stützt, an mehreren Punkten bewußt lügt und Mumias Version überhaupt nicht beachtet, zu folgendem messerscharfen Schluß: Mumia ist ein Polizistenmörder, der zu Recht verurteilt wurde und der mit Hilfe seiner Anwälte die gesamte internationale Presse und wohlmeinende Öffentlichkeit zum Narren gehalten hat. Man/Frau sollte dieses Musterbeispiel an Schmierenjournalismus und platter Abschreibe aus der US-Presse eigentlich nur noch zum Ofenanzünden verwenden, aber eine ganze Reihe JournalistInnen aus mehr oder weniger staatstragenden Medien nehmen Müller-Ullrichs Artikel für bare Münze und fragen sich inzwischen, ob sie im letzten Jahr nicht "viel zu positiv" über einen "Polizistenmörder" berichtet haben. Es wird daher demnächst ein ausführliches Interview mit Len Weinglass zu den einzelnen von Müller-Ullrich falsch dargestellten entscheidenden Punkten geben, das dann z.B. an MedienvertreterInnen, die bis jetzt positiv über Mumia berichtet haben, weitergegeben werden kann.
Daneben gibt es momentan noch die Wanderausstellung "Art against Death" - "Kunst gegen die Todesstrafe - Für das Leben von Mumia Abu-Jamal", die noch bis Mitte Juli in verschiedenen Städten in der BRD gezeigt wird.
Es sieht gerade alles andere als rosig aus, zumal es schon im Sommer oder Herbst einen neuen Hinrichtungsbefehl bzw. ein neues Hinrichtungsdatum geben kann. Uns fällt dazu erst einmal nur ein, daß Infotische bzw. Veranstaltungen nach wie vor wichtig sind. Mumia freut sich außerdem über Post und über Spenden für sein Prozeßkostenkonto. Konkret wäre eine Unterstützung der "Briefe an Janet Reno"-Kampagen gut. Deshalb folgt gleich noch ein kurzer Text, der Janet Reno und den UnterstützerInnen gefaxt werden sollte.
Attorney General Janet Reno
US Department of Justice
Washington, D.C. 20530
Tel. 001-202-514-2000
Fax 001-202-514-0487
Dear Attorney General Janet Reno,
I join with thousands of others, once again, to urge you tu conduct a comprehensive Civil Rights investigation to examine all the ways in which there has been and continues to be a conspiracy on the part of the State of Pennsylvania, from its executive to ist Judicial branches, to silence Mumia Abu-Jamal once and for all.
In light of this conspiracy, we request that all Philadelphia police files pertaining to Mumia Abu-Jamal, including those on police officer Danile Faulkner, be disclosed. A Justice Department Civil Rights investigation could make a significant contribution forward guaranteeing the new trial that Mumia Abu-Jamal must have.
Sincerely yours,
(Name und Adresse)
Bitte schickt eine Kopie des Faxes auch an die UnterstützerInnen. International:
Concerned Family & Friends of Mumia Abu-Jamal
P.O.Box 19709, Philadelphia, PA 19143, Tel. 001-215-476-8812, Fax 215-476-7551 oder im Internet: www.webcorn.com/nattyreb/mumia.html
(Die Autonome Mumia Soligruppe Berlin)
Wendland (bis 18.6.), Berlin (19. bis 28.6.), Marburg (29.6. bis 8.7.), Stuttgart, Schwäbisch Hall, Tübingen (9. bis 19.7.), Wiesbaden (20. bis 30.7.)
Türkei
Am 27. April wurde im Gefängnis von Diyarbakir der Hungerstreik begonnen; er hat sich inzwischen auf vierzig weitere Gefängnisse übertragen und hält zur Stunde noch an. Ziel der Hungerstreikenden ist es, gegen den Druck und die maßlosen Gewaltanwendungen des türkischen Staates gegenüber den politischen Gefangenen in den Gefängnissen zu protestieren. (Von den 50000 Gefangenen in der Türkei sind ca. 12000 politische Gefangene, darunter ca. 8000 - 9000 aus der PKK)
Die Unterdrückung und Folter in den Gefängnissen hat vor allem zugenommen, seitdem der ehemalige Polizeichef Mehmet Agar ins Justizministerium berufen wurde. Druck und Foltermethoden werden in vielfältiger Art und Weise angewandt: grundlose Deportationen in andere Gefängnisse, Abtransporte, Repressionen an den Besuchstagen (sowohl gegen die Gefangenen als auch gegen ihre Familienangehörigen), das Einsperren der politischen Gefangenen in Isolationszellen, Absonderung von anderen Gefangenen, Ausgrenzung, Angriffe in Verbindung mit den Soldaten/Polizisten und Spezialeinheiten mit Schlagstöcken, mit Druck und Zwang die Gefangenen zu Verrätern machen zu wollen und ähnliche Methoden sind an der Tagesordnung.
Auf die Forderungen der Hungerstreikenden antwortete der türkische Staat mit verschärften Angriffen von Militär, Spezial-Einheiten und Polizei auf die politischen Gefangenen.
Am 28. Mai wurden die sich inzwischen in einem kritischen Zustand befindenden hungerstreikenden Gefangenen von Gefängniswärtern und türkischen Soldaten im Gefängnis von Diyarbakir angegriffen. Bei diesem Überfall wurden unter Absingen chauvinistischer Gesänge Ketten, Eisenstangen, Holzlatten und andere diverse Schlagzeuge gegen die sehr geschwächten Hungerstreikenden eingesetzt. 19 Verletzte wurden trotz ihres Zustandes in andere Gefängnisse transportiert. Zwei der verletzten Gefangenen, Mehmet Durmus und Fesih Erkaplan, haben sich aus Protest gegen diese Angriffe selbst angezündet und sind schwer verletzt. Auch sie wurden in ein anderes Gefängnis abtransportiert.
Auch in anderen Gefängnisse, so in Malatya und Eskisehir, gab es Angriffe auf Gefangene, wobei viele verletzt wurden.
Eine große Zahl demokratisch gesinnter Menschen ebenso wie die Verwandten der politischen Gefangenen traten aus Solidarität auch in den Hungerstreik, vor allem in den Büros der HADEP, den Büros anderer Parteien und in den Räumen des Menschenrechtsvereins IHD. Jedoch behindern die türkischen Sicherheitskräfte auch die Solidaritätsaktionen dieser Menschen in vielfältiger Weise. Viele wurden bei Protestaktionen festgenommen, darunter RechtsanwältInnen und Gewerkschaftsvorsitzende. Die Parteizentrale der HADEP in Diyarbakir und die darin hungerstreikenden Verwandten der politischen Gefangenen werden mit allen erdenklichen Mitteln schikaniert; so wurde sie u.a. von türkischen Sicherheitskräften eingekesselt, Wasser und Strom wurden abgestellt, und die Besucher werden daran gehindert, das Gebäude zu betreten.
Am 3.6. wurde in Istanbul Fuat Tepe auf offener Straße von der Polizei angeschossen. Er verteilte gerade Flugblätter über den Hungerstreik. Nachdem sie ihn angeschossen hatten, verprügelten sie ihn noch und nahmen ihn fest.
Trotzdem entwickelt sich in der Türkei und in Kurdistan die Solidarität:
In Ankara haben sich mehr als 25 Gewerkschaften, Parteien und Menschenrechtsorganisationen in einer Plattform zusammengeschlossen. Sie erklären sich mit den politischen Gefangenen solidarisch und bereiten ein Aktionsprogramm vor. Seit dem 6. Juni führen sie einen Solidaritätshungerstreik durch.
In Istanbul diskutieren zahlreiche Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Parteien und die sozialistische Presse eine Plattform zur Unterstützung der Gefangenen. Gleichzeitig haben sie begonnen, ein Aktionsprogramm durchzuführen.
In Mersin haben sich viele Basisorganisationen mit den Gefangenen solidarisch erklärt und unterstützen ihre Forderungen.
Auch außerhalb der Türkei finden zahlreiche Solidaritätsaktionen statt. In Den Hag wurde eine Außenstelle der Habitat besetzt; in Genf ketteten sich elf Menschen in einem Gebäude der UNO an; über 100 besetzten eine Kirche in Paris ...
Seit dem 3. Juni befinden sich über 100 Kundinnen und Kurden im Bonner Stadtzentrum in einem Solidaritätshungerstreik. Solidaritätshungerstreiks finden auch in London, Brüssel, Stockholm statt.
(Der Bericht wurde zusammengestellt nach Informationen des Solidaritätskomitees mit den Hungerstreikenden, des Informationszentrums für freie Völker und des Kurdistanz Informationszentrums.)
Mit dem Beginn des kurdischen Befreiungskampfes füllten sich die Gefängnisse mit kurdischen Inhaftierten. So sind bis heute 80% der Gefangenen in der Türkei und Kurdistan Angehörige des kurdischen Volkes. In den Gefängnissen vor allem in Kurdistan werden die Rechte der türkischen Verfassung außer Kraft gesetzt. Die Gefangenen werden ständig systematischer Folter unterzogen.
Die rechtswidrigen Vorgehensweisen in den Gefängnissen nehmen seit der Ernennung des ehemaligen Polizeipräsidenten Mehmet Agar zum Justizminister tglich zu. Die Drohungen in den Erklärungen des neuen Justizministers, unter dessen Verantwortung viele Morde "unbekannter Täter" vollzogen wurden, haben zu großer Besorgnis sowohl in den Gefängnissen als auch außerhalb geführt. Seine Absicht, die über zehntausend politischen Gefangenen in Türkei/Kurdistan in Isolationshaft zu nehmen, führte zu großer Unruhe.
Die Gefangenen sind erneut ihres Lebens nicht sicher. Nach Erkenntnissen des Menschenrechtsvereins in Türkei/Kurdistan wurden in der Zeit von 1981 bis 1995 etwa 50 Gefangene hingerichtet. Nach offiziellen Angaben wurden in der Zeit zwischen 1993 und 1995 insgesamt 140 Gefangene ermordet. Im gleichen Zeitraum sind insgesamt 271 Fälle von "Verschwindenlassen" in Polizeigewahrsam registriert. Des weiteren wurden parallel hierzu insgesamt 372 Menschen von der Polizei auf offener Straße "außergerichtlich" hingerichtet.
Nach offizieller Definition zielt die Gefängnisstrafe auf die "Resozialisierung" des Gefangenen. Das ist blanker Hohn. Das Gefängnissystem zielt darauf ab, den politischen Gefangenen durch Isolation, Ausschließung von menschlichen Kontakten und durch die Anwendung psychischer und physischer Gewalt zur Kapitulation zu bringen und seine Persönlichkeit zu zerstören.
Ebenfalls nach offiziellen Erklärungen türkischer Vertreter steht jedem Gefängnis ein Arzt zur Verfügung. Bereitschaftsärzte sind nicht vorhanden. Die Ernährung in den türkischen Gefängnissen ist unbeschreiblich schlecht. Jedem Gefangenen steht täglich ein Betrag von 22000 TL zu Verfügung. Wenn man sich vor Augen führt, daß 1 $ = 70000 TL beträgt, kann man sich ein Bild von der Situation machen.
Nach einem Bericht des Solidaritätskomitees
Die hungerstreikenden Gefangenen benötigen unsere Solidarität. Protestfaxe sind zu schicken an:
Ministerpräsident Mesut Yilmaz:
0090-312-4170476
Staatspräsident Süleyman Demirel:
0090-312-4271330
Justizminister Mehmet Agar:
0090-312-4173954
Der gemeinsame Forderungskatalog der hungerstreikenden politischen Gefangenen umfaßt insgesamt 32 Punkte. Hier die wichtigsten Forderungen, die zugleich die unmenschlichen Haftbedingungen der Gefangenen dokumentieren, deren Mißhandlungen unter dem neuen, den faschistischen "Grauen Wölfen" angehörenden Justizminister Agar weiter verschärft worden sind:
Rückverlegung der Gefangenen, die gegen ihren Willen durch Drohungen, Erpressungen und Folter in andere Abteilungen oder Gefängnisse zwangsverlegt wurden
Verlegung der mit Knüppeln, Steinen und anderen Waffen bewaffneten "Abschwörer", die auf geplante Weise zum Zweck der Provokation von der Gefängnisleitung in die Blocks unserer Gemeinschaftszellen gebracht wurden.
Keine Verlegung in Isolationszellen
Keine Fesselung in Ketten, keine erniedrigende Behandlung bei den Transporten zum Gericht, ins Krankenhaus etc.
Suspendierung des Justizministers Mehmet Acar
Keine Behinderungen bei Anwaltsbesuchen
Ungehinderter Bezug aller legal erscheinenden Publikationen von draußen
Öffnung des Saals für die Benutzung durch die Gefangenen eines ganzen Blocks für gemeinsame sportliche und kulturelle Aktivitäten
Gewährung der Möglichkeit einer gemeinsamen Verteidigungsvorbereitung für Gefangene, die im gleichen Verfahren angeklagt werden
Sofortige Suspendierung der Verantwortlichen für unsere Gefallenen (eine Namensliste folgt)
Schluß mit jeglicher Unterdrückung und Beschränkung unserer politischen und juristischen Verteidigung vor Gericht
Offene Besuchstage für unsere behinderten und bettlägerigen Genossinnen und Genossen
(Quelle. Özgür Politik, 29.4.96)
Als weitere Forderungen wurden inzwischen bekannt:
Offizielle Anerkennung von Vertretern der politischen Gefangenen
Beendigung der Deportationen von Gefangenen mit dem Ziel, sie zu isolieren und zu bestrafen
Kein externer Einsatz von Polizei und Militär in den Gefängnissen
Außerdem:
Anerkennung der PKK-Gefangenen als Kriegsgefangene
Beantwortung des einseitig von der PKK verkündeten Waffenstillstands durch die türkische Regierung
Sofortige Beendigung der Vernichtung unserer Heimat; Einstellung der Massaker, Morde "unbekannter Täter", Zwangsvertreibungen u.ä.
Einhaltung der Genfer Abkommen durch die Türkische Republik und Sicherstellung der Einreiseerlaubnis für internationale Beobachterdelegationen zur Analyse der Situation sowohl in unserem Land als auch in den Gefängnissen
Der Dachverband der Angestellten im öffentlichen Dienst hatte am 8. Juni zu einem Sitzstreik vor demIstanbuler Zentrum Galatasaray Liseri aufgerufen, um auf ihre Forderungen in den gegenwärtigen Verhandlungen mit der Regierung aufmerksam zu machen und gegen die Verletzung der Menschenrechte zu protestieren. Die Polizei hatte alles abgeriegelt und nahm Hunderte fest, einige Zeitungen sprechen von bis zu 1500 Personen. Viele wurden bei den Schlagstockangriffen der Polizei verletzt. Unter den Festgenommenen befanden sich neben Arbeitern und Angestellten auch Gewerkschaftsvertreter, Journalisten sowieTeilnehmer der Habitat-II-Konferenz.Tags drauf protestierten Vertreter der NGOs der UN-Konferenz mit einem Sitzstreik gegen die Festnahmen und den Polizeiangriff. Sie forderten die Freilassung der Verhafteten.
Herausgeber : Angehörige und FreundInnen politischer Gefangener in der BRD, Postlagerkarte 05 02 05, 65929 Frankfurt / M. Erscheint vierwöchentlich bei GNN Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung, Verlagsgesellschaft in Schleswig-Holstein / Hamburg m. b. H., Palmaille 24, 22767 Hamburg. V. i. S. d. P. : Christiane Schneider. Redaktionsanschrift und Bestellungen : GNN-Verlag, Palmaille 24, 22767 Hamburg, Tel. : (0 40) 38 13 93, Fax : (0 40) 3 89 83 31 (mit Empfängervermerk). Einzelpreis : 3,00 DM. Ein Halbjahresabonnement kostet 27,00 DM, ein Halbjahresförderabonnement 30,00 DM, Buchläden, Infoläden und sonstige Weiterverkäufer erhalten bei einer Bestellung ab 3 Stück 30 % Rabatt, ab 50 Stück das Heft zu 1,90 DM. Bei Bestellungen bitte Einzugsvollmacht beifügen oder Überweisung auf das folgende Verlagskonto : Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50, Konto-Nr. 1269/122 311. - Herstellung und Drucklegung : GNN Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung, Verlagsgesellschaft in Schleswig-Holstein / Hamburg m.b.H. Eigentumsvorbehalt: Nach diesem Eigentumsvorbehalt ist das Angehörigen-Info so lange Eigentum des Absenders, bis es dem Gefangenen ausgehändigt wird. "Zur-Habe-Nahme" ist keine Aushändigung im Sinne des Vorbehalts. Wird das Info dem Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist es dem Absender mit dem Grund der Nichtaushändigung zurückzuschicken. Spendenkonto der Angehörigen : Sonderkonto Kiener, Landesgirokasse Stuttgart, BLZ 600 501 01, Kt.-Nr. 5454194.