Redebeitrag zum CSD '97
Seit geraumer Zeit breitet sich in der bürgerlichen Berliner Lesben- und Schwulenszene eine besondere Art von Arroganz aus.
Immer wieder höre ich Äußerungen wie, wir sind doch längst anerkannt in dieser Gesellschaft oder wir brauchen doch bloß eine
rechtliche Gleichstellung. Dann ist doch alles erreicht. Gleichzeitig bilden sich Verbände und Interessengruppen, die gesellschaftlich
um Anerkennung buhlen ohne sich noch weiter mit der Vergangen-heit oder ihrer gesellschaftlichen Funktion auseinanderzusetzen. Ein
drastisches Beispiel hierfür sind sicherlich die schwulen Soldaten. Während es noch vor Jahren Organisationen und Vernetzung hieß,
werden heute Institutionen gebildet wie die schwulen Manager, um sich auf der Jagd auf das große Geld zu beteiligen. Wir haben gerade
das schwule Stadtfest erlebt. Ohne Differenzierung standen Initiativen neben Sponsoren von Energy-Drinks und Freßbuden.
Sicher werden die Initiatoren dieser Aktivitäten wieder überheblich lächelnd von verbissenen Politpuritanern schwafeln. Sie haben den
Kern des Problems längst verdrängt. Wir als Lcsben und Schwule in einem der stärksten westlichen Industrieländer haben in erster Linie
die Aufnabe, unsere Homosexualität als Chance zu nutzen, diese Gesellschaft im Auge zu behalten, auf Distanz zu gehen zu ihren
Institutionen und Solidarität mit anderen Minderheiten einzufordern.
Wir haben ebenso die Aufgabe, uns für Schwule und Lesben in anderen Ländern einzusetzen. Das ist die einzige Möglichkeit, die eigene Integrität
zu wahren.Warum in Städten? Wir sind geflüchtet aus bigotten Verhältnissen, religösen Zwängen, Psychoterror durch Eltern und Verwandte,
Diskriminierung am Arbeitsplatz, SpieBrutenlauf unter Freunden und Versteckspielen.
Wer sich auch nur oberflächlich mit dem Erismus auseinandergesetzt hat, kann deutlich erkennen. daß den Opfern ihre Anpassung an das System
nichts genutzt hat. Im Gegenteil. Durch die Offenheit einiger schwuler Vereine hatten die Faschisten ohne Mühe Zugriff auf die Vereinsstruktur
und haben die Mitglieder verhaften können. Doch ich muß sicher nicht erst mit den Extremen argumentieren. Schon jetzt wird deudich, daß der
Haß in dieser Gesellschaft in gleichem Maße steigt, wie die wirtschafdicke Kraft und damit die persönliche Sicherheit nachläßt.
Wer sich auch nur oberflächlich mit dem Faschismus auseinandergesetzt hat, kann deutlich erkennen, daß den Opfern die
Anpassung an das System wenig genutzt hat.
Wer nicht begreift, daß die vordergründige Liberalität ein Luxus ist, den sich diese Gesellschaft lediglich leistet, wenn sie nicht
in Schwierigkeiten ist, hat sich nie mit der Vergangenheit auseinandergesetzt
Zugegeben, in den letzten Jahren waren Schwule und Lesben Dauergäste in Talkshows und Erotikmagazinen. Aber hat das zu gesellschaftlicher
Akzeptanz gehihrt? Wenn wir ehrlich sind, wurden wir doch meistens Hur den exotischen Kick benutzt und ich tlihle mich an die Jahrmarktshows
der vorigen Jahrhunderte erinnert, in denen Behinderte und Sonderlinge zur Ergatzung und Erschauerung des Publikums ausgestellt wurden. Die
Realität jenseits der Großstädte Berlin, Hamburg, München und letzt auch Köln in. sieht anders aus.
Warum leben wir in diesen Städten wir sind geflüchtet aus bigotten Verhältnissen, religiösen Zwängen, Psychoterror durch Elternund Verwandte,
Diskriminierung am Arbeitsplatz, Spießratenlauf unter "Freunden" und Versteckspielen. Und das Leben auf dem Land verändert sich weit träger
als in der Stadt, so daß sich nicht viel an diesen Zwängen geändert hat. Es ist nicht fair, das dauerhaft zu verdrängen, nur weil wir im Treibhaus
der Großstadt in größeren Zusammenhängen leben. Wenn heute eine große Umfrage unter Eltern durchgeführt würde, würden sicher eine deutliche
Mehrheit es für ein Unglück halten, ein homosexuelles Kind zu haben. Das ist Realität.
Wir aber erleben hier in Berlin politische Verbrüderung des Mann-O-Meter mit dem Innensau-bermann Schönbohrn. Wenn wir nicht bald aus politischer
Lethargie, Metropolenblasiertheit und gewinnsüchtiger Kriecherei gegenaber der konservativen Regierung aussteigen, die sich in einem großen Teil der
schwul-lesbischen Gemeinde ausbreitet, werden wir an Glaubwürdigkeit und politischer Flexibilität verlieren. Schwule und Lesben gehören auf die Seite
politisch fortschrittlicher Kräfte, um ihre gleichberechtigte Existenz in der Gesellschaft zu rechtfertigen und zu sichern.
Dieser Redebeitrag stammt von einer Lesbe und wurde von ihr auf dem Berliner CSD am 28.06.97 zu dem Zeitpunkt gehalten, bevor die
Bullen das zweite Mal vom Rattenwagen und dem S036-Wagen weggedrängt wurden.
Zur Übersicht der aktuellen Nummer