Februar 1997 - Firmenchronik
150 Jahre Siemens sind kein Grund zum Feiern!
Im Jahr 1997 läßt die Leitung des Siemens-Konzerns
weltweit das 150. Jubiläum der Firmengründung feiern.
Kritikerinnen und Kritiker der Unternehmenspolitik erinnern derweil
an zahlreiche Schattenseiten der Firmengeschichte: an
Kartellabsprachen,
Waffengeschäfte, Aussperrungen, staatliche Protektion und
Bestechungen, an nationalsozialistische Zwangsarbeitslager und vor
allem an drei Jahrzehnte Atomkraftwerksbau, den die
Konzernführung auch heute noch um jeden Preis gegen den Willen
der
Bevölkerungsmehrheit fortsetzen will.
Der ,Koordinationskreis Siemens-Boykott', in dem sich mehr als 120
Organisationen zusammengeschlossen haben, ruft die Verbraucherinnen
und Verbraucher auf, alle Siemens-Produkte zu boykottieren, bis der
Konzern seine Atombetriebe geschlossen hat
und den Beschäftigten umweltverträgliche Arbeitsplätze
anbietet. Gleichzeitig fordert das ,Aktionsbündnis 150 Jahre
Siemens - Entschädigung jetzt!' vom Konzern
Entschädigungszahlungen für seine ehemaligen
Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter und deren
Hinterbliebene. (Beide Aufrufe finden sich weiter unten auf dieser
Seite.)
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1847: Der Berliner Artillerieleutnant Werner Siemens gründet mit
dem Universitäts-Mechanikus Johann Georg Halske die
,Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske'. Gleichzeitig bleibt er
Offizier der preußischen Armee und behält in dieser
Funktion Sitz
und Stimme in der preußischen Telegraphenkommission.
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1848: Von ebendieser Kommission erhält das Unternehmen den
Auftrag, Europas erste Fern-telegraphenlinie von der
Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zur Residenz von
König Friedrich Wilhelm IV. in Berlin zu bauen.
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1867: Siemens beginnt mit dem Bau der ,Indo-Europäischen
Telegraphenlinie' von London nach Kalkutta. Bis 1931 verbindet sie
die britische Regierung mit ihrer indischen Kolonie.
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1870: Unter Beteiligung der Familie Siemens wird die Deutsche Bank
gegründet. Werners Vetter Georg Siemens wird später einer
ihrer Direktoren.
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1883: Vier Wochen bevor die amerikanische ,Edison Co.' ihre erste
deutsche Tochterfirma gründet, unterzeichnet sie einen Vertrag
mit Siemens, der Konkurrenz zwischen den beiden Unternehmen
weitgehend ausschließt.
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1887: Die Deutsche Edison steht vor dem Konkurs und wird von Siemens
und der Deut-schen Bank durch eine Kapitalerhöhung gerettet.
Bedingung dafür sind die Trennung von der Muttergesellschaft und
die Umbenennung in ,Allgemeine Elektrizitäts
Gesellschaft' AEG. Im neuen Aufsichtsrat sitzen Georg Siemens
für die Deutsche Bank und Werners Sohn Arnold von Siemens
für die Firma Siemens.
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1903: Um den ersten ernsthaften Streik der Firmengeschichte zu
beenden, muß die Unternehmensleitung der Belegschaft einen
geheim gewählten Arbeiterausschuß zugestehen. Die meisten
seiner Petitionen lehnt sie jedoch ab.
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1905: AEG und Siemens sperren 40.000 Arbeiter aus, die gegen das
Absinken ihrer Reallöhne streiken. Der Streik bricht
zusammen.
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1910: Die Deutsche Bank entzieht der ökonomisch gesunden
Bergmann Elektrizitätswerke AG die Kredite. Siemens kann den
bisherigen Konkurrenten daraufhin aufkaufen.
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1914: Wegen Bestechung von Beamten wird Siemens in Japan
rechtskräftig verurteilt.
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1914: In den ersten drei Jahren des 1. Weltkriegs erhält Siemens
von der deutschen Marine Aufträge für U-Boote im Wert von
63,5 Millionen Reichsmark.
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1916: Auf Umwegen liefert Siemens 700 Tonnen Elektrostifte und
Elektrokohle an die britische Marine.
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1919: Mit den Firmen Auer und AEG gründet Siemens die
Glühlampenfabrik OSRAM, die später ganz in Siemens-Besitz
übergeht.
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1924: In Genf gründen AEG und Siemens gemeinsam mit anderen
Elektrofirmen das Phoebus-Glühlampenkartell.
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1932: Konzernchef Carl Friedrich von Siemens und andere Industrielle
fordern Reichspräsi-dent Hindenburg schriftlich auf, die
Regierung an den Führer der NSDAP zu übertragen. Zwei
Monate später, am 30. Januar 1933, übernimmt Adolf Hitler
die Macht.
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1939: Das Phoebus-Kartell kontrolliert über 80 Prozent der
europäischen Lampenproduktion.
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1940: Der kriegswichtige deutsche Konzern Siemens beschäftigt
erstmals Zwangsarbeiter.
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1942: Siemens errichtet Fabriken in unmittelbarer Nachbarschaft der
Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück.
"Haftstätten" unter SS-Verwaltung existieren
außerdem bei den Siemens-Werken Berlin-Siemensstadt, Biezanow,
Bobrek, Ebensee,
Happurg, Nürnberg, Oberaltstadt, Oberleutensdorf-Maltheuern,
Strassfurt und Zwodau.
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1943: Mehr als 30 Prozent der Siemens-Belegschaft sind Fremdarbeiter,
Kriegsgefangene, jüdische Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge.
Viele von ihnen verhungern oder werden "durch Arbeit
vernichtet". Nur an 2.203 jüdische Überlebende zahlt
der Konzern
zwei Jahrzehnte später Entschädigungen.
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1967: Die Firmen Bosch und Siemens gründen paritätisch die
,Bosch-Siemens-Hausgeräte GmbH', die identische Geräte mit
verschiedenen Firmenschildern produziert.
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1968: In Obrigheim geht das erste von Siemens errichtete
Leistungs-Atomkraftwerk in Betrieb. Bis 1989 folgen 20 weitere
Atomreaktoren von Siemens oder ihrer Tochter KWU in der
Bundesrepublik Deutschland.
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1968: Siemens erhält aus Argentinen den ersten Exportauftrag
für ein Atomkraftwerk. Erst viele Jahre nach ,Atucha 1' bekommt
Südamerika ein weiteres Atomkraftwerk.
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1969: AEG-Telefunken und Siemens gründen gemeinsam die
,Kraftwerk Union' KWU, die Siemens acht Jahre später ganz
übernimmt.
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1974: Der Durchschnittslohn für schwarze Beschäftigte bei
Siemens in Südafrika liegt bei umgerechnet 1,61 Mark pro Stunde
und damit unter dem Existenzminimum.
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1974: Mit 1.229 Aufträgen im Gesamtwert von mehr als 338
Millionen Mark ist Siemens der zweitgrößte Lieferant der
Bundeswehr.
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1977: 400 Angehörige des Siemens-Konzerns besitzen Mandate in
deutschen Parlamenten, drei davon im Bundestag. Die Firma garantiert
ihnen die Fortzahlung des Gehalts.
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1978: Siemens installiert nahe Hamburg den Reaktordruckbehälter
des Atomkraftwerks Krümmel. Erst 18 Jahre später wird
bekannt, daß dabei unpassende Teile des Behälters mit
Hydraulikpressen gefährlich zurechtgebogen wurden. Die
Staatsanwaltschaft
Lübeck nimmt deshalb 1996 Ermittlungen gegen Siemens auf.
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1984: Das Atomkraftwerk Krümmel geht in Betrieb. In den
Jahrzehnten danach häufen sich in der Umgebung
Leukämiefälle bei Kindern.
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1991: Siemens schluckt die marode Computerfirma Nixdorf. Seitdem
landen in deutschen Amts- und Poststuben fast ausschließlich
PCs von ,Siemens Nixdorf'.
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1993: Wegen Bestechung im Zusammenhang mit der "Münchener
Klärwerks-Affäre" werden zwei leitende
Siemens-Angestellte verurteilt.
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1993: Nur vier Jahre nach dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz in
Peking, bei dem chinesische Soldaten mehr als 3.000 friedliche
Demonstranten niedermetzelten, reist Siemens-Chef Heinrich von Pierer
mit Bundeskanzler Helmut Kohl nach China, um
Geschäfte mit der chinesischen Führung anzubahnen.
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1993: Im Geschäftsbericht beklagt Siemens, daß die
Umsätze mit Waffen-Elektronik infolge der Ost-West-Entspannung
sinken.
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1993: 70 Verbände und Bürgerinitiativen rufen zum Boykott
aller Siemens-Produkte auf, bis der Konzern alle seine Atombetriebe
geschlossen hat. In den folgenden Monaten steigt die Zahl der
Unterstützergruppen auf 120.
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1994: Auf Nachfrage von Kritischen Aktionären muß der
Siemens-Vorstand in der Hauptversammlung eingestehen, daß 25
Prozent der Gesamtbelegschaft, aber nur 2,7 Prozent der
Führungskräfte Frauen sind.1996: Die Regierung von Singapur
schließt
Siemens wegen Bestechung für fünf Jahre von allen
öffentlichen Aufträgen aus.
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1996: Entgegen der Voten des Europäischen und des
Österreichischen Parlaments und trotz Protesten von mehr als
einer Million Österreicher beginnt Siemens in der Slowakei mit
dem Weiterbau des sowjetischen Atomkraftwerks Mochovce. Westliches
Sicherheitsniveau wird es nicht erreichen. Die deutsche
Bundesregierung ermöglicht den Bau durch eine
Hermes-Bürgschaft von146 Millionen Mark.
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1996: Mit einer weiteren Hermes-Bürgschaft über 1,135
Milliarden Mark schafft die Bundesregierung dem Siemens-Konzern beste
Voraussetzungen, den Auftrag für den Bau der 14 Generatoren und
Turbinen des "Drei-Schluchten-Staudamms" am
chinesischen Jangtse zu ergattern, für den die chinesische
Regierung 1,8 Millionen Menschen zwangsumsiedeln will.
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1997: Bayerns Kultusminister legt in Garching bei München den
Grundstein für den FRM II-Forschungsreaktor, den Siemens
für die Technische Universität München errichten wird.
Trotz heftiger Proteste der US-Regierung soll er mit
atomwaffenfähigem Uran
betrieben werden.
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1997: Mit Jubelveranstaltungen läßt die Konzernleitung das
150. Jubiläum der Firmengründung feiern. Höhepunkte
sind ein Fest in Berlin-Siemensstadt vom 08. bis 10. August und ein
Festakt im Berliner ICC am 12. Oktober.
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2000: Noch vor der Jahrtausendwende wollen Siemens und ihr
französischer Partner Framatome die erste Baugenehmigung
für ihren neuen ,Europäischen Druckwasser-Reaktor' EPR
durchsetzen.
Zusammenstellung: Henry Mathews
Mehr Infos auch im Internet:
http://ourworld.compuserve.com/homepages/Critical_Shareholders/siemens.htm
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