Frauen sind besonders hart von Ehrverletzungen betroffen

Ehre, Fehden und nationale Zersplitterung in Kurdistan (Teil 1)

Prof. Haci Akman, Universität Bergen / Norwegen

Einleitung

Die Ideologie der Ehre ist in der kurdischen Gesellschaft weit verbreitet, aber für die meisten Kurden ist es selten eine Anleitung zum Handeln. Nur in Situationen, wenn die Familie oder der Stamm meinen, dass ihre Ehre bedroht sei, oder wenn eine Beleidigung geschehen ist, die die Wiederherstellung der Ehre verlangt, wird diese Ideologie in die Praxis umgesetzt. In einem Kapitel wird beschrieben, wie ein zufälliges Ereignis die Frage der Ehre in zwei benachbarten Stämmen aufwerfen kann und wie diese Vorstellungen von Ehre schließlich über eine Kette von immer gewalttätigeren Aktionen zu einer tragischen Blutrache führen. Allerdings kann kein Text verstanden werden, wenn man ihn aus dem Kontext reißt, und so ist es notwendig, in die soziopolitische Situation einzuführen, in der die Fehde stattfindet.
Seitdem die Türken 1071 zum ersten Mal an der Schwelle Anatoliens erschienen, war die kurdische Nation ständig der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt. Im genannten Jahr wurden die einheimischen Völker der Region, die Kurden und Byzantiner, in Malazgirt besiegt. Für die Kurden begann mit dieser Niederlage eine Zeit der sozialen Zersplitterung und ein unstetes Leben, das bis heute angehalten hat. 1639 wurde Kurdistan zwischen dem Osmanischen Reich und Persien aufgeteilt, die eine Pufferzone zwischen sich schaffen wollten. Fast 300 Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, folgte eine weitere Spaltung, als die Alliierten gemeinsam mit der Türkei die Aufteilung Kurdistans zwischen Iran, Irak, Syrien und der Türkei beschlossen. Diese Teilung, verbunden mit Unterdrückung und externen kulturellen Einflüssen, schuf einen politischen Kontext, der die kulturelle Entwicklung des kurdischen Volkes stark behinderte. Da es den Kurden nicht erlaubt war, kulturelle Institutionen aufzubauen noch Bücher oder Zeitschriften herauszugeben, war es für die kulturellen Vorbilder – Künstler und Intellektuelle – unmöglich, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie Einfluss auf und Vorbildfunktion für die Menschen gewinnen konnten.

Die kurdische Herkunftslegende

Kurden fühlen eine starke Verbundenheit zum Land ihrer mythischen Herkunft und zu ihrem Geburtsort. Besonders verbunden fühlen sie sich den Bergen, die im gegenwärtigen Unabhängigkeitskampf ebenfalls ein zentrales Symbol bilden. Es gibt verschiedene geschichtliche Auffassungen über die Herkunft der Kurdinnen und Kurden, die sich teilweise widersprechen. Die Kurden selbst bevorzugen es, ihre Geschichte in Legenden darzustellen. Eine davon ist die Legende über die Herkunft des kurdischen Volkes, eine Geschichte, die uns in die Zeit vor 2600 Jahren zurückführt, als Kurdistan von dem mythischen Dehag regiert wurde. Der Name bedeutet „der von Satan Geliebte“. Bei einem Zusammentreffen hatte der “Böse” den Körper von Dehag berührt und als Ergebnis dieses körperlichen Kontaktes wuchsen zwei Schlangen aus der Brust von Dehag. Die Schlangen wollten täglich mit Gehirnen von Jungen gefüttert werden. Indem er den Wünschen Satans nachkam und ihn bzw. die Schlangen mit dem Blut der Menschen nährte, konnte Dehag seine eigene Macht vergrößern. Er wurde mit jedem Tag stärker, während die Menschen zu seinen Füßen starben.
Kawa der Schmied hatte einen Sohn. Als Kawa bemerkte, dass der Tag näher kam, an dem Dehag das Leben seines Sohnes fordern würde, versammelte er die Menschen, um gegen den Tyrannen aufzustehen. Kawa wurde der Messias, auf den die Menschen gewartet hatten. In rasender Wut, mit dem Schwert in der Hand, tötete er Dehag. Damit befreite Kawa sein Volk von Leiden und Trauer. Nach dem Sieg wanderte er mit seinem Volk und ließ sich in den hohen Bergen nieder. Kawa hatte die Missetaten gerächt und seine und die Ehre seiner Leute, die von Dehag beschmutzt worden war, wiederhergestellt. Zum ersten Mal in ihrer mythischen Vergangenheit erfuhren die Kurden den Frühling in Freiheit und seitdem ist der Frühling das Symbol einer besseren Zukunft und neuen Lebens.
Die Legende von Dehag wurde für die Kurden besonders bedeutsam, da sie über die Fähigkeit der kurdischen Nation zur Einheit und zum Widerstand berichtet. Das Feuer von Kawa dem Schmied, das den Weg in die Berge zeigte, ist ein oft benutztes Symbol im gegenwärtigen Freiheitskampf. Heute wird ein symbolisches Feuer zu Newroz (kurdisches Neujahrsfest) angezündet. Das Feuer symbolisiert Freiheit und Erneuerung, aber auch Mobilisierung und Revolte. Wenn sich junge Männer und Frauen selbst in Brand setzen, um im wahrsten Sinne des Wortes den Freiheitskampf anzufachen, liegt darin eine Fortsetzung der mythischen Verbindung von Feuer und Kampf. Der Selbstmord durch Verbrennen muss auch im Licht der kurdischen Auffassung von Märtyrern (shehîd) gesehen werden. Märtyrer erlangen eine erhöhte, fast heilige Position. Bilder von Märtyrern werden hergestellt, um ihrer zu gedenken und ihnen auf besonderen Feiern Respekt zu zollen.
Das historische Leiden der kurdischen Nation war Jahrhunderte lang Leitstern der Künstler und Schriftsteller. Das Leiden ist hervorragend und wunderschön in einem Gedicht von Nali (1798–1855) ausgedrückt, das er für den zeitgenössischen Dichter Salim schrieb, als er zeitweise in Damaskus wohnte. In seinem Exil schrieb Nali von seiner Sehnsucht nach seinem Heimatland. Er besingt die Flüsse, die Ebenen und die Städte von Kurdistan und fragt, ob er jemals zurückkehren können wird:
„Den Schmerz des Exils zu beschreiben heißt, das verheerende Feuer der Trennung beschwören, das aus meinen Augen fließt. Ist die Zeit gekommen, dass ich zurückkehren kann oder soll ich hier bis zu meinem letzten Tag bleiben?“
Salim antwortet und beschreibt die Ruinen Kurdistans und die Grausamkeiten des Besetzers. Er wendet sich an den Wind in der Hoffnung, dass Nali seinen Schrei hören kann:
„In Gottes Namen, bring Nali die Botschaft, dass ich ihn anflehe, niemals nach Silemani zurückzukehren!“
Heute leben die Kurdinnen und Kurden über die ganze Welt verstreut und bilden eine der umfassendsten Diasporagemeinschaften unserer Zeit. Aber trotzdem sie in anderen Ländern leben, betrachten die meisten Kurden Kurdistan als ihr eigentliches Heimatland (welat), in das sie zurückkehren wollen, sobald es die politische Situation erlauben wird.

Der Stamm

Die traditionelle kurdische Gesellschaft besteht aus Stämmen (eshîr), die wiederum in verschiedene Familienlinien aufgeteilt sind. Die Stammesidentität war in der Geschichte von größerer Bedeutung für die umherziehenden als für die sesshaften Kurden, aber noch heute hat die Stammeszugehörigkeit für alle Kurden große Bedeutung. In der traditionellen Gesellschaft war der Stamm eine soziale, politische und wirtschaftliche Einheit, in der die Loyalität unter den Mitgliedern überlebenswichtig war. Die Mitglieder eines Stammes waren normalerweise Verwandte (kes u kar, xizm), aber es gibt Stämme, die nach anderen Prinzipien als denen der Blutsverwandtschaft organisiert waren. David McDowell (1988) meint, dass die kurdische Stammesorganisation auf den gemischten Prinzipien von Blutsbanden (pîwend îy în xunî) und Loyalität beruht. Dieses duale Organisationsprinzip scheint eine Garantie für die fortgesetzte Reproduktion des Stammes zu sein. Der Stamm verfügte über ein räumliches Kerngebiet, das er als in seinem Besitz befindlich betrachtete, obwohl es nicht durch eine klare Grenze definiert war.
Es wurde argumentiert, dass die Kurden sich niemals erfolgreich über den Stamm hinaus organisieren konnten. Sie könnten sich keine Vorstellung von alternativen Möglichkeiten, die Gesellschaft zu organisieren, machen noch hätten sie versucht, alle Kurden in einer Art überstammlicher Struktur zu vereinen. Auf der anderen Seite wurde die Welt außerhalb des Stammes ignoriert, wenn sie keinen direkten Einfluss auf das Leben des Stammes hatte. Der Stamm wurde als Miniaturwelt in sich selbst gedacht. Stammesrivalitäten genossen Vorrang vor den gemeinsamen Anliegen der kurdischen Nation, die noch niemals eine voll ausgebildete Idee von Staatlichkeit kannte. Viele Wissenschaftler haben argumentiert, dass die zersplitterte Stammesorganisation der Hauptgrund ist, warum die Kurden niemals ihren eigenen Staat schaffen konnten. Ein früher Beobachter, der die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenkte, war Serefxan Bitlis, der die erste kurdische Geschichte 1597 schrieb. Zu dieser Zeit war Bitlis aufgrund eines Konfliktes mit dem osmanischen Regime im Exil in Persien. Aus dem Exil warf er den Kurden die fortgesetzten Stammesstreitigkeiten vor und ermutigte sie, sich stattdessen zu vereinigen und den gemeinsamen Feind (dijmin) zu bekämpfen.
Der Stamm war die zentrale Einheit in den kurdischen Lebenswelten. Er forderte Treue und bot im Gegenzug Versorgung und Sicherheit. Die Stammesgemeinschaft (hevbeshiyîn eshîretî) legitimierte und definierte Personen als Kurden; ohne Verbindung zum Stamm war eine Person ein Nicht-Kurde, ein Außenseiter. Die Position des Stammes war bis zum Ersten Weltkrieg stark und klar umrissen. Seit 1920 ist die Stammesorganisation vielen Veränderungen unterworfen gewesen, aber immer noch betrachten Kurden den Stamm als ihren ersten Hinweis auf ihre Identität.
Das Überleben der Stammesstruktur muss im Verhältnis zum kurdischen Kampf um Land und eine kurdische Identität gesehen werden. Die Welt außerhalb wird als eine Bedrohung für das Überleben, für die Identität und für die Freiheit gesehen, welche drei Grundzüge nationaler Zugehörigkeit sind. Da kein Staat bürgerliche Rechte anbietet, suchen die Kurden Sicherheit und gegenseitige Unterstützung in Verwandtschaftsnetzwerken innerhalb des Stammes. Es gibt noch immer verschiedene Meinungen über die geschichtliche Funktion des Stammes und die gegenwärtige Bedeutung des Stammes für den einzelnen Kurden. Dem Stamm werden wahrscheinlich von verschiedenen Menschen verschiedene Bedeutungen in verschiedenen Kontexten zugeschrieben. Dennoch stimmen die meisten Kurden überein, dass der Stamm üblicherweise auf den Prinzipien von Verwandtschaft und Territorium basiert.
Paul White (2000) steht der These kritisch gegenüber, dass die kurdische Gesellschaft eine lineare Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart genommen hat, mit einer unveränderlichen Stammesstruktur als stabilem Kern – der unveränderlichen Variablen sozusagen. White verweist auf Dresch, der behauptet, dass sich die Stammesstruktur während der letzten Jahrhunderte in einem Prozess des Austausches mit der Umwelt grundlegend verändert hat. Die gegenwärtigen Stämme in Nordkurdistan (Türkei) unterscheiden sich grundlegend von ihren Vorgängern und spiegeln die gesellschaftlichen Veränderungen in der Region wider. Es stellt sich dennoch die Frage, wie weit sich der Stamm verändern kann, um sich einer modernen Umwelt anzupassen. Es scheinen einige Gegensätze zwischen der Stammesgesellschaft und einem modernen kapitalistischen Staat zu existieren, die schwerlich miteinander in Einklang zu bringen sind. In den Worten von Paul Dresch: „Die Sprache des Stammes ist nicht die des Staates, mehr als es in islamischen Zeiten war.“


Die Familie

Die drei grundlegenden Ebenen der kurdischen Gesellschaftsorganisation sind 1.) die Familie (malbat), 2.) der Clan (êl) und 3.) der Stamm (eshîr). Der Stamm verweist auf eine Art Nation oder Staat, auch wenn er auf den Prinzipien von Blutsbanden zwischen den Mitgliedern basiert. Der Clan ist eine Art erweiterter Familie. Die Familie ist die gesellschaftliche Basiseinheit. Sie wird durch enge Beziehungen charakterisiert, strikt voneinander getrennte Rollen und Systeme effektiver Sanktionen. Eine Person wird in eine Familie und einen Clan hineingeboren, dessen Zusammensetzung sich nur durch Geburten und Todesfälle verändert. Für die meisten Kurden bedeutet das verwandtschaftliche Netzwerk die primäre soziale Gruppe in allen Lebensphasen. So können wir uns die Wichtigkeit der Familie und der Herkunft bei der Ausbildung der kurdischen Identität vorstellen. In schwierigen Zeiten kann in der Familie immer Unterstützung und Trost gesucht werden. Die soziale Bedeutung des Clans steht in Verbindung mit der geographischen Mobilität, in der Art und Weise, dass geringe Mobilität und enges Beieinanderleben in Dörfern oder Kleinstädten seine Bedeutung erhöht. In Städten ist die kurdische Gesellschaft mehr in einzelne Kleinfamilien zersplittert, die nur selten mit anderen Mitgliedern des Clans zu tun haben. Aber dennoch haben die meisten Kurden eine starke geistige Verbundenheit zum Clan, unabhängig von der geographischen Entfernung und der Häufigkeit der Kontakte. Diese Verbindung spielt eine vitale Rolle bei Entscheidungen für alle Kurden und ist für die Diskussion um die kurdische Identität wichtig.
Die Kurden sind keine homogene Gruppe. Die Menschen Kurdistans leben in vier verschiedenen Ländern und sind so verschiedenen kulturellen und politischen Einflüssen ausgesetzt. Dennoch beziehen sich die meisten Kurden auf ihr Kurdischsein (kurdbûn) in verschiedenen Kontexten. Ob ein solcher Bezug offen oder im Stillen hergestellt wird, kommt auf die politische Situation und die Fähigkeit und den Mut, sie herauszufordern, an.

Ehre und Pflicht

Das kurdische Konzept von Ehre (hisyet) kann nur im Verhältnis zu den Stammesstrukturen verstanden werden, die auf der Basis der Blutsverwandtschaft aufgebaut sind. In der Einführung zu diesem Buch legt Aase eine detaillierte Diskussion der Konzepte von Ehre vor und stellt sie direkt ins Verhältnis zu Fragen der Macht. Dieses Kapitel soll deshalb nicht die theoretische Diskussion dieses Konzeptes wiederholen. Aber man muss unterstreichen, dass der kurdische Begriff von Ehre eng mit den Regeln, Werten und Normen, die innerhalb eines Stammes bestehen, verbunden ist. Die Ehre ist verbunden mit dem Status und dem der Rolle entsprechenden Verhalten, das von Männern, Frauen, Ehegatten, Kindern, ältesten Söhnen und Familienoberhäuptern in einer typischen vormodernen Weise erwartet wird. Zusätzlich hat Ehre eine Dimension, die über den individuellen Status hinausgeht und irgendwie das kollektive Denken und das Handeln des Stammes untermalt. Der Begriff der Ehre kann nur im Verhältnis zur Gesellschaft, in der er verwendet wird, verstanden werden und besonders im Verhältnis zu Ereignissen und Umständen, die die kollektive Ehre des Stammes bedrohen können.
Der Begriff der Ehre ist eng mit dem der Pflicht (erk) verbunden. Ein Kurde hat die Pflicht, die Ehre seines Stammes zu verteidigen, die Keuschheit der Frauen und Eigentums- und Landrechte. Wenn Stammesmitglieder sich an das ungeschriebene Gesetz der Ehre halten und ihre Ehre verteidigen, wenn sie bedroht wird, wird der innere Zusammenhalt des Stammes gestärkt. Wenn die Regeln vernachlässigt werden oder wenn die Männer ihre eigene Ehre oder die ihres Stammes nicht verteidigen können, leiden sie am Verlust der Ehre (bê hisyet bûn). In solchen Fällen erleidet der Stamm einen Verlust an Glaubwürdigkeit gegenüber Außenstehenden. Wenn ein Kurde gegen die gemeinsame Ideologie handelt, wird er als ehrlos (bê averû) bezeichnet und der Stamm gilt als mit Schande (sherm) belegt. Abhängig vom konkreten Vorfall können solche Vorkommnisse tödliche Konsequenzen haben.
Der Verlust der Ehre kann verschiedene Ursachen haben. Wenn das Ereignis, das zum Verlust der Ehre führt, mit Land oder Frauen zu tun hat, können die Konsequenzen verheerend für einzelne Männer und Frauen sein, wie auch für den gesamten Stamm. Die Reaktionen werden an die weitergegeben, die den Verlust der Ehre verursacht haben, in manchen Fällen auch an unschuldige Opfer, die Schande über den gesamten Stamm gebracht haben, indem sie belästigt wurden. Frauen können ihre Ehre verlieren, wenn sie Mann oder Kinder vernachlässigen, durch Ehebruch oder wenn sie vergewaltigt wurden. Reaktionen auf solche Schande sind verbale Angriffe und physische Bestrafungen. In extremen Fällen werden junge Frauen ermordet, um die Ehre der Familie oder des Stammes wiederherzustellen. Manchmal werden Verletzungen der Ehre als Vorwand genommen, um eine unerwünschte Frau loszuwerden. Morgan hat dokumentiert, dass im Namen der Ehre tausende Frauen im südlichen Kurdistan umgebracht wurden. Unabhängig von den konkreten Fällen sind Frauen immer besonders hart von Ehrverletzungen betroffen. Auch wenn eine Frau die Verletzung des Ehrenkodex überlebt, kann sie vom Stamm geächtet werden und erleidet schwere psychische Probleme, die damit einhergehen.

Mündliche Überlieferungen

Eine Erzählung unterscheidet sich von anderen Kommunikationsformen, indem sie einen klar bestimmten Anfang und ein klar bestimmtes Ende hat. Sie kann verschiedene komplizierte Elemente enthalten, die am Ende zu einer Lösung kommen. Ein wichtiger Aspekt einer Erzählung ist die Tatsache, dass sie oft Erfahrungen und Ereignisse aus verschiedenen Lebensbereichen kombiniert. Forscher, die mit Überlieferungen arbeiten, wissen, dass das Verhältnis zwischen Überlieferung und Erfahrung kein statisches ist. Die Erzählung ist nicht nur eine bloße Wiedergabe der konkreten Erfahrungen der Menschen, sondern muss eher als ein Prozess gesehen werden, in dem die Erfahrungen in Erzählungen umgesetzt werden, die wiederum Einfluss auf die zukünftigen Erfahrungen haben werden. Weiter unten werde ich auf Erzählungen eingehen, um die verschiedenen Aspekte des kurdischen Ehrbegriffs auszuleuchten, die in einer konkreten Fehde zwischen zwei Stämmen auftreten.
Die mündliche Tradition nimmt in der kurdischen Kultur einen zentralen Platz ein, sowohl aufgrund ihrer sozialen Funktion als auch aufgrund der Tatsache, dass viele Kurdinnen und Kurden selbst kaum lesen können. Kurdische Poesie war über die Jahrhunderte vor allem mündlich. Die Dichter fanden an den Höfen der mächtigen Stammesführer und in örtlichen Kaffeehäusern ein Publikum. Ein gemeinsamer Charakterzug mündlicher Traditionen ist die Fähigkeit, die Geschichte und die Art, wie sie vorgetragen wird, den Erwartungen des Publikums anzupassen. Geschichten und Gedichten wurde im Kaffeehaus eine volkstümlichere Form gegeben, während die Höfe einen raffinierteren Vortrag erwarteten.
Zusätzlich zur mehr oder weniger professionellen Dichtung gibt es auch in der Bevölkerung Überlieferungen von realen Ereignissen und Geschichten. Diese Erzählungen erhalten ihre Form durch den Dialog zwischen Erzähler und Zuhörern, bei dem alle Parteien ihre Interpretationen der Geschichte beitragen. Die Themen werden aus den Lebenserfahrungen der verschiedenen Stämme bezogen. Da Kurdistan aus Stammesgebieten besteht, ist ein wiederkehrendes Thema die Ehre und Rache in Bezug auf das Stammesgebiet. Es gibt eine Vielzahl von Geschichten über die friedliche Nachbarschaft und Freundschaft zwischen den Stämmen, aber es gibt auch Geschichten über lang anhaltende Fehden und Blutrache. Geschichten über Fehden sind hoch moralisch in der Art, dass Familien, die nach den Regeln der Ehre handeln, mit positiven Begriffen bewertet werden, während Familien, die die Ehre vernachlässigten, mit Missbilligung belegt werden.

(Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Gierstein;
Original: Haci Akman: „Honor, Feuding and National Fragmentation in Kurdistan”, in: “Tournaments of Power. Honor and Revenge in the Contemporary World“, Aldershot (UK) 2002, S. 101-114)