In Erinnerung an unsere Freundinnen Amara und Uta

Berxwedan jiyan e – Leben bedeutet Widerstand zu leisten!

Servin Nudem

 

„... damit der Traum Wirklichkeit wird“

Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei, 
du warst hier, und wir war’n frei 
und die Morgensonne schien. 
Alle Türen waren offen, die Gefängnisse leer. 
Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr. 
Das war das Paradies! 

Der Traum ist aus! Der Traum ist aus! 
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird. 

Gibt es ein Land auf der Erde, 
wo der Traum Wirklichkeit ist? 
Ich weiß es wirklich nicht. 
Ich weiß nur eins und da bin ich sicher, 
dieses Land ist es nicht. Dieses Land ist es nicht. 

Der Traum ist ein Traum, zu dieser Zeit, 
doch nicht mehr lange, mach dich bereit 
für den Kampf um’s Paradies! 
Wir haben nichts zu verlieren außer unsrer Angst, 
es ist unsere Zukunft, unser Land. 
Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand. 

Der Traum ist aus! Der Traum ist aus! 
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird. 
(Ton – Steine - Scherben, 1972)

Dieses Lied spricht von den Träumen und der Hoffnung, die zwei unsere Freundinnen im Herzen trugen und für deren Realisierung sie lebten und kämpften. Träumen tun diesen Traum viele Menschen. Sie träumen von einer Welt ohne Kriege und Gefängnisse, von einer herrschaftsfreien Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt und solidarisch ohne trennende Grenzen leben. Doch nur wenige Menschen überwanden die Angst und hatten den Mut zu sagen: „... aber ich werde alles geben, dass dieser Traum Wirklichkeit wird!“ Und nur sehr wenige von ihnen machten sich auf den Weg, nach einem Land zu suchen, in dem sich der Traum verwirklichen ließe. Letztendlich verließ viele damit auch der Mut zu träumen. Und so blieb ihnen letztendlich nichts anderes übrig, als sich in die Verhältnisse eines Landes und die Monotonie des Alltages einzugliedern, mit denen sie sich einst im Widerspruch befanden. Doch entgegen dem Zwang zur Unterordnung und Gleichgültigkeit gibt es doch Menschen, die aus den für sie vorbestimmten Bahnen ausbrechen. Ihnen gelingt es, die scheinbar unüberwindbaren Grenzen zu überwinden, ihre Geschichte im Zusammenhang mit der Geschichte anderer Menschen und Völker zu begreifen und gemeinsam nach neuen Befreiungsperspektiven zu suchen. Diese Suche führte unsere Freundinnen Uta und Amara nach Kurdistan.

 

Ein Jahr ist nun vergangen, seit uns am 31. Mai 2005 die unbegreifliche Nachricht erreichte, dass unsere Freundinnen Uta und Amara bei einem tragischen Autounfall in Südkurdistan ihr Leben verloren hätten. Uta und Amara, zwei Internationalistinnen, die niemals aufgehört haben, den Traum von einem freien Leben zu träumen und die auf der Suche nach Wegen waren, diesen Traum zu realisieren – auch wenn sie wussten, dass es schwer ist. Ihre Kraft und Lebenslust, ihre Ideen und Kritiken begleiteten uns tagtäglich und sind bis heute lebendig. Auch wenn sie in unseren Herzen und Gedanken weiterleben, so verspüren wir zugleich auch immer wieder die unbeschreiblichen Schmerzen über den Verlust. Ihre physische Abwesenheit hat bei uns allen, ihren Freundinnen und Freunden, Bekannten und Verwandten eine große, unauffüllbare Leere hinterlassen ...

Trotz der sehr verschiedenen Lebensgeschichten vereinigten sich die Ziele und Wege von Uta und Amara, die sie schließlich nach Kurdistan führten: Amara wurde im Jahr 1981 als Kind einer türkischen Familie in Ankara geboren. Im Anschluss an ihre Schulzeit studierte sie dort Soziologie. Während ihrer Studienzeit an der Universität in Ankara lernte sie die kurdische Befreiungsbewegung kennen und beteiligte sich an den Kampagnen der kurdischen StudentInnenbewegung. Denn sie konnte und wollte zu dem Unrecht und der Verleugnungspolitik des türkischen Staates nicht schweigen. Nachdem sie aufgrund ihres politischen Engagements verhaftet worden war, ging sie nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis nach Europa. Hier spielte sie bis zum Frühjahr 2005 eine aktive Rolle in der Arbeit der kurdischen Frauenbewegung. Sie trug die Freiheitsideologie dieses Kampfes in ihrem Herzen und ihrem Bewusstsein. Und es war ihr insbesondere wichtig, hierfür auch andere junge Frauen zu gewinnen. Mit ihrer warmen Ausstrahlung und Lebensfreude konnte Amara schnell Freundschaften aufbauen. Freundschaft und Prinzipien hatten in ihrem Leben einen hohen Stellenwert. Beharrlich hinterfragte sie Widersprüche und zeigte ihre Ungeduld gegenüber Unzulänglichkeiten. Das systemkonforme Leben in Europa fand sie unerträglich. Demgegenüber wartete sie mit großer Ungeduld darauf, wie sie es ausdrückte, „endlich von ihrem Recht Gebrauch zu machen“, die Natur und den Kampf in den Bergen Kurdistans kennen zu lernen.
Utas Weg hingegen führte von ihrem Engagement in der SchülerInnen- und Jugendbewegung in den 70er Jahren in Mülheim hin zum Anti-AKW-Widerstand, der Häuserkampf- und FrauenLesben-Bewegung in Berlin. Sie versuchte immer wieder Erfahrungen aus Kämpfen weiterzugeben, neue Ansätze zu entwickeln, feministische und internationalistische Standpunkte in die unterschiedlichen Bewegungen hineinzutragen. Ihr Interesse an Politik, Menschen, Freundschaften, der Natur und Umwelt, Pflanzen, alternativen Heilmethoden und Gesundheit waren für Uta untrennbar miteinander verbunden. Auf der Suche nach neuen Organisierungsansätzen, aus denen alternative, kollektive Lebensformen hervorgehen könnten, bemühte sie sich insbesondere darum, Erfahrungen aus verschiedenen Befreiungsbewegungen, unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen zusammenzubringen. Die Entwicklungen in der kurdischen Befreiungsbewegung und vor allem die Organisierung kurdischer Frauen verfolgte Uta aus diesem Blickwinkel von Anfang an mit großem Interesse. Mit ihren revolutionären Ideen, Lösungsansätzen und Kritiken regte sie sowohl in linken Gruppen und Frauenorganisationen in Deutschland als auch in der kurdischen Bewegung immer wieder neue Auseinandersetzungen an und entwickelte neue Initiativen. Bei vielen ihrer Aufenthalte in Kurdistan – so auch bei ihrem letzten Besuch – legte sie den Grundstein für neue Projekte, die den aktuellen Bedürfnissen von Frauen entsprachen und die Stärkung ihres Befreiungskampfes zum Ziel hatten.
Der Monat Mai, in dem wir von Uta und Amara Abschied nehmen mussten, trägt in der Geschichte des kurdischen Befreiungskampfes eine besondere Bedeutung. In den vielen unterschiedlichen Seiten dieses Monats spiegeln sich auch Ausschnitte des Lebens unserer beiden Freundinnen wider: Im Mai wurden internationalistische Revolutionäre wie Deniz Gezmis und Ibrahim Kaypakkaya vom türkischen Regime zum Tode verurteilt, denn sie hielten bis zuletzt an ihrem Freiheitskampf und Einsatz für Völkerfreundschaft fest. Der Mai ist der Monat des Widerstandes von PKK-Militanten gegen die Folter und Kollaboration im Gefängnis von Diyarbakir, aus dem die Parole hervorging: „Berxwedan jiyan e – Leben bedeutet Widerstand zu leisten!“
Zugleich werden im Mai häufig die Kongresse der kurdischen Bewegung durchgeführt. Diese Phase bedeutet Erneuerung und Entschlusskraft, Ziele und Aufgaben für den nächsten Kampfabschnitt gemeinsam festzulegen. Hierdurch ist es eine Phase, in der alle sowohl kollektiv als auch individuell gefragt sind, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und ihren Weg zu bestimmen.
Auch aus der Sicht der Natur nimmt der Monat Mai einen besonderen Platz im Laufe der Jahreszeiten ein: Er symbolisiert den Übergang vom Erwachen des neuen Lebens im Frühling zur Reifezeit des Sommers.

Der internationalistische Freiheitskampf und die Suche nach einem menschenwürdigen Leben, ihre aktive Teilnahme an der Vollversammlung des Kongra-Gel sowie ihre Entschlossenheit, ihre Erfahrungen und ihr Wissen für den Aufbau einer freien Gesellschaft einzusetzen, all dies charakterisierte die Lebensgeschichten unserer Freundinnen Uta und Amara. Aber der plötzliche Tod im Mai raubte ihnen die Gelegenheit, den Sommer zu erleben und das Heranreifen der Früchte ihres Wirkens in der kurdischen Frauenbewegung weiterzuverfolgen. Jedoch haben sie als Frauen selbstbestimmt ein Leben gelebt, das viele sich nicht getraut hätten zu leben. Aber durch ihren Mut und ihre Liebe haben sie zugleich vielen anderen Menschen neuen Mut gegeben, beharrlich zu sein, zu träumen und zu kämpfen – bis der Traum Wirklichkeit wird!

 
An die wertvollen FreundInnen und GenossInnnen von Ekin Ceren Amara

Es ist ein Jahr ohne unsere Tochter vergangen.
Es war für uns ein Zeitabschnitt, in dem das Leben und die Zeit ihre Bedeutung verloren haben.
Ein Zeitabschnitt, in dem wir in jedem Augenblick an sie gedacht haben.
Leider ist es nicht möglich, unsere Gefühle in Worten auszudrücken.
Das könnt ihr allein in euren Herzen spüren.
Für uns, als Eltern, ist es so gut wie unmöglich, von Ceren zu sprechen, Worte für sie zu finden.
Auch ihr kanntet sie.
Ihr liebevolles Gesicht, ihre Herzlichkeit, ihre Natürlichkeit, ihre Liebe, ihre entschlossene Haltung, ihre Würde, ihre Ehrlichkeit, ihren Willen, ihre Aufregung, ihre Klugheit, ihre Art zu reden, ihre Witze, ihre Freude, ihre Traurigkeit, ihre Wut, ihre Gedanken, ihre intensiven Gefühle ...
Alle von euch haben vielleicht eine ihrer Seiten kennen gelernt und sind ein Teil ihres Lebens geworden.
Auf der Jahrtausende alten Reise der Menschheit gibt es Menschen, die den Menschen wertvoll machen, gutherzige und würdevolle Menschen, die der Menschheit etwas geben. Sie geben der Menschheit ihre Herzen, ihre Mühe, Anstrengungen und ihr Leben. Durch sie erhält die Menschheitsgeschichte ihren Wert. Sie werden manchmal zu einer Sage, manchmal zu einem Gedicht, manchmal zu einem Märchen, manchmal zu einem Lied. Sie sind es, die die Menschheit erschaffen haben. Und was die Völker stark macht, ist die Erinnerung an sie.
Wir sind die Menschen eines Landes, in dem es Märtyrer, Verschwundene, Todesstrafen, Massenmorde, Gefängnisse, Vernichtung durch Isolation, Folter, Erschießungen – ohne jegliche Rücksicht auf Kinder oder alte Menschen – Lynchversuche, Verbannung, Hunger, Armut und Gewalt gibt.
Aber sicher werden die FreundInnen und GenossInnen unserer Tochter eines Tages in diesem Land das Lied des Friedens, der Freundschaft und der Freiheit singen. Dann wird Amara hören, dass ihre GenossInnen mit lauter Stimme ihre Lieder singen.
Amara ist ein Symbol für den Kampf um Völkerfreundschaft und Frieden. Amaras Kampf wird in euren und unseren Herzen weiterleben.

Die Eltern von Amara Ankara, Mai 2006