Das Anliegen des Buches ist der Humanismus „Traum aus Stein und Federn“ Buchbesprechung von Elmar Millich Wenn man auf einem Buch im Laden das Etikett „Bestseller“ aufgeklebt findet, ist normalerweise Vorsicht angesagt, besonders bei historischen Romanen. Bei dem Roman „Traum aus Stein und Federn“ von Louis de Bernières erweist sich diese Angst auf den ersten Blick als unbegründet. In der Tradition von Tolstois „Krieg und Frieden“ bindet Bernières die Schicksale der Einwohner des Örtchens Eskibahce ein in den welthistorischen Zusammenhang, der zum Ende des Osmanischen Reiches und zur Gründung der modernen Türkei führte. Eskibahce ist zu Anfang des letzten Jahrhunderts ein Multikulti-Idyll. Türken leben zusammen mit Christen griechischer Herkunft, die bis auf wenige Ausnahmen nur noch die türkische Sprache beherrschen. Muslime beanspruchen schon mal die Jungfrau Maria für die Erfüllung ihrer Wünsche und auch überkonfessionelle Heiraten sind kein Problem, wenn die Frau zum Glauben ihres Mannes übertritt. Die im Roman dargestellten Protagonisten sind vielfältig. Es geht um die tragische Liebe zwischen der schönen christlichen Philotei und dem muslimischen Ziegenhirten Ibrahim, die Freundschaft zwischen Karatavuk (Amsel) und Mehmetcik (Rotkehlchen), die durch die kommenden Kriege getrennt werden, und um Rustem Bey, den gütigen und weisen Aga des Dorfes, der in der Liebe kein Glück findet. Den politischen und historischen Handlungsstrang bildet die Laufbahn von Mustafa Kemal, später Atatürk, die immer wieder in kleinen Kapiteln eingebunden wird. Das Osmanische Reich schlittert an der Seite des verbündeten Deutschlands über die Balkankriege in den Ersten Weltkrieg, die jungtürkische Bewegung unter Enver Pascha entmachtet den Sultan, die Armenier werden aus ihren Siedlungsgebieten in Todesmärschen in die syrische Wüste vertrieben. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches wittern griechische Nationalisten diesseits und jenseits der Ägäis die Chance, den Traum von einem Großgriechenland zu realisieren, das große Teile der türkischen Westküste umfasst. Atatürk gelingt es jedoch durch Diplomatie und militärisches Geschick, die griechischen Truppen aus der Türkei zu vertreiben. Im Anschluss wird die ortsansässige griechisch-stämmige Bevölkerung von Smyrna, dem heutigen Izmir, fast vollständig massakriert; analog zu dem Ende des ersten Buches aus „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides. So verschiedenartig die Handlungsstränge sind, so unterschiedlich sind auch die Erzählstile. Das Schicksal der Einwohner von Eskibahce wird im leicht „orientalisch märchenhaften“ Stil erzählt. Die Figuren bilden keine strukturierten Persönlichkeiten aus, wie in „Krieg und Frieden“, oder, um im historischen Kontext zu bleiben, in „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel. Sie bleiben Träger der Handlung; vergleichbar Yasar Kemal’s Mehmed-Trilogie. Die Darstellung der politischen Ereignisse hingegen erfolgt im realistischen, fast zynischen Stil. Besonders die Kämpfe um die Gallipoli-Halbinsel, erzählt aus der Perspektive des Dorfbewohners Karatavuk, schildern die Sinnlosigkeit und die Grauen des Krieges in einer Detailliertheit, die an „Im Westen nichts Neues“ von Remarque erinnert. Das Anliegen des Buches ist der Humanismus. Es wird gezeigt, wie die einfache Bevölkerung, ob mit oder eigenes Zutun, durch die Ideologie des Nationalismus und der Religion in Konfrontationen gehetzt wird, die in unvorstellbarem Gemetzel und Leid enden. Die im Buch dargestellten Ideologiemuster sowie die Dummheit und Menschenverachtung der Volks- und Freiheitsführer auf allen Seiten ist zeitlos übertragbar etwa auf den Zerfall Jugoslawiens und die damit verbundenen Gräueltaten. Der englische Originaltitel „Birds Without Wings“, bezogen auf die Spitznamen von Karatavuk und Mehmetcik, gibt dies besser wieder. Am Ende des Romans führt Karatavuk aus: „Für Vögel, die fliegen können, bleibt die Welt immer, wie sie ist; sie können fliegen, wohin sie wollen, sie wissen nichts von Grenzen, und wenn sie sich streiten, ist es immer nur ein kleiner Streit.“ So begrüßenswert das humanistische Anliegen des Buches ist, lässt sich der Eindruck leider nicht vermeiden, dass in seinem Namen auch Geschichtsklitterung zu Gunsten der Türkei betrieben wird. Ob Anfang des letzten Jahrhunderts die Agas wirklich so gütig waren wie Rustem Bey, oder eher bei ihren Bauern verhasst, wie in den Romanen von Yasar Kemal, sei dahingestellt; es gehört zur Freiheit des Romans. Problematischer wird es bei den historischen Schilderungen und deren moralischer Bewertung. Obwohl das Buch sehr viele historische Details ausführt, bleibt es natürlich ein Roman und kein wissenschaftliches Werk. Wenn bei der subjektiven Auswahl und Bewertung der historischen Ereignisse jedoch Fragen berührt werden, die in der aktuellen politischen Diskussion hoch brisant sind, begibt sich der Autor auf gefährliches Terrain. Seine Kernthese, dass jedem Gemetzel der türkischen Seite auch ein Vergehen der „anderen“ Seite zu Grunde lag, deckt sich zu sehr mit der nach wie vor aktuellen Doktrin der Türkei. Am deutlichsten wird das an der Armenierfrage: „Es lässt sich nicht abschätzen, wie viele Armenier bei den Gewaltmärschen starben. Im Jahr 1915 sprach man von 300 000, eine Zahl, die seither unter den Bemühungen wütender Propagandisten immer weiter nach oben korrigiert worden ist. Aber es ist müßig und grausam darüber zu streiten, ob 300 000 oder zwei Millionen Menschen umgekommen sind, denn beide Zahlen sind entsetzlich, und das Leid der einzelnen Opfer auf ihrem Weg in den Tod ist in jedem Fall unermesslich.“ Eine analoge Aussage zu den Opfern des Holocausts würde bei jedem die Alarmglocken klingeln lassen, trotz humanistischem Gestus. Es ist sicherlich richtig, dass bei nicht-türkischen Personen die genaueren Hintergründe und die Vorgeschichte der Verbrechen, die der Türkei in der aktuellen politischen Auseinandersetzung vorgeworfen werden, meist nicht genau bekannt sind. Aber eine Erklärung der türkischen Befindlichkeit ist keine wissenschaftliche Aufarbeitung der historischen Tatsachen. Hier geht von dem Roman eine gewisse suggestive Gefahr aus, da er vortäuscht, das Zweitere zu tun. Es empfiehlt sich für Interessierte, Fachliteratur hinzuzuziehen; speziell zu dem Völkermord an den Armeniern das vor kurzer Zeit erschienene Buch „Operation Nemesis“ von Rolf Hosfeld. Behält man die politische Dimension distanziert im Auge, ist das Buch jedoch als bunter, spannender und informationsreicher Roman unbedingt empfehlenswert. Louis de Bernières |