Shahla Aghapour: Oliver Twist in Teheran

Susanne Roden

Mal wieder stehe ich vor dem Bücherregal und überlasse es dem Zufall, ob mir ein neuer, mir noch unbekannter Einband ins Auge sticht. Zugegeben, eine etwas exzentrische Methode, auf diese Art nach Neuerwerbungen in der Bibliothek zu forschen. Aber wie oft ist es mir schon passiert, dass die Titel anderen Themengebieten wie Geschichte oder Krimi zugeschlagen wurden, oder ein Buchstabe im Namen fehlte, oder gar Titel und Schlagworte keinen Treffer in der Suche ergaben, obwohl ich das Buch im Regal gesehen hatte.
Der Einband ist cremefarben und die vordere Umschlagseite erinnert an altkirchliche Glasfenster, die Farben erinnern mich an die Aquarellentwürfe von William Turner zur Themse.
Man erkennt teilweise Gesichter, Gitterlinien, Bruchstücke von Glas. Blick in die Freiheit.

Auf der Rückseite schenkt einem eine Frau ein sehr sympathisches Lächeln. Sie erinnert mich an eine Künstlerin, könnte aber auch eine Märchenerzählerin sein.
Der Titel, ja der lautet „Oliver Twist in Teheran“. Ich überlege nicht lange und nehme das Buch spontan mit. Endlich eine Autorin, vielleicht eine Kurdin, aber in jedem Fall eine kreative Frau mit mutigem Blick. Shahla Aghapour.

Oliver Twist, Gesellschaftsroman von Charles Dickens, ich krame im Gedächtnis, hatte ich das im Original gelesen, oder war es doch Vanity Fair? Nein der Roman war von Thackeray. Es hilft nichts, aber ein guter Anlass, das Gedächtnis aufzufrischen.

Ein paar Tage später schlage ich nun endlich das schmale Buch auf, damit ich mit dem Lesen beginnen kann. Tja, was soll ich sagen, ich war erstaunt.
Gedichte. Eine kurze Einleitung „Die Frau aus dem Iran“ und dann Gedichte.
Hätte ich das in der Bücherei gesehen, wäre das Buch dort geblieben, ich bin einfach kein Fan von Gedichten. Aber gut, nun hatte ich es mitgenommen und so begann ich zu lesen.

Schon die Einleitung ist sehr interessant geschrieben und erklärt auch, warum Shahla Aghapour ihre Heimat verlassen hat. Sie war nicht nur als Künstlerin aktiv gewesen, sie hatte sich auch als Journalistin politisch in der Frauenbewegung engagiert, für die Zeitung Ayandegan (Zukunft) regimekritische Artikel geschrieben, so dass sie im Gefängnis landete.
Unter den konservativen Islamisten, die ihre Macht nach der Revolution immer mehr ausbauten, bedeutete das Leben einer Frau, und besonders einer Künstlerin, nur noch ein Leben in ständiger Angst. Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung der Frauen wurde ersetzt durch Willkür und Gewalt und so verließ sie das Land, ihre Heimat. Sie ging ins Exil nach Europa, nur mit dem, was sie tragen konnte.
Sie hat ihren Lebensmittelpunkt in Berlin, der Stadt der vielen Kulturen, gefunden.
Ihr Körper weilt nun in Deutschland, ihre Seele ist gespalten und doch eins in zwei Welten.

Und so beginnt dann auch das erste Gedicht des Bandes mit den Worten „Ich bin eins/ eins in zwei Welten/ ich löse mich im Ozean der Welten auf/“.
Es geht weiter mit „Reisende“ und dann folgt ein sehr schönes und nachdenklich machendes Gedicht „Frau“.

Frau
Wir teilten unsere Schmerzen
unsere Tränen
unsere Hoffnungen
Aber die Wut
der Zorn
wuchsen unter meinem schwarzen Schleier
Ich zerriss die Schleier
den Ausdruck des männlichen Stolzes
Ich floh – fort
fort
um in Zukunft sagen zu können:
E n d l i c h frei ! – ?
Wir teilen unsere Schmerzen
unsere Tränen
unsere Hoffnung in der Liebe

Shahla Aghapour schreibt ihre Gedichte auf Persisch und übersetzt sie dann hinterher selbst ins Deutsche.
Diese Vorgehensweise führt dazu, dass eben nicht nur einfach übersetzt wird, sondern dass auch die Feinheiten, die Nuancen, alles, was zwischen den Zeilen steht, also das Gemeinte, der Kern der Gedichte, in der deutschen Sprache verfeinert wiedergegeben werden.
Die Themen der Gedichte sind sehr vielfältig und reichen von der Jugendzeit in Teheran über die Protestbewegung der Studenten, Gefängniszeit, Liebe, Trauer, Tod, Hoffnung, Universum, Freiheit zum Traum des Lebens, für eine Menschheit in einer Welt unter dem ewigen Lauf einer Sonne.

Unser Land
Wo unser Land ist
das Land der Diktatoren und der Willkür
wo man Frauen steinigt
und Menschen erhängt
dort ist unser Land

Wo man die Freiheit erniedrigt
und die Menschenwürde foltert
wo die Hoffnungen
im Sturm des schwarzen Kugelhagels geopfert werden
dort ist unser Land

Dort wo niemand etwas sagt
niemand etwas weiß
wo es Gesetz
aber kein Recht gibt
wo die Demokratie begraben liegt
dort ist unser Land

Doch ich weiß – auch dort
wo – eines Tages
die Dämme brechen
und die Menschen das Licht der Freiheit erlangen
auch dort ist unser Land

Wo – die Menschen ihr Recht erkennen
sich aus dem Käfig der Unwissenheit
aus den Fesseln der Angst befreien
wo sie die Gitter des dunklen Kerkers sprengen
auch dort ist unser Land

Dort – wo jetzt – noch
das Land der Diktatoren und der Willkür ist
wo man Frauen steinigt
und Menschen erhängt
dort ist unser Land
(http://www.aghapour.de/page46.html)

Und Oliver Twist in Teheran?
In dem Gedicht ballt sich die Kritik an den Mächtigen und den Zuständen im Iran, wie man mit der Kultur, dem Erbe, der Freiheit und den Menschen umgeht. Und auf der Stufe ganz unten stehen die Straßenkinder, ihrer Jugend beraubt, zu früh gealtert, kleine Oliver Twists mit leidendem Blick: „Sie werfen mit Steinen und selbst Züge hupen traurig im Bezirk Shahre Rey.“
Šahr-e Rey ist mit 5.000 Jahren die älteste existierende Stadt in der Provinz Teheran und war heiliges Zentrum des Medischen Reiches. Der letzte Mahdi war der Kurde Nurbasch, der im Jahr 1464 verstarb. Die Ruinen der Stadt verfielen und die Steine wurden im nahegelegenen Vorort Teheran verbaut, so dass Teheran die Nachfolge als regionale Metropole antrat. Heute ist die ehemalige nordpersische Ruinenstadt eine ca. 15 Kilometer südlich der Hauptstadt Teheran gelegene Industriestadt und an die U-Bahn Teheran angebunden. Es gibt eine Vielzahl historischer Gebäude wie z. B. das 3.000 Jahre alte Schloss Gebri oder die 1.000 Jahre alte Schah-Abbasi-Karawanserei sowie die Bibi-Shahr-Banu-Grabstätte.

Ich habe mich nicht getäuscht, später lese ich auf dem Blogspot von Shahla Aghapour unter „Lebenslauf-Biografi“: Malerin, Bildhauerin und Lyrikerin.
Sie wurde 1958 in Teheran als Tochter iranischer Aserbaidschaner geboren.
1976 Abitur für Naturwissenschaft und Literatur, 1980–1983 künstlerisches Studium an der Freien Universität Teheran sowie Praktikum und Arbeit als Journalistin bei politischen Zeitungen.
1986 Emigration und seit 1988 freischaffende Künstlerin in Deutschland.
Sie ist sehr aktiv und hat sich weiter gebildet, 1993–1996 künstlerische Arbeit mit Kindern in Berlin, 1996 Abschluss Sozialpädagogik in Berlin, 2000–2003 Künstler-Weiterbildungsstudium an der HdK/UdK Berlin mit Abschluss Master of Arts.
Shahla Aghapour arbeitet als freischaffende Künstlerin und Kunstdozentin, sie leitet künstlerische Projekte und ist Mitglied im Bundesverband bildender Künstlerinnen und Künstler.
Seit 2005 ist sie Mitglied im Exil-P.E.N. und seit 2007 in der P.E.N.-Frauengruppe. Von 2007 bis 2009 war sie Vorsitzende des Iranischen Schriftstellerverbandes im Exil und seit 2009 ist sie Mitglied im Zentrum der Schriftsteller im Exil deutschsprachiger Länder e.V.
Sie hält Lesungen und schreibt Artikel für verschiedene Zeitschriften, in der Anthologie „Brüche und Übergänge“ (Exil, Fremde, Heimatlosigkeit bedeuten immer auch Bruch, Übergang und Neuanfang – 48 Autoren aus 23 Ländern beschreiben ihr Leben, Jovis Verlagsbüro Berlin, 1997, 288 S.) sowie in „Ge-Denkwerk home-homeless“ (Berlin, HOME – homeless, Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Schriftstellern, Villa Oppenheim, Berlin, limitierte Edition). Es wurden mehrere Lyrikbände in persischer Sprache veröffentlicht, u. a. im AIDA Verlag Bochum, Forough Verlag Köln und Ghesseh Verlag Teheran.

Die Gedichte stellen nur einen Teil des Schaffens von Shahla Aghapour dar. Malerei, Plastik und Performance sind die anderen Teile, die die Vielschichtigkeit der Künstlerin abbilden.
Eine Lesung aus ihrem schriftstellerischen Werk findet oft in Begleitung einer Performance statt, oder anlässlich einer Ausstellung ihrer Bilder oder Skulpturen.
Diese Verknüpfung unterschiedlicher Darstellungsmedien ist ihr bereits in ihrer frühesten Jugend aufgefallen, als sie beim gescheiterten Versuch, ihrem Onkel eine Skulptur zu erklären, die Antwort erhielt: Schreib darüber lieber ein Gedicht oder was Ähnliches. Da jede Wirkung eine Ursache zur Grundlage hat, hinter einem komplexen Sachverhalt oft ein einfacher Kern steckt, gilt es somit den einfachen Kern hinter der Komplexität zu ermitteln, und so hat sie damit begonnen, die verschiedenen Medien einzusetzen und wechselseitig in ihrer künstlerischen und poetischen Arbeit wirken zu lassen.
In deutscher Sprache im Pop Verlag erschien der Gedichtband „Oliver Twist in Teheran: Gedichte“ (Pop, Traian, 2010, ISBN 978-3-937139-98-2, Paperback 13,90 Euro).