Bewahrung kurdischen Kulturerbes

Der Löwe des Daroghas und andere kurdische Fabeln

Buchbesprechung von Susanne Roden

»Fabeln spiegeln vielfach die Seele eines Volkes wider. Wir müssen bekennen: wir haben die Kurden erst in ihrem oft unfassbaren Leid, das ihnen auferlegt ist, ein wenig verstehen gelernt.
Die Fabeln, als Selbsthilfe von kurdischen Flüchtlingen übersetzt, bringen uns die Seele des kurdischen Volkes näher.

Es ist wert, sie zu lesen, nicht nur als Anerkennung der kurdischen Eigeninitiative, sondern auch zum besseren Kennenlernen der Vielfalt der Schöpfung.« Dr. Rudolf Kirchschläger (Geleitwort Schutzumschlag)
Das vorliegende Buch wurde als Zeichen der Solidarität mit den Menschen in Kurdistan von einem Ad-hoc-Komitee zur Notstandshilfe für iranische Kurden im iranisch-irakischen Grenzgebiet erstellt, um von dem Erlös aus dem Verkauf des Buches Medikamente und Schulmaterial für die Kinder zu kaufen. Das war 1992 und doch sind die Erläuterungen der Übersetzer zur Lage der Kurden weiterhin aktuell.
Das Buch enthält eine kleine Auswahl von Märchen und Fabeln aus dem reichen Erzählschatz Kurdistans und gibt einen Einblick in Leben und Natur der kurdischen Gesellschaft von einst und jetzt.
Viele der Geschichten, Legenden und Märchen sind nur mündlich überliefert, weil die Kurden selten die Möglichkeit hatten, ihre Literatur aufzuzeichnen. Die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse zwangen die kurdischen Schriftsteller, ihre Texte in anderen Sprachen wie Persisch, Arabisch oder Türkisch niederzuschreiben.
Vom 14. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die kurdische Literatur ihre Blütezeit. Viele Herrscherfamilien unterhielten an ihren Höfen Dichter, Sänger und Schriftsteller, so die Fürstentümer von Ardalan und Botan sowie Baban. In dieser Zeit (bis 1597) verfasste auch der Fürst von Bitlis, Şerefhan, seine Chronik »Scherefname« (Pracht der kurdischen Nation) und das kurdische (»National«-)Epos »Mem û Zîn« von Ehmedê Xanî (1651–1707), das vermutlich als Sage mit historischen Wurzeln im 14. Jahrhundert entstanden und von Dengbêj-Sängern tradiert worden war, stammt ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert:
Es handelt von Mem aus dem Alan-Clan und Zîn aus dem Botan-Clan – zwei Liebenden, die aufgrund von Intrigen Bekos aus dem Bakran-Clan nicht zueinanderfinden. Mem wird in einer Verschwörung ermordet, Zîn bricht auf seinem Grab zusammen und stirbt und wird neben Mem begraben, der Mörder Bakir wird von der wütenden Bevölkerung Cizîra Botans aus Rache getötet und der Sage nach zwischen Mem und Zîn begraben. Aus dem Grab wächst ein von Bakirs Blut genährter Dornbusch, dessen tief in die Erde reichende Wurzeln der Bosheit scheiden die zwei Liebenden auch im Tod noch voneinander. Mem und Zîn symbolisieren für die Kurden das kurdische Volk und das kurdische Land, die keine Einheit bilden können.
Nachdem die kurdischen Fürstentümer im 20. Jahrhundert aufgelöst und Kurdistan auf mehrere Länder aufgeteilt worden war, verhinderten die jeweiligen autoritären Herrschaften die Weiterentwicklung der kurdischen Literatur. Oft wurde die Nutzung der kurdischen Sprache verboten und dies hat dazu geführt, dass die mündliche Überlieferung die schriftliche Form ablöste. Das Wissen um die Wichtigkeit der Weitergabe des kulturellen Erbes auf diesem Wege spiegelt sich auch in der hohen Anerkennung wider, die den traditionell von Dorf zu Dorf wandernden dengbêj (professionelle Volksliedsänger) und çirokbêj (Geschichten- oder Märchenerzähler) im kurdischen Volk zuteil wurde. Sowohl die dengbêj, die ihre weltlichen Lieder ohne Instrumentalbegleitung wiedergeben, als auch die Märchenerzähler müssen die Fähigkeit haben, in der Erzähltradition vorzutragen. Der Volksliedsänger kann im traditionellen Rahmen eigene Texte verfassen. Bei den Geschichten- oder Märchenerzählern wird aber von der Überlieferung der Geschichte ausgegangen. Da bis in die 1950er Jahre hinein immer noch eine große Anzahl Kurden Analphabeten waren, erklärt sich auch das hohe gesellschaftliche Ansehen der Geschichtenerzähler, sind sie doch Bewahrer des kulturellen Erbes in einer jahrhundertelangen mündlich überlieferten Tradition.
Es gibt einige Sammlungen kurdischer Märchen und Fabeln, die aber dem Leser nicht ohne Weiteres zur Verfügung stehen. Aktuell lieferbar ist das Werk von Moustafa Rechid »Kurdische Märchen für Kinder«, das fünf »der schönsten Märchen« umfasst und reichlich bebildert ist.
Der vorliegende sehr schöne Band »Der Löwe des Daroghas und andere kurdische Fabeln« aus dem Jahr 1992 ist nur noch im modernen Antiquariat erhältlich, aber es gibt noch Exemplare. Dieser Band hat es mir sehr angetan, ist doch gerade die Titelgeschichte einfach wunderbar. Sie zeigt, wie aus einer Notlage, und wenn die herrschenden Verhältnisse keine andere Wahl lassen, das Beste gemacht werden kann.
Der Band enthält insgesamt 19 Märchen, und jedes für sich mit einer ganz besonderen Note. Es macht einfach Spaß, die Geschichten zu lesen und über die jeweiligen Lebenssituationen nachzudenken, sind doch die meist von Tieren verkörperten Themen nur allzu menschlich.
Ein eher zeitnaher Versuch von 2010, einen Band über kurdische Märchen zusammenzustellen, ist das Buch von Emin Yas »Kurdische Märchen: ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes«. Er hat die von seinem Großvater erzählten Märchen seiner Kindheit aus der Region Sêrt (Siirt) aufgeschrieben und gemeinsam mit seinem älteren Bruder sowie Anwohnern aus seinem Dorf ergänzt.
Die Märchen sind wirklich sehr interessant, auch umfangreich und ausführlich erzählt sowie mit sehr schönen Illustrationen durch den Künstler Fehmi Balayi versehen. Das Buch von Emin Yas ist im Selbstverlag im ASTA-Druck erschienen, zwar nicht über den normalen Buchhandel zu erwerben, aber direkt beim Autor. Es ist sehr erfreulich, dass ein junger Mann sich die Mühe macht und gewissenhaft versucht, eine Lücke an Verschriftlichung zu schließen und somit kulturelles Erbe der Kurden zu erhalten.
Was mich allerdings ernsthaft schmerzt, ist die Tatsache, dass ein deutscher Freund, der mit ihm gemeinsam Iranistik studiert hat, seines Zeichens Märchenerzähler und Orientalist, für geleistete Korrekturarbeit in völlig ungerechtfertigter Weise über fast eine halbe Seite mit Lob überschüttet wird. Auf den ersten 23 Seiten sind über 40 gravierende grammatische Fehler, Schreibfehler sowie ganze Textpassagen offenbar weder inhaltlich noch im Hinblick auf den Satzaufbau korrigiert worden.
Ob nun diesem Freund die gesamte Einleitung bis zur Seite 37 nicht vorgelegen oder er sie einfach nicht gelesen hat, kann ich nicht beurteilen. Die auf Seite 11 explizit erwähnte deutsche Korrektur, die erwähnten nötigen Veränderungen und das »auf den letzten Stand bringen der Arbeit« erschließen sich dem Leser nicht; im Gegenteil, von einer Korrekturarbeit kann jedenfalls keine Rede sein. Er scheut sich auch nicht, auf seiner Internetseite anzugeben, dass er »unter vielen anderen Aktivitäten auch das Buch Kurdische Märchen gemeinsam mit seinem kurdischen Freund veröffentlicht« habe.
Emin Yas ging es jedenfalls nicht um Effekthascherei, sondern darum, ein Stück kurdischen Literaturschatzes zu dokumentieren, und das ist ihm mit dem Aufschreiben der Märchen seines Großvaters auch gelungen. Er gibt in seiner Einleitung einen kurzen Überblick über die Geschichte und Entwicklung von Märchen im europäischen Kontext. Die Bedeutung und Stellung der kurdischen Märchen versucht er dann in einem Vergleich herauszuarbeiten. Da er auf Seite 33 betont, dass das Buch zweisprachig deutsch-kurdisch veröffentlicht werde, leistet er sich auf knappen fünf Seiten noch einen sprachwissenschaftlichen Exkurs zur Morphologie und Lexikologie, um die sprachlichen Strukturen der indo-europäischen Sprachfamilie darzustellen. Das Buch ist aber – bis auf ein paar Wortzitate – nur in deutscher Sprache veröffentlicht und die gewählten Beispiele sind auch nicht wirklich günstig.
Die Märchen stellen jedenfalls richtige Lebensgeschichten aus dem Alltagsleben der Kurden dar und sind sehr schön erzählt. Jede Menge Lebensweisheit und Erfahrung sind in den Erzählungen erkennbar. Es geht um gut und böse, um arm und reich, um Vertrauen und Betrug, und die Geschichten haben fast alle einen guten Ausgang.
Es wäre wünschenswert, wenn eines Tages ein Verlag sich des Werkes annehmen, die notwendigen Korrekturen durchführen und dem deutschen Publikum den Zugang zu dem Werk ermöglichen würde.
Die Wurzeln der kurdischen Märchen, Fabeln und Legenden reichen jedenfalls sehr weit zurück und es bleibt zu hoffen, dass es zukünftig noch viel Dokumentation und Forschung dazu geben wird. Es ist ein Reichtum vorhanden, an dem alle Menschen, jung und alt, teilhaben sollten.

»Der Löwe des Daroghas und andere kurdische Fabeln«, aus dem Kurd. übers. von Ali Mazoudji und Josef Magerl, ill. von Rezan, hrsg. von Kurden in Österreich, Hrsg.: Ad-hoc-Komitee zur Notstandshilfe für iranische Kurden im Grenzgebiet Iran-Irak, Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, 1992, 94 S., ISBN-13: 978-3853269633.
Emin Yas: »Kurdische Märchen: ein Stück des indo-europäischen Kulturerbes«, Selbstverlag Berlin 2010.
Moustafa Rechid: »Kurdische Märchen für Kinder«, Verlag für Kultur und Wissenschaft 2003, 100 S., ISBN 978-3-932829-67-3.
Cemal Nebez: »Kurdische Märchen und Volkserzählungen«, Verlag NUKSE, Bamberg 1972.
»Kurdische Märchen«, ges. von Luise-Charlotte Wentzel, m. e. Vorw. von Otto Spies, Die Märchen der Weltliteratur, 1. Aufl. Düsseldorf, Köln: Diederichs, 1978, 287 S., ISBN 3424006173 (EAN 9783424006179 / 978-3424006179).
Ordîxanê Celil, Celîlê Celîl, Akram Naasan: »Kurdische Märchen«, Insel Frankfurt 1993, ISBN 978-3458165149.
Celîlê Celîl: »Kurdskie skazki, legendy i predaniia« (Kurdische Märchen und Legenden), Coautor mit Ordîxanê Celîl und Zîna Celîl, Verlag Nauka, Moskau, 1989.
»Dastanên Kurdî« (Kurdische Sagen), Coautor mit Ordîxanê Celîl, 244  S., Verlag Zêl, Istanbul, 1994.

Anmerkung:
Celîlê Celîl, geb. 1936 in Jerewan, kurdischer Historiker, Schriftsteller und Kurdologe. Gemeinsam mit seinem Bruder Ordîxanê Celîl sammelte er kurdische Legenden und Märchen.
Cemal Nebez, geb. 1933 in Silemani, Irak, anerkannter kurdischer Sprachwissenschaftler. Gründung von NUKSE (National Union oft the Kurdish Students in Europe) gemeinsam mit Brusk Ibrahim und Latif Ali 1965 und Mitgründer der Kurdischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Stockholm 1985. t