'Hier entsteht das italienische Kurdistan'

Eine italienische Kleinstadt hilft kurdischen Flüchtlingen

von Knut Rauchfuß

Daß in der Türkei politische Unterdrückung und der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung den Alltag bestimmen, scheint in Italien Konsens zu sein. Daß daher kurdischen Flüchtlingen selbstverständlich politisches Asyl zustehe, ebenso. Wie sehr jedoch jedes humanitäre Bekenntnis auf erbitterten Widerstand aus Bonn stößt, mußte Bundesinnenminister Kanther der italienischen Öffentlichkeit zum Jahreswechsel erneut eindrucksvoll vor Augen führen. Während die italienische Regierung - allen humanitären Bekenntnissen zum Trotz - in zentralen Fragen dem europäischen Druck nachgegeben hat, setzen sich die EinwohnerInnen der kalabrischen Kleinstadt Badolato mit praktischer Solidarität gegen die deutsche Kriminalisierungspropaganda zur Wehr.

Als um den Jahreswechsel mehr als 1500 vorwiegend kurdische Flüchtlinge die Küsten Italiens erreichten, verkündete Präsident Scalfaro, "wenn verfolgte Personen kommen, müssen die Tore weit aufgerissen werden". Italienische AußenpolitikerInnen fordern seither eine internationale Konferenz zur Lösung der Kurdistanfrage, und einzelne BürgermeisterInnen schaffen bereits erste Fakten praktischer Hilfe. So haben im kalabrischen Badolato an die hundert Flüchtlinge begonnen, leerstehende Häuser zu beziehen. Die Bevölkerung der Kleinstadt an der Küste Kalabriens hat sich seit Januar um fünfundzwanzig Prozent vergrößert. Der durch Abwanderung zusammengeschrumpfte Ort hat nach der Ankunft des Schiffes Ararat um die 120 vorwiegend kurdische Flüchtlinge aufgenommen. Während die Alleinstehenden nach wie vor zentral in einer Schule untergebracht sind, wurden zwanzig Familien leerstehende Häuser überlassen. Seitdem bestimmen Menschen mit Wörterbüchern in der Hand das Straßenbild Badolatos und die italienische Tagespresse titelte stolz: "Hier entsteht das italienische Kurdistan."

"Die Menschen hier sind sehr freundlich zu uns", beschreibt einer der Kurden, die vor einer Bar auf dem Dorfplatz sitzen, das Verhältnis zu den EinwohnerInnen des Ortes. "Es ist schade, daß wir uns sprachlich nicht verständigen können, aber die Leute grüßen uns auf der Straße, bringen uns Kleidung und Lebensmittel und zuweilen Schokolade für die Kinder", ergänzt ein anderer. "Als wir kurz nach unserer Ankunft hier auf dem Platz ein Konzert gegeben haben, waren viele Bewohner des Ortes dabei. Einige ältere Leute haben vor Rührung geweint."

Die EinwohnerInnen von Badolato bestätigen das positive Verhältnis zu den kurdischen Neuankömmlingen. "Die Flüchtlinge sind sehr aufgeschlossen, sie kaufen bei mir ein, und wir verständigen uns mit Händen und Füßen", weiß die Besitzerin eines Zeitungsladens zu berichten. "In Kurdistan ist die Situation sehr schlimm", erklärt der Besitzer eines Restaurants, das regelmäßig Essen in die Schule liefert, "hier sind die Leute erst einmal in Sicherheit und können sich ein wenig ausruhen." Auch der Wirt der kleinen Bar auf dem Marktplatz weist auf die Unterdrückung und den Krieg hin, vor dem seine neuen Gäste geflohen sind. Er hat bereits einige Brocken türkisch gelernt, um sich besser mit ihnen verständigen zu können.

"Als die Flüchtlinge kamen, haben wir eine Dorfversammlung abgehalten und den Menschen hier die Situation in den Herkunftsländern erklärt. Wir haben ihnen klargemacht, daß die Kurden nicht nach Italien gekommen sind, um ihnen die wenigen Arbeitsplätze wegzunehmen, sondern daß sie vor dem Krieg fliehen. Und das hat die überwiegende Mehrheit der Leute verstanden", schildert Bürgermeister Manello seine Bemühungen um die Eingliederung der KurdInnen. "Nun versuchen wir, ihnen Häuser und Arbeitsplätze zu besorgen. Ich habe diesbezüglich ein paar Projektanträge gestellt." So sollen die Häuser der KurdInnen mit Mitteln aus öffentlichen Geldern renoviert werden und so Arbeitsplätze im Bausektor neu entstehen. Auch die Einrichtung eines italienisch-kurdischen Kulturzentrums ist geplant. "Das Zentrum soll zur Verständigung beitragen. Zwei italienische und zwei kurdische Angestellte sollen dort Arbeit finden. Außerdem werden wir Alphabetisierungs- und italienische Sprachkurse anbieten und die Kinder in die Schule integrieren." Flüchtlingspässe hat die Mehrzahl der KurdInnen mittlerweile erhalten.

Doch nicht nur die Eingliederung der Flüchtlinge in Badolato stellt für Bürgermeister Manello eine Herausforderung dar. Im März reist er zum ersten Mal mit einer Menschenrechtsdelegation nach Kurdistan, um in Diyarbakir an den Feiern zum kurdischen Newrozfest teilzunehmen. "Ich möchte den Kurden, die in ganz Europa verstreut sind und denen, die in ihrem eigenen Land leben, sagen, daß es eines der schönsten Dinge der Welt ist, das eigene Land gegen die Tyrannei zu verteidigen und als Partisanen für die Freiheit und Demokratie zu kämpfen und daß sie dabei unsere Unterstützung genießen, weil wir alle Brüder sind."

Fast zwangsläufig muß diese Aufnahmebereitschaft und die damit einhergehende offene Kritik an den Verbrechen des türkischen Militärs, der unheiligen Allianz in Ankara und Bonn den Verantwortlichen den Schaum vor den Mund treiben. Die Türkei warnte, den Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Ursache der Flucht sei nicht Unterdrückung, sondern der Wunsch nach besseren Lebensverhältnissen. "Die Anerkennung als politische Flüchtlinge hat sie ermutigt, auf illegalem Weg nach Europa zu reisen", erklärte Außenminister Cem. Im Gleichklang mit der Türkei log zum Jahreswechsel auch das deutsche Innenministerium die kurdische Massenflucht zu einem "Phänomen illegaler Zuwanderung" um. Mit Hilfe eines rhetorischen Bedrohungsszenarios, infolgedessen die Bundesrepublik es nicht zulassen werde, "daß die nächste illegal-verbrecherisch organisierte Wanderungsbewegung sich erneut in Deutschland" niederschlage, diffamierte Innenminister Kanther das Ersuchen um Asyl durch kurdische Flüchtlinge als "betrügerisches Konzept von Schlepperbanden". In der EU dürfe es keine "Transit-Gesinnung" mehr geben; Italien müsse mit Konsequenzen rechnen, falls es kurdische Flüchtlinge nicht mit allen Mitteln an der Weiterreise nach Deutschland hindere, drohte der Innenminister.

"Menschen sollten frei sein, dorthin zu gehen, wohin sie möchten"

Die Drohungen aus Bonn haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Während sich die italienische Regierung zwar öffentlich gegen die kanthersche Einmischung verwahrte und ankündigte, kurdischen Flüchtlingen auch weiterhin Asyl zu gewähren, machte sich hinter den Kulissen die italienische Marine auf, um die Flüchtlinge noch vor der albanischen Küste abzufangen und zurückzuschicken. Wer dennoch Italien erreichte, wurde bereits im Januar entgegen gültiger Rechtsbestimmungen in Auffanglager gebracht und dort unter strenger Bewachung von Carabinieri festgehalten. Die Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen reichte das italienische Parlament Ende Februar mit einem neuen Gesetz über die "Regelung der Einwanderung und die Lebensbedingungen des Ausländers" nach. Während dieses Gesetz für alle Flüchtlinge, die sich bereits auf italienischem Boden befinden, maßgebliche Verbesserungen des rechtlichen Status bedeutet, werden all jene, die es noch nicht geschafft haben, Italien zu erreichen, der in den Ländern des Schengener Abkommens üblichen Kriminalisierung unterzogen.

"Ich bedaure die neue Gesetzgebung", kommentiert Gerardo Manello, Bürgermeister von Badolato, die jüngsten Verschärfungen der Einreisebestimmungen für Flüchtlinge, "Menschen sollten frei sein, dorthin zu gehen, wohin sie möchten. Wenn aus der Türkei, aus dem Iran und Irak kurdische Menschen mit Schiffen fliehen, so darf dies Europa nicht gleichgültig sein. Diese Menschen sind in Not und müssen hier Aufnahme finden."

Unterdessen appellieren nicht nur italienische PolitikerInnen an die Regierungen der europäischen Union, der türkischen Kurdenpolitik entschlossen entgegenzutreten. Auch der griechische Außenminister Pangalos rief im Januar seine AmtskollegInnen dazu auf, "zum Völkermord an den Kurden und der brutalen Verletzung ihrer Menschenrechte Stellung zu beziehen." Als es darum ging, die Türkei nicht unter die Anwärterstaaten für die EU-Mitgliedschaft aufzunehmen, waren sich die europäischen Regierungen in dieser Frage noch weitgehend einig. Doch die Verlogenheit der scheinheiligen Menschenrechtsrhetorik erwies sich spätestens in den Reaktionen aus Bonn. Sobald die Opfer des Krieges europäischen Boden erreichen, sind aus dem deutschen Innenministerium nur noch rassistische Kampfparolen zu hören. Flüchtlinge werden in der kantherschen Rhetorik zu organisierten Verbrecherbanden. So macht man aus Opfern Täter.

Das wahre organisierte Verbrechen jedoch sitzt in den Regierungen in Ankara und Bonn. Die Fortführung des schmutzigen Krieges der Türkei in Kurdistan wird durch die militärische und ökonomische Unterstützung erst möglich.

"Die Verfolgung ethnischer Gruppen, die Zerstörung der Existenzbedingungen ganzer Bevölkerungsgruppen wie der KurdInnen in der Türkei führen zu Flucht und Migration. Dagegen helfen die weitere Schließung, die Technisierung und Militarisierung der Grenzen nicht - so perfekt sie die Staaten des Schengener Abkommens unter Federführung der deutschen Bundesregierung auch erdacht haben mögen. Im Gegenteil, die Politik der Abschottung schafft erst die Märkte für Menschenhändlerbanden, die dann als vermeintliche Verursacher von Fluchtbewegungen mit Millionenaufwand bekämpft werden," erklärte die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke. Auf das Zusammenspiel zwischen türkischer Regierung und diesen Banden verwies auch der Vizechef der Anti-Mafia-Kommission des italienischen Parlaments. Die türkische Regierung unterdrücke die kurdische Bevölkerung, dulde das Fluchtgeschäft der Mafia und decke gleichzeitig den Drogenhandel. Diese Verbindungen sind im Detail bekannt.

Auch die Flüchtlinge in Badolato berichten von der reibungslosen Zusammenarbeit zwischen türkischen Behörden und Schlepperorganisationen. "Wir wurden mit Polizeibegleitung in den Hafen gebracht. Bei dem Bereich des Hafens, in dem das Schiff vor Anker lag, handelt es sich um militärisches Sperrgebiet. Es ist unmöglich, ohne Wissen des Militärs dorthin zu gelangen", beschreiben sie ihren Weg auf die Ararat.

Auch Bürgermeister Manello weiß um diese Zusammenhänge. Die Vertretung der ERNK in Rom hat dem italienischen Innenministerium eine Liste mit rund 300 Personen übergeben, die in den Menschenhandel verwickelt sein sollen. Regelmäßig versuchen die Schlepperbanden, nach dem Abkassieren, die Flüchtlingsschiffe in der Adria zu versenken. Im vergangenen Jahr kamen dabei mindestens 313 Flüchtlinge ums Leben. Rund 800 konnten vor dem Ertrinken gerettet werden. "Die unmenschlichen Bedingungen, unter denen Menschen hierher geschmuggelt werden, ergeben sich aus der Höhe der Festungsmauern", erläutert das Büro Jelpke die Bedeutung der Schlepperbanden vor dem Hintergrund des Schengener Abkommens.

Doch statt der Bekämpfung von Krieg und Unterdrückung, anstelle der Einberufung der längst überfälligen internationalen Kurdistan-Konferenz, bekämpft die EU unter deutscher Führung in bewährter Polizeistaatsmanier die Flüchtlinge selbst. Zu einer Konferenz der EU-Polizeichefs wurde deren türkischer Kollege Bilican eingeladen - "eingeladen, nicht vorgeladen", wie die Süddeutsche Zeitung treffend kommentierte. Denn Bilican, der bis vor kurzem Gouverneur im Kriegsgebiet war, ist nach Angaben des türkischen Menschenrechtsvereines verantwortlich für Folterungen an 200 politischen Häftlingen, für 90 Ermordete und rund 50 Verschwundene. So verhandeln die heuchlerischen EU-Vertreter mit den Verfolgern darüber, wie man verhindern kann, daß die Verfolgten fliehen. Entsprechend kooperativ bot Bilican an, diejenigen, die entkommen konnten, wieder zurückzunehmen.

Die Türkei hat nun begonnen, die Flüchtlinge mit Gewalt an der Ausreise zu hindern. Razzien in türkischen Häfen haben zu Tausenden von Verhaftungen geführt. Ankara kann sich dabei auf Forderungen aus Bonn berufen. Denn Innenminister Kanther ist dabei, die ohnehin kaum merklichen Unterschiede zum Demokratieverständnis seines türkischen Amtskollegen Basesioglu vollends einzuebnen.

Doch erfreulicherweise haben selbst konservative Medien diesmal die rassistische Demagogie durchschaut. "Was erwartet die Kanther von den Italienern?", fragte der Kommentator der Westdeutschen Allgemeinen. "Sollen sie Kanonenboote losschicken, um die Seelenverkäufer mit Hunderten von Frauen und Kindern zu versenken? Sollen die Schiffe auf die hohe See zurückgeschleppt werden, wo die Flüchtlinge dann elend verhungen müßten?" Zuzutrauen wäre es diesem Innenminister, daß er auch das für einen adäquaten Umgang mit Flüchtlingen hielte.

Eine Beendigung des Krieges in Kurdistan erfordert daher nicht alleine die Absetzung der türkischen Machteliten, sie ist auch nicht ohne die Ablösung der deutschen Regierung zu haben.