Keine Auslieferung

von Kani Yilmaz!

Nach einer Kundgebung hauptsächlich kurdischer Teilnehmer vor dem britischen Konsulat am 4. Mai im Hamburg hat die Polizei erneut zugeschlagen. Sie griff die Kundgebung an, woraufhin die Teilnehmer eine Kreuzung besetzten. Rund 50 Menschen wurden vorübergehend festgenommen. (Nach Frankfurter Rundschau vom 5.5.) Die spontane Kundgebung richtete sich gegen die drohende Auslieferung des Europavertreters der ERNK, Kani Yilmaz, an die BRD. Kani Yilmaz war im Oktober 1994 in London, wohin er auf Einladung von Unterhausabgeordneten gereist war, unter fadenscheinigen Vorwänden, tatsächlich auf Betreiben der BRD, verhaftet worden. Seither sitzt er in Haft. Deutsche Behörden betreiben die Auslieferung, um ihm hier den Prozeß zu machen wegen angeblicher Rädelsführerschaft in einer "terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK und der Mittäterschaft an schweren Brandstiftungen". Rechtsanwalt Schulz teilt in diesem Zusammenhang mit, daß in dem Verfahren sein Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger abgelehnt wurde. Er hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. Zunächst aber begann am 4. Mai die Anhörung zum Auslieferungsersuchen vor einem Londoner Gericht. Über ihren Ausgang ist uns z.Zt. noch nichts bekannt. In einer Erklärung vom 3. Mai forderte die ERNK-Europavertretung die Freilassung von Kani Yilmaz und rief die öffentliche Meinung in Großbritannien zum Protest gegen die Verhaftung und Unterstützung des Kriegs der Türkei gegen Kurdistan und zur Solidarität mit dem kurdischen Volk auf. -(scc)

Der Senat muß seine Zusage endlich erfüllen

Proteste gegen das Gefängnis auf dem

Gelände des ehemaligen KZ Neuengamme

Die aus der NS-Zeit erhaltenen Gebäude des früheren KZ Neuengamme werden seit 1948 als Gefängnis genutzt. Seit langem fordert die Amicale Internationale de Neuengamme (Verband der ehemaligen KZ-Gefangenen), unterstützt von zahlreichen Persönlichkeiten und Vereinigungen im In- und Ausland, daß diese Strafanstalt verlegt und die Spuren des Konzentrationslagers als Ort der Mahnung und des Gedenkens erhalten bleiben. 1989 hatten der Hamburger Senat und die Bürgerschaft versprochen, dies zu realisieren. Doch bis heute ist kaum etwas geschehen. Die Justizbehörde begann erst kürzlich, die Zellen im Gefängnis zu modernisieren, und errichtete einen neuen, über drei Meter hohen Zaun um das ehemalige KZ-Gelände. Anläßlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Befreiung hat eine Hamburger Bürgerinitiative - die Initiative Dokumentationsstätte KZ Neuengamme - einen Aufruf an Bürgermeister Voscherau veröffentlicht, in dem es heißt: "Im Konzentrationslager Neuengamme wurden Zehntausende Menschen aus ganz Europa auf bestialische Weise umgebracht. () Die geschichtlichen Spuren dieses Konzentrationslagers sind eine Mahnung an uns und an zukünftige Generationen. Diese Erinnerung darf nicht den finanziellen Interessen der Stadt zum Opfer fallen!" Die Initiative erinnert Bürgermeister Voscherau an sein Versprechen und fordert, daß die Strafanstalt schnellstmöglich verlegt wird, daß keine Modernisierungsmaßnahmen mehr am Gefängnis vorgenommen werden und daß das Gelände für Besucher der KZ- Gedenkstätte frei zugänglich ist. Heftige Kritik äußerten Vertreter der Initiative am Verhalten von Justizsenator Hardraht. Obwohl die Gelder für den Bau einer modernen neuen Strafanstalt in den Haushalt eingeplant waren, habe Hardraht die historische Chance vertan, den Überlebenden des KZ- Terrors zum 50. Jahrestag der Befreiung das ehemalige KZ-Häftlingslager als Ort des Gedenkens und der Mahnung zu übergeben. Statt die Verlegung der Strafanstalt voranzubringen, habe er Mittel für deren Modernisierung und für eine neue Umzäunung beschafft. Die Initiative betonte, daß es einen derart unwürdigen Umgang mit der Geschichte an keinem anderen Ort eines ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagers gebe. Die Initiative will in den nächsten Monaten weiter Unterschriften sammeln und für die Verlegung des Gefängnisses eintreten. Zu den ersten Unterzeichnern des Aufrufs gehören: Hermann Langbein (Historiker, Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Neuengamme); Esther Bejarano (Auschwitz-Komitee, Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz); Günther Schwarberg (Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm); Ralph Giordano (Schriftsteller); Friedrich Schütter (Intendant des Ernst-Deutsch- Theaters Hamburg); Frank Baumbauer (Intendant des Deutschen Schauspielhauses Hamburg); Rolf Becker (Schauspieler, Hamburg); Hans-Jochen Vogel (ehem. Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD); Freimut Duve, Marliese Dobberthin, Angelika Mertens (Mitglieder des Bundestages, SPD); Krista Sager (Bündnis 90/Die Grünen - Sprecherin des Vorstands); Martin Schmidt, Sabine Boehlich, Peter Zamory (GAL, Hamburg); Robert Vogel (FDP, Hamburg); Erhard Pumm (Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Hamburg, Mitglied der Bürgerschaft); Hans-Peter de Lorent (Vorsitzender der GEW Hamburg); Joachim Garstecki (Pax Christi, Generalsekretär)

Staatsakt in Hamburg und

Gedenkveranstaltung in Neuengamme

Anläßlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes in Hamburg fand auf dem Hamburger Rathausmarkt am 3.5.95 eine offizielle Kundgebung statt. Neben Henning Voscherau (SPD) sprachen Hellmut Kalbitzer (SPD), ein Mitglied des sozialistischen Widerstandes, und Prinz Charles. An die 20000 Menschen versammelten sich vor dem Rathaus, um die Reden zu hören (oder Prinz Charles zu sehen?). Voscherau sprach zu Beginn seiner Rede von der Befreiung Hamburgs von dem Nationalsozialismus und von dessen "historischer Einmaligkeit". Zudem erinnerte er am Beispiel der jüdischen Familie Giordano an die Zeit der Verfolgung und Illegalität. Näher ging er auf den Nationalsoziamus, die Befreiung und die Zeit nach 1945 nicht ein. Wichtig war ihm, die Versöhnung zweier ehemals befeindeter Länder hervorzuheben. England diente der BRD "als Maßstab, als demokratisches Vorbild, beim Aufbau einer neuen Gesellschaft". Insgesamt war es eine vorsichtige Rede, die ihren Zweck erfüllte: Hamburg hat gedacht, eine Gedenkfeier eingehüllt in einen königlichen Mantel durchzuführen, an der nur das Nicht-Gesagte zu kritisieren bleibt. H. Kalbitzer, der Zeitzeuge, stellte in seinem Redebeitrag die gesellschaftlichen Probleme heute in den Vordergrund. Seine Aufforderung an die jünren Generationen, sich mit "kritischem Nachfragen" am politischen Leben zu beteiligen: "Das öffentliche Leben braucht auch heute und in Zukunft die politische Aktion der Jugend", glich einem dringenden Appell. Und er kritisierte mit Schärfe das Verhalten der Industrie und der zuständigen politischen Institutionen, nichts gegen die bestehende Massenarbeitslosigkeit zu unternehmen. Als Prinz Charles die Rednertribüne betrat, schwenkten einige die vorher verteilten britischen >Prinz-Charles-Fähnchen<. Als er dann auch noch seine Rede vorwiegend auf deutsch hielt und Hamburg eine "großartige Stadt" nannte, war das Erinnern an den Nationalsozialismus und an die Befreiung bei den HanseatInnen gänzlich in den Hintergrund getreten. Während des Staatsaktes wurden vier AntifaschistInnen von Ordnungshütern kurzzeitig in Gewahrsam genommen. Sie hatten klar zum Ausdruck gebracht, daß es in der BRD Menschen gibt, die den deutschen Tätern keine Opferrolle zukommen lassen. Hier zeigt sich sehr deutlich, wer die jüngeren Generationen daran hindern will, sich am öffentlichen Leben durch politische Aktion zu beteiligen. Der Kampf gegen den Faschismus mit all seinen Wurzeln ist noch nicht beendet. Einen Tag später, am 4. Mai 1995, lud die Amicale Internationale zu einer internationalen Gedenkveranstaltung zur Befreiung der Konzentrationslager auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Neuengamme ein. Mehr als 700 ehemalige Häftlinge aus 12 Ländern und an die 700 weitere Besucher nahmen an der Gedenkveranstaltung teil. Fritz Bringmann, der Generalsekretär der Amicale Internationale, hielt die Begrüßungsrede, gefolgt von Robert Pincon, dem Präsidenten, der in seiner Rede die Aufgabe der Zeitzeugen betonte, ihre Erfahrungen während des Nationalsozialismus an die späteren Generationen weiterzugeben. Es gäbe immer noch Menschen, die die Existenz der Konzentrationslager wegdenken wollten. Weiterhin forderte er den Bürgermeister der Stadt Hamburg auf, das gesamte Gelände des KZ Neuengamme als Gedenkstätte zu gestalten und die Justizvollzugsanstalt umzuverlegen. Henning Voscherau versprach, sich persönlich für eine Umverlegung einzusetzen. Da die Inhaftierten der Anstalt für diesen Tag Freigang erhielten, hatten die Justizvollzugsbeamten nichts Besseres zu tun, als etwa 20 AntifaschistInnen daran zu hindern, an der Veranstaltung teilzunehmen. Erst nach einiger Rangelei und vielen Erklärungen mit den Vorgesetzten wurde ihnen der Zugang gewährt. - Wie soll ein Vermitteln der Erlebnisse der ehemaligen Häftlinge an nachfolgende Generationen stattfinden, wenn der Staat seine Diener plaziert, um eine Teilnahme zu verhindern? Da fragt man sich doch, ob ein Vergessen trotz aller schönen Worte nicht sogar erwünscht ist. Und wenn man dann noch bedenkt, daß die Gelder für die ehemals stattgefundenen Jugendcamps in Neuengamme gekürzt oder gar gestrichen werden, zeigt sich sehr klar, daß Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte, der Verbrechen des Nationalsozialismus, nicht gefragt ist. -(fle)

Gefängnis Fuhlsbüttel

Interview mit Insassensprecher

Armin Hockauf

Die Entscheidung von Senator Hardraht, Spritzentausch auch hier im Knast zuzulassen, hat ein ziemliches Echo ausgelöst. Die Mehrheit der Beamten hat sich vehement dagegen ausgesprochen und Widerstand angekündigt. Ihr habt als Insassenvertretung u.a. einen solchen Spritzentausch seit 1988 gefordert. Wie erklärt sich für Euch der Widerstand der Beamten? Einerseits sind die Beamten gehalten, nach Drogen zu suchen und diese zu beschlagnahmen. Andererseits sollen sie dann die Spritzen unberührt lassen und sogar ausgeben in dem Wissen, daß damit harte Drogen konsumiert werden. Mit diesem Widerspruch kommen die Beamten überhaupt nicht klar.

Wie viele Gefangene sind in Santa Fu von harten Drogen abhängig? Man muß hier unterscheiden in Abhängige, die eher gelegentlich konsumieren, und solche, die täglich an der Nadel hängen. Insgesamt sind wohl ca. 100 Gefangene abhängig, davon 30 bis 40 als Schwerstabhängige.

Auch wenn dies noch erschreckend viele sind, sind lange Zeit viel höhere Zahlen gehandelt worden. Ist die Zahl der Abhängigen zurückgegangen? Ja. Das hat seine Ursachen aber nicht zuletzt darin, daß verschiedene seit langem von der Insassenvertretung geforderte Maßnahmen (keine Abhängigen mit Kurzstrafen mehr in die Anstalt 2, Ausweitung des Methadon-Programms, eine bessere Betreuung der Abhängigen, die Zulassung von freien Drogenberatern aus Projekten draußen) langsam umgesetzt wurden. Ende 1993 wären die genannten Zahlen mindestens doppelt so hoch gewesen.

Viele Gefangene, die nicht abhängig sind, machen Drogenabhängige für die Verschlechterung der gesamten Vollzugssituation verantwortlich. Seht Ihr das auch so? Sicher verursachen Drogenabhängige eine Menge Probleme. Allerdings möchten wir nicht den Eindruck erwekken, als sollten diese nun für alle Probleme im Vollzug verantwortlich gemacht werden. Tatsache ist, daß Drogenabhängige für die Anstalt sehr arbeitsintensiv sind. Es müssen viele Stellungnahmen für Verlegungen, Entlassungen, die Aufnahme in Therapien usw. geschrieben werden, und all das bindet die Arbeitskraft von Abteilungsleitern, Vollzugsleitern etc., wobei diese ohnehin meist überlastet sind. So entsteht für andere Gefangene oft der Eindruck, für ihre Belange bleibe gar keine Zeit mehr, und sie machen dann die Abhängigen dafür verantwortlich. Tatsächlich muß natürlich der Vollzug die notwendigen Kapazitäten schaffen, um alle notwendigen und gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen auch durchführen zu können. Hinzu kommt, daß deutlich zu merken ist, daß der "Sicherheit- und Ordnungs-Gedanke", nicht zuletzt durch die Drogenproblematik, eine größere Rolle spielt, und dies wirkt sich dann natürlich deutlich auf die Lebensqualität aller Gefangenen aus.

Zu den jetzt auch von Senator Hardraht vorgeschlagenen Maßnahmen gibt es dennoch keine Alternative? Zwar sind diese Maßnahmen ein Schritt in die richtige Richtung, eine wirkliche Lösung sind sie jedoch nicht. Alternativen? Sicher, eine wirkliche Alternative hier drinnen wie auch draußen wäre es z.B., die Legalisierung der Abgabe von allen Grundsubstanzen und deren Abgabe unter staatlicher Kontrolle zu erreichen. Damit wäre zugleich die Entkriminalisierung von Abhängigen erreicht, und nur auf diesem Wege dürfte das Problem in den Griff bekommen zu sein. Außerdem ist natürlich klar, daß Drogenabhängigkeit wie anderes auch ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, als solches auch erkannt und letztlich gelöst werden muß. Mit dem Einsperren von Abhängigen in den Knast wird gar nichts gelöst, sondern die Probleme nur verlagert.

Wie zu hören war, wurde die Freizeitabteilung in der hiesigen Anstalt vom Leiter des Strafvollzugsamtes, Herrn Raben, liquidiert. Was bedeutet das für Euch, und wie beurteilt Ihr diese Maßnahme? Angesichts der Tatsache, daß die Freizeitabteilung in Anstalt 2 das einzige erfolgreich arbeitende Betreuungsprojekt für Insassen im Hamburger Strafvollzug ist, ist es uns unerklärlich, wieso die Justizbehörde dieses Vorzeigeprojekt des Hamburger Strafvollzuges dem "Sicherheits- und Ordnungs-Gedanken" geopfert hat. Daß die Gestaltung des Freizeitbereiches bei zu langen, zu lebenslangen Freiheitsstrafen Verurteilten besonders wichtig ist, um Druck, Frust und Verzweiflung auf konstruktive Weise abzubauen, müßte eigentlich jedem einleuchten. Nicht so Herrn Raben, von dem diese Entscheidung stammt. Der daraus entstehende Schaden ist unübersehbar.

Welche Aufgaben hatte denn die Freizeitabteilung im einzelnen? Die Betreuung aller ehrenamtlichen, externen Helfer, die Betreuung von Gesprächsgruppen (derzeit 14 Gesprächsgruppen mit etwa 80 freien Helfern), von Gruppenangeboten (z.B. Malen und Zeichnen, Computer-Workshop, Deutsch als Fremdsprache), therapeutische Angebote sind außerdem Drogenberatung, alkoholfreie Selbsthilfe, anonyme Alkoholiker sowie Partnergruppe. Unter den Einzelaktivitäten wäre zu nennen das Kulturteam, der Blickpunkt sowie die Betreuung der Anstaltsbücherei. Man kann sagen, alle Aktivitäten im Freizeitbereich sind über diese Abteilung organisiert worden, und mit der Zerschlagung der Abteilung steht in den Sternen, was aus den Angeboten wird.

Seit einigen Monaten hat die Anstalt eine neue Anstaltsleitung. Viele Gefangene beklagen seitdem eine Verschlechterung. Was hat sich für Euch durch den Wechsel der Anstaltsleitung verändert, und seht Ihr das auch so?l Festzuhalten bleibt, daß der neue Anstaltsleiter, Herr Poenighausen, in seinem Editorial für den Blickpunkt selbst zugegeben hat, daß es Verschlechterungen gegeben hat. Das sehen wir auch so.

Wie wirkt sich das konkret auf Eure Arbeit aus? Wir wollen es einmal so ausdrücken: Von 22 Punkten, die die Insassenvertretung mit der neuen Anstaltsleitung besprochen hat, wurden zwei inzwischen abgelehnt, die restlichen 20 befinden sich "noch in der Prüfung". Uns beschäftigt in diesem Zusammenhang die Frage, ob Herr Poenighausen, als er sein Amt übernahm, seitens des Vollzugsamtes klare Vorgaben hatte, den "Sicherheits- und Ordnungs-Gedanken" zu forcieren. Oder ob dies eher auf eine Unsicherheit bei der Bewältigung der sicher nicht einfachen Aufgabe zurückzuführen ist. Die Entscheidung zum Freizeitbereich (s.o.) läßt allerdings befürchten, daß es sich eher um vollzugspolitische Vorgaben handelt. Es mag natürlich auch sein, daß Herr Poenighausen nur versucht, die Schlagzeile der Bildzeitung anläßlich seiner Amtsübernahme ("Herr Poenighausen, räumen Sie auf") faktisch umzusetzen. Vielen Dank für das Gespräch. (Das Gespräch führte Jens Stuhlmann.)

Strafvollzug in Hamburg

Justizpolitik auf dem

Rücken der Gefangenen

Wer, so fragt man sich, leitet die Strafvollzugsbehörde? Wer gibt die Richtlinien vor, bestimmt den Kurs? Justizsenator Klaus Hardraht, parteilos, oder sein Verwaltungsapparat, der den liberalen Ankündigungen des Senators Taten folgen läßt, die in eine ganz andere Richtung zielen? Da kündigt der Senator an, künftig für drogenabhängige Gefangene den Spritzentausch auch im Knast ermöglichen zu wollen. Noch hat er nicht ausgesprochen, formiert sich der Protest, kündigt die Mehrheit der organisierten Beamtenschaft Widerstand und Boykott an. Da kritisiert der Senator, wenn auch zunächst zaghaft, das Vorgehen beim sogenannten Abhörskandal, um dann erfahren zu müssen, daß dabei auch Gespräche seines eigenen Behördensprechers abgehört und deren Protokolle rechtswidrig weitergegeben wurden. Da spricht sich Senator Hardraht für "Fortführung des liberalen Strafvollzuges" aus, während sein Apparat zugleich an dessen möglichst restloser Zerschlagung arbeitet. Unmögliche und z.T. menschenverachtende Zustände in der Untersuchungshaftanstalt und bei den Abschiebegefangenen, überfüllte Haftanstalten, kaum noch Betreuungspersonal wie Sozialarbeiter und Psychologen. Und im einstigen Vorzeigeknast "Santa Fu" fragen sich die Gefangenen inzwischen, ob der neue Anstaltsleiter Poenighausen sein Amt vor Monaten als Vollstrecker für die Fraktion derer antrat, die Strafvollzug nur unter der Überschrift "Sicherheit und Ordnung" begreifen. Immer neue Einschränkungen und Verschlechterungen für die Gefangenen, das stetige Zurückdrehen erkämpfter "Liberalität", die Zeiten, in denen sich Hamburger Justizsenatoren eines "humanen Behandlungsvollzuges" rühmten, scheinen endgültig vorbei. Selbst vor gravierenden Eingriffen schreckt man nicht mehr zurück, so wurde jetzt durch den Leiter des Strafvollzugsamtes die Freizeitabteilung "Santa Fu" aufgelöst, deren Leiterin versetzt, ohne daß sie einen neuen Arbeitsbereich zugewiesen bekam. Sie wurde nicht etwa anderswo gebraucht, es ging schlichtweg um die Zerschlagung der Abteilung, damit gewollte Einschränkungen und Liquidation in einem Bereich, der für die Gefangenen äußerst wichtig ist (siehe Interview mit dem Insassensprecher). Und alles deutet darauf hin, daß dies nicht die letzte Maßnahme war auf dem Wege zu einem Vollzug, bei dem "Sicherheit und Ordnung" über allem steht. Da nehmen sich die Sprechblasen eines Senators aus wie das Deckmäntelchen von Pseudoliberalität, das über die massiven Rückschritte gebreitet werden soll. Denn wüßte ein Senator nicht, was in seinem Verantwortungsbereich de facto geschieht, so wäre er unfähig, damit aber überflüssig. Weiß er es aber und macht gute Miene zum bösen Spiel, handelte es sich dabei um Heuchelei, was noch schlimmer wäre. Die Erinnerung an einen Hamburger Innensenator, der mit seinem Apparat nicht klar kam, sich nicht durchsetzen konnte und wollte, dann schließlich zurücktrat, ist noch frisch. Wo also geht es hin, Herr Senator Hardraht, welcher Strafvollzug soll in Hamburg praktiziert werden? Lassen Sie Ihren liberalen Worten entsprechende Taten folgen. Und was Ihren Apparat angeht: Räumen Sie auf. Wenn das nicht möglich ist, sollten Sie möglichst bald dem Beispiel des Ex-Innensenators Hackmann folgen, zumindest weiß man dann, was Sache ist. Und wer braucht schon einen Senator als Gallionsfigur. Jens Stuhlmann

Bericht vom europäischen Aktionstag für die Gleichstellung und gegen die Diskriminierung behinderter Menschen am 5.5. in Hamburg

Von einer bedarfsgerechten Pflegeabsicherung ist keine Rede

Rund 400 behinderte und nichtbehinderte Menschen beteiligten sich in Hamburg an einer Demonstration anläßlich des Aktionstages für die Gleichstellung und gegen die Diskriminierung behinderter Menschen. Dieser Aktionstag wird seit vier Jahren immer am 5. Mai europaweit von einem breiten Bündnis vieler Behindertenorganisationen durchgeführt. Ein wichtiger aktueller Anlaß war in diesem Jahr der Protest gegen die Auswirkungen der neuen Pflegeversicherung. Wir veröffentlichen hier den dazu gehaltenen Redebeitrag von Gerlef Gleiss, Mitarbeiter der "Beratungsstelle für behinderte Menschen" von Autonom Leben e.V.

Jetzt haben wir sie - die neue Pflegeversicherung. Und mit ihr fast nur Érger, Durcheinander, Ungewißheit, Angst und Verzweiflung. Aber wir haben immer noch keine bedarfsgerechte Assistenz! Der Medizinische Dienst erweist sich in diesen Tagen als genau das, was wir befürchtet haben: als inkompetent, unverschämt und unmenschlich. Entweder kommen seine Gutachter ohne Vorwissen und ohne jegliche Unterlagen ins Haus und entscheiden rigide und willkürlich nach dem Motto: im Zweifelsfalle gegen den pflegebedürftigen Menschen. Oder sie kommen mit einem riesigen Haufen Unterlagen - und haben trotzdem keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen. Jeder dritte Antrag auf Pflegebedürftigkeit wird abgelehnt. Rund die Hälfte der Anträge an die Pflegekassen ist immer noch unerledigt. Habt bloß nicht das Pech, in diesen Wochen neu pflegebedürftig zu werden. Ihr fallt zwischen alle Stühle! Die Pflegekassen bearbeiten euren Antrag nicht, weil sie noch nicht einmal mit den Anträgen der bisher Pflegebedürftigen zu Potte kommen. Und die Sozialämter weigern sich, ohne Gutachten des Medizinischen Dienstes in Vorleistung zu treten. Das heißt, der oder die Betroffene muß zur Zeit Monate auf die benötigte Pflege und das Pflegegeld warten. Aber welcher hilfebenötigende Mensch kann so lange warten? Aber auch diejenigen, die bisher schon Pflegeleistungen vom Sozialamt bekommen haben, sind nicht viel besser dran. Sie wissen immer noch nicht, ob überhaupt, im welchen Umfang und wie lange noch das Sozialamt zahlt. Die Entscheidungen der einzelnen Sozialämter sind völlig willkürlich. Das eine stellt alle Zahlungen ein, das andere kürzt das Pflegegeld, das dritte zahlt wie bisher weiter und wartet die Entscheidung des Medizinischen Dienstes ab. Die Unwissenheit, die Éngste und Sorgen der pflegebedürftigen Menschen werden brutal zur Kostenreduzierung ausgenutzt! Und diese Unwissenheit herrscht überall! Die Sozialstationen und die privaten Pflegedienste wissen nicht, ob sie von den Pflegekassen als Vertragspartner anerkannt werden und überhaupt noch häusliche Hilfe anbieten können oder ob sie ihr Personal entlassen müssen. Die Pflegedienste, Tagesförderstätten oder Behindertenwerkstätten wissen nicht, wie sie in Zukunft mit den Pflegekassen abrechnen müssen. Und die von uns, die bisher ihre persönliche Assistenz unabhängig organisiert haben, wissen überhaupt nicht, wie es in Zukunft damit weitergeht. "Das Gesetz hat so viele Lücken - das muß wohl erst bis zum Bundessozialgericht durchgeklagt werden, um es rund zu machen," zitiert die Hamburger Morgenpost einen von diesen Oberzynikern aus dem Vorstand einer Pflegekasse. Wieviel Leid wird bis dahin unter den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen angerichtet sein? Wieviele werden bis dahin wegen fehlender Assistenz gestorben sein? Das Gesetz hat aber nicht nur Lücken, in die jetzt reihenweise Betroffene hineinfallen - mit teilweise schrecklichen sozialen Folgen. Das Gesetz ist einfach Schrott! Es hat zwei grundlegende Konstruktionsfehler: -Die Eingangsvoraussetzungen, um überhaupt Leistungen der Pflegekassen zu erhalten, sind so hoch, daß gut 40% der Pflegebedürftigen keinerlei Leistungen bekommen; -Die von den Pflegekassen höchstens zu zahlenden Geldbeträge reichen noch nicht einmal dafür aus, den Umfang an ambulanter Hilfe zu bezahlen, der vom Gesetz vorgeschrieben wird, um leistungsberechtigt zu werden. Von einer bedarfsgerechten Pflegeabsicherung kann also überhaupt nicht die Rede sein. Die meisten Pflegebedürftigen sind nach wie vor auf Leistungen anderer Kostenträger - in erster Linie das Sozialamt - angewiesen. Die Pflegeversicherung ist nur eine teure Teilkasko-Versicherung und eine gewaltige Aufblähung der Sozialbürokratie. Das Gesetz ist obendrein ausländerfeindlich. Die Pflegekassen zahlen ausdrücklich nur in Deutschland. Ausländische Arbeitnehmer, die sich hier kaputtschuften und jahrelang Beiträge an die Pflegeversicherung bezahlen, bekommen, wenn sie als Pflegebedürftige in ihre Heimat zurückkehren, keinen Pfennig von den Pflegekassen. Das Gesetz ist ein Anschlag auf die Selbstbestimmung behinderter Menschen und bedeutet einen großen Rückschlag in deren soziale Integration. Mit einem bürokratisch-gesetzgeberischen Gewaltakt werden sie wieder zu "Kranken". In Zukunft entscheidet allein der "Medizinische Dienst" der Krankenkassen darüber, wer und was als hilfebedürftig gilt. Dort sitzen Érzte und andere "Gesundheitsexperten", die mit ihrem medizinischen Blick nur das von der herrschenden Norm Abweichende als "defizitär" und "krank" sehen und den ganzen Menschen und soziale Aspekte von Behinderung und Pflegeabhängigkeit aus den Augen verlieren. Und das in einer Zeit, in der ohnehin ein biologistisches Welt- und Menschenbild wieder Hochkonjunktur hat und in der immer verstärkter medizinische Lösungen für soziale Probleme durch Wissenschaftler, Medien und Politiker gefordert, gesucht und durchgeführt werden. Zum Schluß bleibt mir nur der Rat an alle: Gebt euch nicht mit den rigiden, oft willkürlichen Entscheidungen des Medizinischen Dienstes einfach zufrieden! Laßt euch von anderen Betroffenen beraten! Legt Widerspruch ein! Klagt notfalls vor dem Sozialgericht gegen die Pflegekassen! Das ist kostenlos, und Ihr braucht in den ersten beiden Instanzen keinen Anwalt. Auch wer keine Leistungen von den Pflegekassen bekommt, kann einen Anspruch auf Pflegeleistungen vom Sozialamt haben. Wenn Ihr schon bisher Pflegeleistungen vom Sozialamt oder von den Krankenkassen bekommen habt, dann akzeptiert keinen Bescheid vom Sozialamt, der zur Folge hat, daß Ihr jetzt von der Pflegekasse und dem Sozialamt zusammen weniger erhaltet als bisher! Legt Widerspruch ein! Klagt notfalls vor dem Verwaltungsgericht gegen das Sozialamt! Das ist ebenfalls kostenlos und geht ohne Anwalt. Es gibt ein Rundschreiben vom Bonner Gesundheitsministerium an alle Sozialhilfeträger, das klarstellt, daß für alle, die bisher Pflegeleistungen erhalten haben, eine Besitzstandswahrung gilt. Niemand darf nach dem neuen Gesetz weniger erhalten als bisher! Setzen wir wenigstens das durch!

TIPS & TERMINE

FREITAG, 12. MAI

6.8.45 - Der Tag des Atom bombenabwurfes auf Hiroshima Erinnerungen eines Augenzeugen 50 Jahre danach. Vortrag von Dr. Shuntaro Hida (Tokyo) mit anschließender Diskussion. Der 1917 geborene Shuntaro Hida, der nach einem Medizinstudium 1942 zur japanischen Armee eingezogen wurde, erlebte als Militärarzt den ersten Atombombenabwurf. Durch einen glücklichen Zufall entrann er selbst der Atombombe, dem von ihr ausgelösten Feuersturm und dem radioaktiven "Fallout". Bei seinem Hilfseinsatz in der zerstörten Stadt war aber auch er der Radioaktivität ausgesetzt. In einem notdürftig eingerichteten Lazarett versuchte Shuntaro Hida - oftmals vergeblich -, die Not der Atombombenopfer zu lindern. Im Nachkriegsjapan arbeitete Dr. Hida als Facharzt für Innere Medizin. Er engagierte sich in Gewerkschaft und Politik, und als einer der wenigen setzte er sich kritisch mit der Geschichte des japanischen Militarismus auseinander. Bis heute kämpft der langjährige Direktor der "Japanischen Vereinigung der Organisationen der Opfer der Atom- und Wasserstoffbomben" gegen die Atomrüstung und die neue japanische Aufrüstungspolitik. Seine Erinnerungen sind 1989 als Buch in deutscher Sprache unter dem Titel Der Tag, an dem Hiroshima verschwand verlegt worden (Donat-Verlag Bremen). Eine Veranstaltung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme 19.30 Uhr, Museum für Hamburgische Geschichte, Holstenwall 24, 20355 Hamburg (Kleiner Hörsaal)

Senden gegen Rechts Offener Kanal Hamburg. 19.00 bis 20.00 Uhr, Kabelkanal 02

Film: These Hands Tansania 1992, Dokumentarfilm Der Film schildert das Tagewerk einer Frauenkooperative in einem Steinbruch in Tansania. Frauen, die zum Teil aus ihrer Heimat flüchten mußten und in Tansania im Exil leben, zerkleinern gemeinsam Steine, eine harte, monotone Arbeit. Doch die Kraft, die die Frauen für das gemeinsame Werk aufbringen, wird zum Symbol für die Stärke von Frauen sowie für die immer noch unterbewertete Frauenarbeit überhaupt. Info: Demokratisierung in Tansania Referent: Dr. Namjajeje Wegoro, Tansania, George Lwaboa, Hamburg. Die Veranstaltung findet in englisch/deutsch statt. Kostenbeitrag 5,- DM 19.30 Uhr, Werkstatt 3, Nernstweg 32

11.-17. MAI

Film: Ernesto Che Guevara Das bolivianische Tagebuch. Schweiz/Bolivien 1994. Im Oktober 1976 geht die Nachricht durch die Welt, daß der legendäre Guerillero Ernesto Che Guevara in Bolivien ums Leben gekommen ist. Die bolivianische Armee behauptet, der Che sei im Kampf gefallen, und präsentiert der Öffentlichkeit ein Tagebuch, das er während der elf Monate der Guerilla geschrieben hat. Von der mysteriösen Abreise aus Cuba über die Ankunft in La Paz, die Weiterreise in das Gebiet des Nacahuazu-Flusses, dem Beginn der Guerilla, den Kämpfen mit der Armee, den ersten gefallenen Kameraden, über den Hunger, den Durst, die Krankheiten, das Ausbleiben der Unterstützung durch die Landbevölkerung, den Verrat, die Ermordung. 50 Männer und Frauen, am Ende nur noch 17, haben gegen die Übermacht einer von den Amerikanern finanzierten und unterstützten bolivianischen Armee gekämpft und versucht, ihr Ideal der sozialen Gerechtigkeit mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. 20.30 Uhr, Kino 3001, Schanzenstr.

Gegen das Nazizentrum "Heideheim" in Hetendorf Informations- und Mobilisierungsveranstaltung, Planung des Antifa- Pfingstcamps 19.30 Uhr, Antifacafe, Chemnitzstr. 3-7

SONNTAG, 14. MAI

Fahrradrundfahrt zu den Städten von Verfolgung und Widerstand auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Begleitung: Herbert Diercks. Veranstalterin: Willi-Bredel-Gesellschaft. 10.00 Uhr, S-Bahn Ohlsdorf

Film: Stern ohne Himmel BRD 1986. - Kinder zwischen Menschlichkeit und Terror. 15.00 Uhr, KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Jean-Dolidier-Weg

Die andere Hafenrundfahrt KZ-Außenlager, Stätten von Widerstand und Verfolgung im Hafen. Begleitung: Herbert Diercks und Michael Grill. Kosten: DM 10,- . Anmeldung: Landesjugendring, Tel. 3195345. 15.00 Uhr, Anleger Vorsetzen, U-Baumwall

DIENSTAG, 16. MAI

Vom Bückel zum Surfbrett - Fabrikumnutzungen in Ottensen Noch bis in die 70er Jahre wurde Ottensens Stadtbild geprägt durch die zahlreichen produzierenden Fabriken. Viele wurden abgerissen, einige auch modernisiert, umgebaut, mit neuem Leben erfüllt. Ganz unterschiedliche Nutzer und Nutzungskonzepte führen wir auf dieser Spurensuche hinter alte und neue Fassaden vor Augen. Mit Anne Frühauf, Pädagogin, Marlies Schirmer, Historikerin. Kostenbeitrag: DM 6,16.30 bis 18.30 Uhr, Stadtteilarchiv Ottensen, Zeißstr. 28

Atommacht Deutschland? "Die europäische Option der Deutschen", "Nukleare Teilhabe der Bundeswehr". Wem nützt die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages? Vortrag: Dr. Matthias Küntzel, Politologe und Autor des Buches Bonn und die Bombe. Moderation: Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler 19.30 Uhr, Curio-Haus, Hinterhaus Raum A, Rothenbaumchaussee

Zur Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag Veranstaltung der MASCH mit Prof. Frank Deppe. In den gesellschaftspolitischen Debatten der 90er Jahre mehren sich die Hinweise auf die Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsvertrages. Genannt seien nur die Erklärung "Solidarität am Standort Deutschland" von 135 Sozial- und WirtschaftswissenschaftlerInnen oder die Debatten in der PDS um Gysis "Ingolstädter Manifest" und die "10 Thesen". Die lange stabile Periode der kapitalistischen Industriegesellschaft existierte aufgrund der Kohärenz zwischen wirtschaftlicher Prosperität und sozial-staatlicher Steuerung sowie zugleich dem überwiegenden Konsens der gesellschaftlichen Interessengruppen (Klassenkompromiß). Gegenwärtig erleben wir den Legitimationsverlust der Normen und Institutionen, die bisher für die Regulierung verantwortlich waren. Die weltweite ökonomische Krise verstärkt diesen Prozeß. Der Politologe F. Deppe skizziert seine Position zur Debatte sowie die Eckpunkte, die einen neuen Gesellschaftsvertrag ausmachen müßten. 19.00 Uhr, Philturm, Hörsaal E

DONNERSTAG, 18. MAI

Arno Lustiger stellt vor: Grossman/Ehrenburg: Das Schwarzbuch Im Gefolge und unter Mitwirkung der deutschen Wehrmacht wurde nach dem Überfall auf die Sowjetunion die jüdische Bevölkerung systematisch ausgerottet. Noch während die Krematorien brannten, wurde in Moskau ein Antifaschistisches Jüdisches Komitee gebildet, das die Verbrechen dokumentieren und der zivilisierten Welt vor Augen führen sollte. Zahlreiche jüdische Intellektuelle stellten sich zur Verfügung, sammelten Berichte von Augenzeugen und Überlebenden. Grossman und Ehrenburg faßten die Dokumente zu einem Schwarzbuch zusammen. Infolge der stalinistischen Pogromstimmung gegenüber jüdischen Intellektuellen konnte das Schwarzbuch jedoch seinerzeit nicht erscheinen. Es galt als verschollen. Arno Lustiger stellt die deutsche Übertragung des von den - dokumentierten - stalinistischen Zensureingriffen bereinigten Urtextes vor. 19.30 Uhr, Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstr. 1

Kinder und Jugendliche in Hamburger Konzentrationslagern Vortrag mit Dias von Michael Grill. 19.00 Uhr, Kulturpalast Billstedt, Öjendorfer Weg 30a

Film: In den Hügeln von Ruanda- Marguerite Deutschland 1992, Dokumentarfilm. Der Film schildert das Leben und die Arbeit von Marguerite Niyonambaza und welche wichtige Rolle die Frauengemeinschaft im alltäglichen Leben spielt. Info: Demokratisierung und Bürgerkrieg in Ruanda-Burundi Referent: Andreas Mehler, Institut für Afrikakunde HH. Die Veranstaltung findet in deutsch/französisch statt. Beitrag: DM 5,00 19.30 Uhr, Werkstatt 3, Nernstweg 32

Was ist die arbeitende Klasse? Welches Geschlecht hat sie? Und welche Hautfarbe? Wie muß linke Politik heute aussehen, wenn sie die Befreiung aller Menschen aus jeglichen Unterdrükkungsverhältnissen durchsetzen will? Die marxistische Theorie ist unverzichtbar zur Analyse kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse. Allerdings ist die Klassenanalyse in der bestehenden Form unzulänglich, da sie patriarchales und (weißes) eurozentristisches Denken impliziert. Die materielle Gewalt von Ideologien wie Rassismus und Patriarchat ist allzu sichtbar, gehört aber bei einem nicht unerheblichen Teil der Linken immer noch zum sog. "Nebenwiderspruch". Wie sehr solche Ausblendungen emanzipatorische linke Politik behindern, soll in diesem Arbeitsgespräch anhand eines Papiers diskutiert werden, das gegen Einsendung von 4 DM in Briefmarken bei der MASCH angefordert werden kann. Gemeinsames Arbeitsgespräch von MASCH und LISA-Frauen (LISA ist die feminsitische AG der PDS). Moderation: Gudrun Aßmann. 20.00 Uhr, Ort wird bei Anmeldung (4106387) mitgeteilt.

FREITAG, 19. MAI

Die Hochschul-Antifa feiert und zwar ihr 51/2jähriges Bestehen. Alle AntifaschistInnen sind eingeladen, vor allem die "Ehemaligen". Ab 21.00 Uhr, HWP, Cafe Knallhart

SAMSTAG, 20. MAI

SSFührer und Wachmannschaften im KZ Neuengamme Führung durch die Ausstellung und kommentierter Rundgang über das Gelände, von Karin Orth 15.00 Uhr, KZ-Gedenkstätte Neuengamme

"Wir mußten doch raus aus Deutschland, das war doch die Hauptsache!" Stationen des Abschieds von Hamburg 1933 bis 1939. Rundgänge zu den "Stolpersteinen" nach der Entscheidung zur Auswanderung, die den jüdischen Familien in den Weg gelegt wurden. Teilnahmegebühr 5,00 DM. Leitung: Regine Kimmel 15.00 Uhr, Treffpunkt: Alsterufer Leinpfad 65

1945: besiegt oder befreit? 1995: wohin marschiert Deutschland? Ein Streitgespräch zwischen Menschen aus zwei Generationen. 19.00 Uhr, Die Neue Gesellschaft, Rothenbaumchaussee 19

DIENSTAG, 23. MAI

Rundgang: Frauenleben - Frauenspuren Eine Entdeckungsreise zur Frauengeschichte in Ottensen. Kinder, Küche, Politik und was sonst noch im Leben von Frauen vorkam und sich heute ereignet, wird auf diesem Streifzug durch Ottensen anschaulich. Von Hebammen, Kellnerinnen, Dienstmädchen, Fischarbeiterinnen, alleinerziehenden Müttern wird die Rede sein, ebenso wie von den Ideen der alten und neuen Frauenbewegung und ihren Auswirkungen auf den Alltag. Mit Birgit Gewehr, Historikerin, Kathrin Offen-Löckner, Sozialwissenschaftlerin. Beitrag: DM 6,16.30 bis 18.30 Uhr, Treffpunkt: Stadtteilarchiv Ottensen, Zeißstr. 28

MITTWOCH, 24. MAI

Soziale Grundsicherung Vortrag und Diskussion. Eine Veranstaltung der PDS Wandsbek. Referentin: S. Lambrecht 19.30 Uhr, BRAKULA, Bramfelder Chaussee 265

Demokratisierung, schlanker Staat = Beamte, Angestellte Der 48seitige Reader, erstellt von der AG Bildungspolitik beim Parteivorstand der PDS, ist gegen einen Kostenbeitrag von DM 4,00 plus Porto DM 1,50 zu bestellen bei: PDS/LL, Palmaille 24, 22767 Hamburg, Fax 3898331. Bezahlung entweder durch beigelegte Briefmarken oder gegen Rechnung.

Veranstaltung zur geschichtsrevisionistischen Kampagne

Reorganisation des Deutschtums

gefährlich weit gediehen

Welche aktuellen Absichten verfolgt die geschichtsrevisionistische Aufarbeitung des zweiten Weltkrieges und seines Endes vor 50 Jahren? Wie wird der neue Expansionismus, der durch den Zerfall des Realsozialismus einen großen Schub erfahren hat, durch die sozialen und politischen Verhältnisse der deutschen Gesellschaft befördert? Was kann man ihm entgegensetzen? - Im folgenden soll versucht werden, Referat (Martin Fochler) und Diskussion einer Veranstaltung der AG BWK in und bei der PDS/Linke Liste Hamburg zusammenzufassen.

Umdeutung des Expansionskrieges im Osten Die auf Umdeutung des Expansionskrieges im Osten gerichtete Kampagne zum 8. Mai, politisch gestützt von der äußersten Rechten, legt das Gewicht auf die Schlußphase des Krieges und die Kriegsfolgen (sog. Racheaktionen der Roten Armee, Flucht, Vertreibung, Grenzziehung). Hiergegen wäre zu halten: Deutschland führte im Osten einen hartnäckigen und durch besondere Grausamkeit gekennzeichneten Verzögerungskrieg (Kriegführung der "verbrannten Erde"), der die Nachschublinien der Roten Armee nachhaltigst schwächen sollte und bis zuletzt durch die Hoffnung genährt wurde, die Anti-Hitler-Koalition könne dadurch zum Auseinanderbrechen gebracht werden. Mit dem Rückzug der Wehrmacht flutete eine große Anzahl von Menschen zurück, die Verwaltungsstäbe der Nazis aus den besetzten Gebieten, aber auch sog. Hilfswillige, die auf seiten Deutschlands gekämpft oder für sie gearbeitet hatten. - In den großen Konzentrationslagern im Osten lief die Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren. Die Nazis waren wild entschlossen, möglichst viele ihrer Gegner, Opfer und Zeugen ihrer Untaten umzubringen. Neben den Lagern gab es eine große Zahl von Kriegsgefangenen und verschleppten Zwangsarbeitern, vielfach schwer mißhandelt, die mit dem Vormarsch der Roten Armee freikommen würden. Vor der Befreiung standen auch die zu Menschen zweiter Klasse degradierten oder zu "Untermenschen" gestempelten nicht-deutschen Einwohner in den damaligen Ostgebieten des großdeutschen Reiches. Als nun die Ostfront unaufhörlich in Richtung Westen gedrückt wurde, schlug das mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage aufkeimende Unrechtsbewußtsein bei den Deutschen in den Ostgebieten um in eine wahnsinnige Angst "vor den Russen" und in Folge in eine Fluchtbewegung, die Millionen erfaßte. Dabei spielte die Goebbelsche Propaganda, die das Unrechtsbewußtsein zur Mobilisierung eines fanatischen Kriegswillens zu mobilisieren versuchte, keine kleine Rolle. Sie ist in gewisser Weise bis heute erfolgreich, denn ihr Deutungsmuster der Besetzung durch die Rote Armee als Vergewaltigung des deutschen Volkes und Schändung seiner - unschuldigen - Frauen hat sich bis heute gehalten: Die Ereignisse der Niederlage einer verbissen kämpfenden und mordenden Kolonialistenclique sind im Bewußtseinsbild verarbeitet vom "Russen", von "mongolischen Horden", von der "Gefahr aus dem Osten", das die deutsche Nachkriegskultur mitgeprägt hat. Die Fluchtbewegung der deutschen Siedler erfährt ihre historische Ergänzung durch die Vertreibung, die Verlegung der Ostgrenzen Deutschlands nach Westen und die Rückgabe kolonisierter Gebiete an die Kolonisierten. Nachdem die deutschen Minderheiten im Osten in starkem Maße mit einem Feind paktiert hatten, der die Ausrottung der Nicht-Deutschen beabsichtigt und betrieben hatte, gab es die Möglichkeit weiteren Zusammenlebens nicht mehr. Die Aussiedlung war für die gequälten Völker in Ost- und Südosteuropa der einzig gangbare Weg zur Friedensstiftung mit den neuen deutschen Staatsgebilden.

Delegitimierung des Deutschtums Die seit Jahrhunderten, seit den Ausrottungsfeldzügen gegen die Pruzzen und der Ostkolonisation der Ritterorden, in Deutschland tief verwurzelte Vorstellung, es bestehe zum Osten hin ein Kultur- und Zivilisationsgefälle, hat durch Faschismus und Niederlage einen erheblichen Schlag erhalten: zum einen durch die Erfahrung Barbarei des hochtechnisierten, verwalteten und organisierten Mordens. Zum anderen brach das Gefühl technisch-wissenschaftlicher Überlegenheit zusammen unter den Schlägen der Sowjetunion, die sich zu wehren wußte. Diese Delegitimierung des Deutschtums traf die herrschende Klasse. Sie war eines ihrer wesentlichen Mittel, die öffentliche Meinung mit den Interessen der Herrschaft zu verknüpfen und den Anspruch auf Expansion geltend zu machen, zwar nicht gänzlich beraubt, in seiner Anwendung aber doch geschwächt. - Wie in der Diskussion festgestellt wurde, hat sie von den Tagen der Niederlage an versucht, das alte deutsche Überlegenheitsgefühl, das, wie gesagt, sehr tief verwurzelt ist, neu zu mobilisieren; erinnert wurde z.B. an Plakate aus der Adenauer- Éra, die die Losung von der "Gefahr aus dem Osten" mit dem Propagandabild des russischen Barbaren verknüpften. Doch die Erfahrung der jüngsten Zeit, in der die Vorstellung von der Überlegenheit des deutschen Wesens wieder zum festen Tatbestand des öffentlichen Bewußtseins geworden ist, macht deutlich, wie schwer es über Jahrzehnte angeschlagen war.

Reorganisation des Deutschtums Der äußere Anlaß für die machtvolle Erweckung der alten Idee deutscher Überlegenheit ist der Zerfall des realen Sozialismus. Doch die Verhältnisse, die den Ungeist produzieren, haben sich in der langen Phase der Nachkriegszeit herausgebildet. Hier ist wesentlich zu nennen, daß die Sozialordnung der BRD rassistisch ist. Anders als im Faschismus, als mit den Nürnberger Rassengesetzen die Juden aus ihren beruflichen Positionen entfernt wurden, wirken in der Nachkriegs-BRD im wesentlichen die sozialen Mechanismen als Ausschließungsmechanismen. Für die schwere und schlechtbezahlte Arbeit werden Ausländer angewandt, die unter Sondergesetzen stehen. Egal, welche Anstrengungen diese auch unternehmen: Für leitende Tätigkeiten ist Zugehörigkeit oder wenigstens aktives Bekenntnis zum Deutschtum Voraussetzung, und z.B. türkische oder kurdische Vorgesetzte wird man praktisch nirgends finden. So werden auf die soziale Hierarchie kulturelle Eigenschaften gelegt, die dann gesetzlich abgesichert werden. Umgekehrt wirkt das Deutschtum bis zu einem gewissen Grad als Schutzbrief vor dem sozialen Abgrund und als Eintrittskarte wenigstens in erträglichere Lebensformen. Es entsteht eine umfassende Kompromittierung der deutschen Gesellschaft. Das erschwert schon die Wahrnehmung. Es wurde deshalb in der Diskussion Wert darauf gelegt, die These durch sozialstatistische Untersuchungen zu untermauern.

Moralische Grundlegung eines neuen Krieges Diese innere Kolonisierung war in den 80er Jahren deutlich in eine Krise geraten (Stichwort Beförderungsstau). Der Zerfall des realen Sozialismus wirkte wie eine Bombe. Von der Renaissance der alten Idee des Kulturgefälles war bereits die Rede. Gefährlich ist die ideologische Entwicklung vor allem, weil sie alle politischen Richtungen betrifft, auch die Linke, in der abfällige Meinungen über die "Ostler" von den Ostdeutschen bis zu den Russen wegen der Abkehr vom Sozialismus und Hinwendung zum Westen nicht selten sind. Gewaltig waren auch die sozialen Auswirkungen: Die festgefahrene Beförderungssituation wurde aufgelockert, die Unternehmungslustigen sollten ihre Chance erhalten, und diese Chance besteht im Transport der Normen und Werte, die man sie gelehrt hatte, anderswohin, nach Osten. Wirtschaftlich kommt das neue Deutschland an Protektionsgebiete. Es ist auf lange Sicht eine Situation denkbar, in der die sozialen Gegensätze immer stärker parallel zu kulturellen Unterschieden organisiert werden, wobei dem Deutschtum die Bestimmung zu Führung zukäme. In diese Situation fällt die Revision des Geschichtsbildes, und das Besorgniserregende daran liegt nicht so sehr in den extremen Éußerungen, sondern in der Verschiebung der breiten öffentlichen Meinung. Wir erleben die moralische Grundlegung eines neuen Krieges.

Vernichtungskonkurrenz gegen den Osten These ist, daß Krieg als Wirtschaftskrieg schon begonnen hat und daß es in diesem Wirtschaftskrieg um die Vernichtung der inneren Märkte der östlichen Nachbarn geht. Auch die Herausbildung der EWG war von Konkurrenz geprägt, aber der qualitative Unterschied zur gegen Osteuropa gerichteten brutalen Vernichtungskonkurrenz, Voraussetzung für kolonisierende Investitionen, ist erkennbar. Hauptnutznießer ist die BRD, die aufgrund der räumlichen Nähe und alten Verbindungen in der Lage ist, ihren Arbeitsmarkt nach Osten auszuweiten und Zulieferproduktionszweige in die von ihr beherrschte Arbeitsteilung einzugliedern. ("Systemkopf Deutschland") Die Folgen solcher Politik, Verlust der Selbständigkeit und politischen und kulturellen Unabhängigkeit, ungeheure Verschärfung innerer Widersprüche, wurden v.a. in Jugoslawien sichtbar. Es stellt sich, wie in der Diskussion bemerkt wurde, allerdings die Frage, warum die Länder, die der Vernichtungskonkurrenz ausgesetzt sind, in die EU drängen, und ob das der These von der Vernichtungskonkurrenz nicht widerspricht. In jedem Falle sind gründliche Untersuchungen erforderlich. Die Politik der Vernichtungskonkurrenz hätte katastrophale Auswirkungen aber auch nach innen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der sozialen Befriedung, besser Repression. Es entstünden nahezu grenzenlose Chancen für diejenigen, die "leiten, planen, steuern ", weil sie einem "Kulturvolk" angehören. Die Bündnis- und Militärpolitik der BRD hat sich auf das Szenario bereits eingestellt. Der Begriff der "Verteidigung" wurde erweitert von der Verteidigung eines Territoriums und der Unversehrtheit seiner Bewohner zur Verteidigung von Interessen und einer Lebensweise, die auf der Ausbeutung anderer Menschen, Regionen, Länder beruht. Vor allem die BRD treibt die Nato zur Erweiterung nach Osten, zur militärischen Absicherung der neuen Einflußsphäre, und sie betreibt eine Konfliktstrategie gegen Rußland. Am Projekt des Jägers 2000 ist erkennbar, daß sie die militärische Überlegenheit mit aller Macht anstrebt - beim gegenwärtigen Rüstungsstand könnte die Nato nämlich nicht von der Luftüberlegenheit ausgehen, also muß der neue Jäger her.

Bereitschaft zur Auseinandersetzung Die Linke befand sich bereits zu Beginn der Zerteilung Jugoslawiens in der fatalen Lage, daß sie sich mit einer breiten Zustimmung zur deutschen Politik - in Kroatien - auseinandersetzen mußte und nicht die Möglichkeit hatte, sich auf politische Kräfte in Jugoslawien positiv zu beziehen. Es gibt jedoch Anhaltspunkte, daß in anderen Ländern Osteuropas, namentlich Polen und Tschechien, politische Kräfte tätig sind, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Was sind ihre Vorstellungen zur Gestaltung Europas? Welchen Weg gegen das deutsche Expansionsstreben schlagen sie ein? Viele Menschen aus Osteuropa leben inzwischen in der BRD. Hören wir, was sie zu sagen haben? Es ist jedenfalls Ausdruck von Überheblichkeit, wenn wir über die Verhältnisse in den Ländern, die dem deutschen Expansionsstreben ausgesetzt sind, so wenig wissen - und oft genug auch nur wenig wissen wollen. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung ist nur ein erster, aber im Hinblick auf die Bekämpfung deutschen Überheblichkeitsdünkels sehr wichtiger Schritt. Christiane Schneider

Rede beim Ostermarsch 1995

Die BRD ist eine latente Atommacht

Wir dokumentieren die Rede, die Lühr Henken (GAL-Friedens-AG und Hamburger Forum) auf der Kundgebung beim Ostermarsch am 17.4. gehalten hat.

Heute beginnt in New York eine der wichtigsten Verhandlungen dieses Jahres. Die Verhandlungen von 176 Staaten über die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages (abgekürzt NPT), der nach 25 Jahren ausläuft. Es scheint so, daß die Friedensbewegung sich dazu gar nicht äußern brauchte, denn alles scheint bei der Bundesregierung und der Großen Koalition aus CDU, CSU, FDP und SPD in besten Händen. Denn alle fordern - unisono - entsprechend des Nato-Beschlusses eine unendliche Verlängerung des jetzigen Vertrages. Herzlichen Glückwunsch, könnte man sagen. Ja, den Atomwaffensperrvertrag unendlich verlängern, das klingt wirklich gut, oder? Aber, ist denn wirklich alles in Ordnung? Ist die atomare Abrüstung gesichert? Werden die Grundlagen der Produktion des waffenfähigen Plutoniums beseitigt? Nämlich, werden die AKWs weltweit abgeschaltet? Na ja, das wissen wir ja, daß davon nichts der Fall ist. Es ist begrüßenswert, wenn der STARTII-Vertrag im Mai zwischen den USA und Rußland ratifiziert wird und in Aussicht steht, daß bis zum Jahre 2003 die landgestützten Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen beseitigt werden. Das würde zu einer Reduzierung der Zahl der Sprengköpfe auf ein Drittel des jetzigen Standes führen, auf jeweils 3500 Atomsprengköpfe. Über diese Zeit hinaus sollen uns allerdings die Atomwaffen auf U-Booten und an Bombern und die US-amerikanischen taktischen Atomwaffen in Deutschland und Europa erhalten bleiben. Und US- Präsident Clinton hat im September 94 erklärt, daß er über das Jahr 2003 hinaus keine weiteren atomaren Abrüstungsinitiativen plane. Falls er dabei bleibt, ist der Vorwurf des Vertragsbruchs des NPT gerechtfertigt. Denn dessen Artikel VI lautet wörtlich: "Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle." Diesbezügliche Ankündigen der Atomstaatenchefs sind bisher nichts anderes als Lippenbekenntnisse. Die USA und Rußland sind aufgefordert, der STARTII-Ratifikation sofort Verhandlungen über START III folgen zu lassen. Darüber hinaus fordern wir die Staaten auf, unverzüglich einen Zeitplan zu entwickeln, in dem die weltweite vollständige atomare Abrüstung verbindlich festgelegt ist, und einen Modus festzulegen, der eine uneingeschränkte Überprüfung der Einhaltung der Abrüstungsverpflichtungen des NPT ermöglicht. Was ist mit der deutschen Haltung zum Atomwaffensperrvertrag? Die deutsche Atomwaffengeschichte reicht über 50 Jahre zurück. Sie ist bestimmt vom Bestreben sowohl von CDU- also auch von SPD-geführten Bundesregierungen, einer deutschen Nuklearteilhabe und einem Nuklearstatus möglichst nahezukommen. Der Verzicht Adenauers auf Massenvernichtungswaffen 1954 gegenüber der WEU war kein Verzicht auf Besitz und Verfügungsgewalt auf Atomwaffen, sondern lediglich ein ausdrücklicher Verzicht auf ihre Herstellung in Deutschland. Es gab immer wieder öffentliche Éußerungen deutscher Politiker, die damit drohten, den Verzicht zu widerrufen, wenn sich die Bedingungen änderten. Die Adenauer-Regierung hat mit ihrem Atomminister Strauß vehement die atomare deutsche Aufrüstung angestrebt. Genau heute vor 37 Jahren, am 17. April 1958, war der Rathausmarkt in Hamburg voller Menschen - wohl 150000 - im Protest gegen die Atombewaffnung Deutschlands. Der SPD-Bürgermeister Max Brauer hielt damals die Ansprache. Als die ersten Entwürfe des Atomwaffensperrvertrags 1966 an die Öffentlichkeit kamen, hätte die Bundesregierung allen Grund gehabt, sich an die Spitze der Vertragsbefürworter zu stellen, denn einem einseitigen deutschen Verzicht sollte nun der allgemeine und universelle Verzicht folgen. Aber das Gegenteil geschah. Strauß bewertete den Vertrag Anfang 1967 als "ein neues Versailles, und zwar eines von kosmischen Ausmaßen". Adenauer sprach von einem "Morgenthau- Plan im Quadrat". Die Bundesregierung verweigerte unter Kanzler Kiesinger (CDU) 1969 die Unterzeichnung des NPT. Und die CDU/CSU verurteilte einhellig die Unterzeichnung des NPT im selben Jahr durch die neue sozial-liberale Koalition. Bei der Ratifizierung durch den Bundestag 1974 stimmten gar 90 Abgeordnete der CDU/CSU dagegen: darunter die jetzigen Minister Waigel und Spranger. Aber auch die sozial-liberale Regierung hatte Vorbehalte gegen den Atomwaffensperrvertrag: Anläßlich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum NPT fast genau heute vor 20 Jahren erklärte die Bundesregierung, "daß keine Bestimmung des Vertrages so ausgelegt werden kann, als behindere sie die weitere Entwicklung der europäischen Einigung, insbesondere die Schaffung einer Europäischen Union mit entsprechenden Kompetenzen". Das bedeutet und heißt klipp und klar: Die Bundesrepublik Deutschland strebt die Teilhabe an einer europäischen Atomstreitmacht an. Unter diesem Vorbehalt ist die Bundesrepublik Deutschland dem NPT beigetreten. Auch der 2+4-Vertrag von 1990 besagt nichts anderes, sondern im Gegenteil, er bekräftigt diese "europäische Option". Die deutsche und die Weltöffentlichkeit werden darüber im Unklaren gelassen, ja hinters Licht geführt. So stellte sich Bundesaußenminister Kinkel am 16.2.1995 im Bundestag in die Pose des Unschuldlamms. Kinkel sagte: "Wir haben völkerrechtlich ein für allemal und absolut verbindlich erklärt, daß wir auf Massenvernichtungswaffen aller Art verzichten. Das schenkt unserem Appell an andere auch eine besondere Glaubwürdigkeit, und das in doppelter Hinsicht: Wir stehen nämlich als Deutsche nicht im Verdacht, Sonderrechte verteidigen zu wollen. Wir sind Beispiel dafür, daß der Verzicht auf Kernwaffen keinerlei Nachteile bringt." Soweit Kinkel. Diese Scheinheiligkeit des verantwortlichen Ministers ist skandalös. Doch nehmen wir Herrn Kinkel beim Wort: Fordern wir die Aufnahme des Verzichts auf Atomwaffen in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Wer dagegen verstößt, handelt verfassungswidrig. Diese Forderung hat keinen rhetorischen Charakter, sondern dient der Verhinderung konkreter Planungen deutscher Nuklearteilhabe über die sechs vorhandenen deutschen Nato-Tornado-Jagdbomberstaffeln hinaus. Im Zuge der Vorbereitung einer Revision der Maastrichter Verträge der EU, die im vollen Gange sind, geht es um die Ausgestaltung einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik. Die offiziellen Verhandlungen beginnen auf Regierungsebene Ende nächsten Jahres. Es ist von deutschen Wünschen nach einem deutsch- französischen Kerneuropa die Rede und von Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der europäischen Außenpolitik. Unüberhörbar ist die Aussage von Karl Lamers, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, vom 10.3.1991: "Wenn wir eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik schaffen, müssen die nuklearen Waffen einbezogen werden. Und wenn diese Politik wirklich eine gemeinsame ist, dann heißt das natürlich auch, daß die Deutschen ein Mitwirkungsrecht bekommen müssen." In einflußreichen konservativen Kreisen der Bonner Regierungsberatung wird die "Europäisierung des britischen und französischen Nuklearpotentials" seit langem empfohlen. Und wenn Frankreich und Großbritannien nicht dazu bereit wären, wird mit - wörtlich - "Deutschland als Proliferationsherd" gedroht. Nun stellt sich die Frage, wieso kann Deutschland ein Herd für die Verbreitung von Atomwaffen sein? Deutschland hat doch gar keine. Hat es auch wirklich nicht. Aber was ist mit dem Plutoniumlager in Hanau? Die Bundesregierung hat auf eine Anfrage im Bundestag am 2.5. 1994 geantwortet, daß dort 2 Tonnen Plutonium lagern. Und auf die Frage, wie das, was dort lagert, zusammengesetzt ist, also ob waffenfähig oder nicht, geantwortet: "Detaillierte Angaben über Art und Menge der in staatlicher Verwahrung befindlichen Kernbrennstoffe unterliegen aus Sicherheitsgründen der Geheimhaltung." Das Parlament, also die gewählten Repräsentanten der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, erfahren nicht, was dort an hochbrisantem Material lagert. Ist das Demokratie? Greenpeace International sah sich im Januar veranlaßt, die Weltöffentlichkeit darauf hinzuweisen, daß Deutschland eine latente Atommacht sei und über die Fähigkeit verfüge, Massenvernichtungswaffen in kürzester Zeit herzustellen. Deutschland setze den Hanauer Plutoniumvorrat als Druckmittel ein und gefährde so den Atomwaffensperrvertrag. Und es gäbe Hinweise auf Einlagerung von waffenfähigem Material in Hanau. Also alles kein Grund zur Beruhigung! Wir fordern die Bundesregierung auf: +Schluß mit der Geheimniskrämerei um das Plutoniumlager in Hanau +Unterstellung des Inhalts unter das Eigentums- und Verfügungsrecht einer internationalen Behörde. Wir fordern: +ein atomwaffenfreies Deutschland, ein atomwaffenfreies Europa und eine atomwaffenfreie Erde +Atomwaffenverzicht ins Grundgesetz +einen dauerhaften Atomwaffenteststopp +Schluß mit den Planungen für die Atomanlage in Garching

1. Mai 1995

Gute Beteiligung und

unerfreuliche Auseinandersetzungen

Trotz ungünstiger Voraussetzungen (Schulferienbeginn, früher Demoanfang, magere Mobilisierung des DGB) war die Beteiligung an der diesjährigen 1.-Mai- Demo zumindest nicht geringer als im Vorjahr. Verschiedene Schätzungen belaufen sich auf zwischen 6000 und 10000 Menschen. Darunter stellte der Internationale Block erneut mindestens die Hälfte. Am Sozialrevolutionären Block beteiligten sich etwa 300 Autonome, AnarchistInnen u.a. revolutionär Gesinnte; darunter auffällig viele Jugendliche. Der ältere Teil der Szene mußte augenscheinlich seinen Tanz-in-den-Mai-Rausch ausschlafen. Der DGB hatte seinen Schwerpunkt in diesem Jahr auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gerichtet. Leider liefen die bundesweiten Aktionen unter dem unklaren Motto "gehaßt, geliebt, gebraucht - die Arbeit". Wenn schon in den Parolen keine kämpferischen Töne mehr anklingen, wie kann das dann in der gewerkschaftlichen Praxis geschehen? Der Internationale Block verpaßte es dieses Jahr, sich richtig vorzubereiten. So drückte der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD sein merkwürdiges Motto "Befreiung statt Vernichtung durch Arbeit" als Leittransparent des Blockes durch. Mit solch einem Spruch wird die Geschichte des Faschismus als beliebiger Fundus für Parolen mißbraucht. Hinter diesem Leittransparent wollte außer dem Arbeiterbund niemand laufen, weswegen viele Gruppen und Organisationen den Arbeiterbund überholten und dieser hinterhertrotten mußte. Beim Einbiegen des Demozuges in den Stadtpark seilte sich der Großteil des Sozialrevolutionären Blockes dann ab und machte eine eigene Kurzdemo zur S-Bahn Sengelmannstraße. Auseinandersetzungen löste auf der Abschlußkundgebung der Hamburger DGB-Vorsitzende Pumm aus, als er die Entfernung eines TDKP-Transparentes mit Stalin-Kopf verlangte. So etwas dulde der DGB nicht, ein Hitlerbild würde schließlich auch nicht toleriert. (Diese Éußerung ist u.a. ein Gradmesser dafür, wie weit die Totalitarismustheorie - Hitler = Stalin, Faschismus = "Kommunismus" - wieder salonfähig geworden ist.) Dieser Angriff Pumms war nicht so ungeschickt gewählt, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Denn nur wenige sind bereit, Stalin und seine ApologetInnen zu verteidigen. Wir z.B. auch nicht. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß dieser Angriff mittels Stalin auf die ganze radikale Linke zielt. Nach und nach soll diese aus den Mai-Aktionen rausgedrängt werden, und dafür eignet sich ein Angriff auf StalinistInnen besonders gut, da diese isoliert sind. Daneben besteht aber auch noch ein rassistischer Zusammenhang: der >selbstverständlich< deutsche Vorsitzende des DGB erklärt nicht- deutschen TeilnehmerInnen, was sie dürfen und was nicht. Dazu paßt, daß die nicht-deutschen Demo-TeilnehmerInnen, die immerhin locker die Hälfte des Demozuges stellten, auf der Abschlußkundgebung keine Stimme haben. Nach der Pumm-Éußerung jedenfalls stürmten AnhängerInnen von TDKP die Bühne und lieferten sich ca. 15 Minuten Rangeleien mit den OrdnerInnen. Die Stimmung im Publikum war überwiegend gegen TDKP gerichtet. Wie gesagt, Pumm hatte seine Attacke geschickt gewählt. Den Rest der Pumm-Rede gab es Streit um eine kleine Gruppe, die nun wieder mit ihrem Transparent (mit Stalin drauf) vor der Bühne stand und allen die Sicht versperrte. Mit Händen und Füßen verteidigten sie sich gegen die OrdnerInnen. Unterdessen kam es unter einzelnen deutschen TeilnehmerInnen zu Éußerungen, die bedauerten, daß "die Türken überhaupt keine Angst vor Abschiebungen haben" müßten. Auch diesen "Diskurs" haben wir Pumm zu verdanken. Pumm erhielt für seine nichtssagende Rede großen Beifall, offenbar weil viele damit Stellung in den vorangegangenen Auseinandersetzungen beziehen wollten. Erwähnenswert an der Rede scheint mir einzig die "Beschimpfung" der Kapitalisten durch Pumm; er nannte sie "vaterlandslose Gesellen"! Einschätzung. Erfreulich war die hohe TeilnehmerInnenzahl an der Demo, besonders wenn mensch die geringen Zahlen aus anderen Städten berücksichtigt. Dies ist auch ein Ausdruck, daß vielen GewerkschafterInnen die zahme, sozialpartnerschaftliche Linie des DGB und der meisten Einzelgewerkschaften zu wenig ist. Wenigstens einmal im Jahr soll gewerkschaftliche Stärke gezeigt werden. Auch die starke Beteiligung am Internationalen Block ist positiv hervorzuheben. Und das, obwohl es keine gemeinsamen Vorbereitungen gab. Der Internationale Block ist inzwischen zu einer festen Einrichtung geworden, auf die viele DemonstrantInnen bauen. Im nächsten Jahr sollte wieder eine gemeinsame Vorbereitung angestrebt werden, so daß sich die unterschiedlichen Positionen des revolutionären Lagers darin wiederfinden können. Der Sozialrevolutionäre Block wird überwiegend von Jugendlichen getragen. So positiv deren starke Beteiligung ist, so negativ ist es, daß sich viele Éltere raushalten. Die Auseinandersetzungen um das Podium, so ist zu befürchten, werden uns, nicht dem DGB, auf die Füße fallen. Die Rechten im DGB werden erneut auf Abschaffung der Demo drängen. Und etliche KollegInnen, die die Auseinandersetzungen nicht nachvollziehen können und das Vorgehen der Stalin-Transparent-HochhalterInnen als Majorisierungsversuch werten, werden im nächsten Jahr zu Hause bleiben. Um das zu verhindern, wird es einiger Arbeit, v.a. in den Gewerkschaften bedürfen, um Risse wieder zu kitten (nicht zuzukleistern). Und: Pumm ist ein Scharfmacher gegen Linke und nicht gegen die Kapitalisten und ihren Staat. Pumm muß von der DGB-Spitze verschwinden! (F, AG/R)

Bericht von der Hausbesetzung

in der Kampstraße am 1.5.1995

Am 1.5.1995 besetzten um 15 Uhr 30 etwa 80-100 Menschen vier Wohnungen und ein ehemaliges Cafe in der Kampstraße. Gleich nach dem Eintreffen wurde damit begonnen, Barrikaden an den Ecken Kampstr./Schanzenstr. und Kampstr./ Sternstr. zu bauen. Es wurde schnell, jedoch relativ ruhig gearbeitet, da die Polizei von der Besetzung völlig überrascht und somit nicht handlungsfähig war. Nach kurzer Zeit hatte sich eine relativ große ZuschauerInnenmenge auf der Kreuzung Schanzenstr./Kampstr./Bartelsstr. versammelt. Die Stimmung war gut, Musik hallte durch die Straßen, im besetzten Cafe wurden Getränke ausgeschenkt. Kurze Zeit später wurden auf der Schanzenstraße ebenfalls Barrikaden errichtet. Gegen Abend wurde begonnen, mit der Polizei Verhandlungen zu führen. Die Einsatzleitung ließ den BesetzerInnen über die GALAbgeordnete Susanne Uhl mitteilen, daß nicht geräumt werden würde, wenn die Barrikaden in der Schanzenstraße bis 6 Uhr morgens wieder abgebaut und die anderen Barrikaden nicht verstärkt werden würden, wenn die Barrikaden nicht angezündet und keine "Straftaten am Eigentum Dritter" begangen würden. Diese "Zusage" von seiten der Polizei wurde jedoch klar als Hinhaltetaktik betrachtet, da durchgesickert war, daß die Polizei aufgrund des Marathons und der 1.-Mai-Demos in Hamburg und Berlin und wegen Gorleben in der Vorwoche zu diesem Zeitpunkt einfach zu wenig Einsatzkräfte hatte, um gegen die BesetzerInnen etwas ausrichten zu können, und deshalb versuchte, etwas Zeit zu schinden. Es wurde beschlossen, auf die Forderungen der Polizei, die Barrikaden nicht anzuzünden und keine "Straftaten am Eigentum Dritter" zu begehen, einzugehen, die Barrikaden in der Schanzenstraße jedoch stehenzulassen. Außerdem überbrachte Susanne Uhl der Einsatzleitung die Forderung nach einer "(schriftlichen) NichtRäumungsgarantie", die gelten sollte, bis direkte Verhandlungen mit den Eigentümern der besetzten Räume geführt werden konnten. Auf diese Forderung ging die Polizei, trotz der Zugeständnisse von seiten der BesetzerInnen, nicht ein. Etwa zur selben Zeit stellte sich heraus, daß die Eigentümer der vier Wohnungen und des ehemaligen Cafes beide im Urlaub und somit unerreichbar waren. Nachdem die Verhandlungen mit der Polizei also gescheitert waren bzw. beendet wurden und der direkte Kontakt zu den Spekulanten auch nicht möglich war, wurde das weitere Verhalten gar nicht oder zumindest nicht deutlich genug erörtert, es wurden keine Beschlüsse in dieser Hinsicht gefällt. Das führte dazu, daß die einen die Zeit mit BierTrinken, die anderen mit Herumstehen und manche mit Plündern totschlugen. Es wurde nicht mehr geschlossen gehandelt, und es wurde nicht mehr über das eigene Verhalten nachgedacht, in der Hinsicht, ob es dem Ziel, auf den Leerstand der besetzten Räume aufmerksam zu machen und diese irgendwann nutzen zu können, dienlich ist. Während sich also einige friedlich am Feuer auf der Straße wärmten und klönten, plünderten andere um etwa 0 Uhr 30 ein SchlachtereiZubehörGeschäft. Dadurch waren andere Aktionen dieser Art sozusagen legimitiert worden und wurden auch durchgeführt. Schließlich wurde um etwa 2 Uhr die Hamburger Bank an der Ecke Schanzenstr./Bartelsstr. völlig zu Kleinholz gemacht. Daraufhin rückte die Polizei mit drei Wasserwerfern, schwerem Räumgerät und einigen hundert Einsatzkräften an. Es kam zu einer etwa einstündigen Straßenschlacht. Obwohl eigentlich alle Straßen verbarrikadiert waren und nur eine zum AusdemStaubMachen frei war, gelang es den Gesetzeshütern nicht, Festnahmen zu machen. Um kurz nach 6 Uhr morgens wurden die vier Wohnungen und das Cafe von der Polizei gestürmt. Doch zu ihrem Bedauern fanden sie auch dort keine Personen mehr vor. Es stellt sich im nachhinein nun die Frage, ob diese Besetzung ein Erfolg war oder nicht. Bis etwa 0 Uhr war sie es sicherlich, denn bis zu diesem Zeitpunkt kümmerten sich alle um die Verteidigung der Wohnungen und des Cafes, die Stimmung war gut, die Sympathie auf der Seite der BesetzerInnen. Doch durch die Plünderungen des SchlachtereiGeschäfts und der Bank und durch die vielen anderen sinnlosen Zerstörungen, welche ganz offensichtlich nichts mehr mit der Besetzung zu tun hatten, entstand der Eindruck, daß es einigen Menschen gar nicht um die Wohnungen ging, sondern um die Randale in einem rechtsfreien Raum. Ein anderes wichtiges Thema ist die Sicherheit. Einigen Menschen ist aufgefallen, wie leichtsinnig sich häufig bei der Straßenschlacht am 1.5. verhalten wurde bzw. wie leichtsinnig sich bei Straßenschlachten o.ä. allgemein verhalten wird. Dasselbe gilt für das Verhalten nach solchen Aktionen, z.B. Plauderei am Telefon, Vermutungen "wer was gemacht haben könnte" etc. Durch dieses leichtsinnige Verhalten gefährdet mensch sich und andere immer wieder. Da die Polizei keine Festnahmen gemacht hat und es einen erheblichen Sachschaden gab (ca. 2 Mio.), wird sie nun alles daran setzen, im nachhinein angeblich Schuldige zu finden. Also: Seid auf der Hut, keine Plauderei am Telefon, setzt keine Vermutungen, Gerüchte etc. in die Welt! -(von b)

Bündnis führte Aktion zum

Hafengeburtstag durch

Am Samstag, den 6. Mai 1995, führte ein Jugendbündnis (bestehend aus der AG Junge GenossInnen in und bei der PDS HH, der Grünen Jugendinitiative Hamburg, den JUKOs - Junge KommunistInnen, der Liste Links - Universität Hamburg und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) eine Aktion auf dem Hamburger Hafengeburtstag 1995 aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus durch. Unter dem Motto "806 Jahre Hamburger Hafen - 50 Jahre Befreiung vom Faschismus: Hamburg Ausfallstor zur Welt" machten ca. 20 Jugendliche und junge Erwachsene die BesucherInnen des Hafengeburtstages auf Aspekte der Geschichte und Gegenwart des Hamburger Hafens aufmerksam, die von dem Veranstalter ausgeklammert wurden. Denn auch diese Veranstaltung ist in die herrschende Widersprüchlichkeit dieser Tage bei der Handhabung der Geschichte einzuordnen: Auf der einen Seite wird ein gewaltiger Medienaufwand und politische Betroffenheitsrhetorik zum Jahrestag der Befreiung betrieben; auf der anderen Seite steht das alltägliche Vergessenmachen der Lehren, die vor 50 Jahren aus der Befreiung vom Faschismus durch die Anti- Hitler-Koalition gezogen wurden. Am 3. Mai hatte der Hamburger Senat noch zu einem Festakt anläßlich der 50jährigen Wiederkehr der Befreiung auf dem Rathausmarkt eingeladen. Vom 5. bis zum 7. Mai sollte dann unberührt von der Geschichte der Nazibarbarei (auch der des Hamburger Hafens) gefeiert werden. Die Geschichte der Außenlager des KZ Neuengamme in den Rüstungsbetrieben des Hamburger Hafens wurde tunlichst verschwiegen, die Kontinuität des Hamburger Hafens als Umschlagsort für Waffen und als "Standort" für Rüstungsproduktion (Blohm + Voss z.B. erwirtschaftet heute wieder den Löwenanteil seiner Profite mit der Herstellung von Kriegsschiffen) ebenso. So erstaunt es dann auch nicht weiter, daß die Bundeswehr auch in diesem Jahr wieder auf dem Hafengeburtstag vertreten war, wo man U-Boote besichtigen konnte oder das "punktgenaue" Abspringen von Kampfschwimmern in das Hafenbecken bestaunen durfte. Genau auf diese Zusammenhänge hin sollte mit der Aktion, bei der am Samstag nachmittag ca. 3000 Flugblätter verteilt wurden sowie ein 2x6 Meter großes Transparent gezeigt wurde, hingewiesen werden. Exemplarisch wurden auf dem Transparent und der Rückseite des Flugblattes wichtige Stätten des Faschismus im Hamburger Hafen gezeigt. Auf der Vorderseite des Flugblattes wurde die historische Entwicklung Deutschlands ausgehend vom Faschismus, der darauffolgenden Befreiung durch die Armeen der Anti-Hitler-Koalition, über die nur kurz andauernde Mehrheitsfähigkeit von antifaschistischen, antimilitaristischen und antimonopolistischen Positionen in Deutschland, der Restauration eines, wenn auch gezügelten, kapitalistischen Deutschlands in der BRD mit einer nur zum Teil gebrochenen Tradition bis hin zu einer erweiterten BRD, die aktuell von den Herrschenden als ganz normale imperialistische Großmacht (inkl. von "rohstoffsichernden" Auslandseinsätzen der Bundeswehr unter dem Dach von Nato und UNO) etabliert werden soll, kurz dargestellt und bewertet. Insgesamt wurde die Aktion von den meisten BesucherInnen, die am Ort des Geschehens an der Landungsbrücke vorbeikamen, eher positiv aufgenommen. Bis auf einzelne PassantInnen und einzelne Gewerbetreibende, die wohl befürchteten, die politische Aktion könne die ausgelassene Stimmung und somit auch den Konsumwillen an Bier und Bratwürsten stören, waren die Reaktionen überwiegend positiv. Die Flugblätter wurden in der Regel nicht nur genommen, sondern auch gelesen, und verschiedentlich gelang es auch, mit BesucherInnen des Hafengeburtstages in die Diskussion zu kommen. Für die Beteiligten steht jedenfalls fest: Solange das alltägliche Vergessenmachen der Lehren, die aus dem Faschismus gezogen wurden und auch weiterhin gezogen werden müssen, und solange eine Politik, die sogar die (bescheidenen) Errungenschaften der BRD aus der Nachkriegszeit (Asylrecht, keine Auslandseinsätze der Bundeswehr) auch materiell revidiert, andauert, solange wird trotz aller Jahrestagsrhetorik auch weiterhin ein Eingreifen von fortschrittlicher Seite auf scheinbar unpolitischen Veranstaltungen wie dem Hafengeburtstag notwendig sein. -(Martin Wittmack)

Aufruf

An den Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, 20095 Hamburg * Rathaus

Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Wir appellieren an Sie, die Strafanstalt, die sich heute in den Gebäuden des eheligen KZ Neuengamme befindet, so schnell wie möglich zu verlegen. Wir erinnern Sie daran, daß Sie anläßlich des 45. Jahrestages der Befreiung am 5. Mai 1990 Ihr Wort gaben: "Falsch war es, die Justizvollzugsanstalt ausgerechnet auf dem ehemaligen Lagergelände einzurichten Was falsch war, wollen wir so nennen und es endlich ändern." Im Konzentrationslager Neuengamme wurden Zehntausende Menschen aus ganz Europa auf bestialische Weise umgebracht. Dort wurden Menschen vergast, erschossen, erschlagen und zu Tode gequält. Die geschichtlichen Spuren dieses Konzentrationslagers sind eine Mahnung an uns und an zukünftige Generationen. Diese Erinnerung darf nicht den finanziellen Interessen der Stadt zum Opfer fallen! Die Nutzung der KZ-Bauten als Gefängnis verdrängt die Geschichte des Terrors und des Leidens. Sorgen Sie dafür, daß die Strafanstalt schnellstmöglich verlegt wird. Es dürfen keine Modernisierungsmaßnahmen mehr an den jetzigen Bauten vorgenommen werden. Das Gelände muß für Besucher der KZ-Gedenkstätte frei zugänglich sein. Verwirklichen Sie die Empfehlungen der vom Senat eingesetzten Fachkommission! Auf der Gedenksäule am Mahnmal der Gedenkstätte steht die Inschrift: "Euer Leiden, Euer Kampf und Euer Tod sollen nicht vergebens sein!" Wir appellieren an Sie: Tragen Sie dazu bei, daß dieses Vermächtnis erfüllt wird!

(Unter diesen Aufruf werden Unterschriften gesammelt.)

Vollzugsleiter hält Artikel an

Ein Willkürakt

Das nebenstehende Interview und den Kommentar von Jens Stuhlmann, z.Zt. Gefangener in Anstalt 2, hätten die Leserinnen und Leser der Lokalberichte eigentlich nicht lesen sollen. Der Vollzugsleiter von Anstalt 2, Herr Dankert, hat die vereinbarten Artikel kurzerhand angehalten und uns gegenüber arrogant und zuletzt durch Auflegen des Telefonhörers jede Stellungnahme verweigert. Dem Autor wurde mitgeteilt, einige Darstellungen seien "grob unrichtig". "Grob unrichtig" ist der Verfügung zufolge die Kritik des Kommentators, in der Untersuchungshaftanstalt und bei den Abschiebegefangenen herrschten z.T. menschenverachtende Zustände, die Haftanstalten seien überfüllt, und es gebe viel zu wenig Betreuungspersonal. "Grob unrichtig" sei auch die Meinungsäußerung, der neue Anstaltsleiter Poenighausen habe sein Amt als Vollstrecker der Fraktion angetreten, die Strafvollzug nur unter der Überschrift "Sicherheit und Ordnung" begreifen. Und "grob unrichtig" sei schließlich die Éußerung, die Leiterin der Freizeitabteilung sei versetzt worden, weil es um die Zerschlagung der Abteilung ging. Begründung: keine. Tatsächlich handelt es sich um einen Willkürakt. Unterdrückt wird die Meinungsäußerung eines Gefangenen, die kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, unter denen er zu leben gezwungen ist (Verhältnisse, die mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nichts zu tun haben), und der diese Verhältnisse verantwortenden Politik. Daß die Sicht des Vollzugsleiters auf diese Verhältnisse anders ausfällt als die eines Gefangenen, liegt in der Natur des Gefängniswesens. Der Vollzugsleiter repräsentiert die Gefängnisordnung. Er fühlt sich durch die Kritik eines Gefangenen, den er als Objekt, als Delinquenten zu sehen und zu behandeln gewohnt ist, betroffen. So versucht er, eben als Repräsentant der Gefängnisordnung, die Kritik und damit den Gefangenen mundtot zu machen. Wir veröffentlichen die Artikel, die wir trotz des Unterdrückungsversuches der Anstalt erhalten haben, und werden auch berichten, wenn sich die Anstaltsleitung einfallen lassen sollte, Kritik und Kritiker durch weitere Repressionsmaßnahmen zum Verstummen bringen zu wollen. Christiane Schneider

PFINGSTCAMP '95

Auch dieses Jahr veranstaltet die SDAJ wieder ein Pfingstcamp, und zwar vom 3. bis 5. Juni in der Nähe von Bamberg. Wie schon in den vergangenen Jahren wird es ein breitgefächertes kulturelles wie politisches Rahmenprogramm geben, das von Diskusionsrunden über "Geländespiele" bis hin zu Konzert und Party reichen wird. Um eigene Erfahrungen und Einschätzungen auszutauschen und gemeinsam revolutionäre Perspektiven entwickeln zu können, werden u.a. folgende Diskussionsrunden vorbereitet: Kriminalisierung von Widerstand - Haftbedingungen von politischen Gefangenen. Mit Günther Sonnenberg und Christa Eckes 50. Jahrestag der Befreiung - Gegen die Geschichtsverfälschung, wider den nationalen Konsens. Mit Peter Gingold, Widerstandskämpfer der Resistance. 5 Jahre nach der Annexion - Umbau der BRD nach den Plänen von Regierung und Kapital - nicht mit uns! Schule und "Wertedebatte" - Gegen die reaktionäre Bildungspolitik. Standort Deutschland - Standort Arbeitsamt. Qualifizierte Ausbildung und Übernahme für alle. Daneben wird es noch zahlreiche andere Aktivitäten zum internationalen antiimperialistischen Befreiungskampf geben, wie Info-Veranstaltungen, Diskussionen oder Ausstellungen zu Cuba, Vietnam oder Kurdistan. Samstag wird dann ein Konzert mit Carson Sage & The Black Riders (Folk/Ska- Punk), Dunkelziffer (Rockmusik aus Nürnberg) und den Gartenkindern (indie- pop) stattfinden und danach, wie jeden Abend, Party bis zum Abwanken. Nebenbei gibt's natürlich immer die Möglichkeit, sich mit einem Glas Saft, Cuba libre oder ein paar Flaschen fränkischen Biers in die Sonne zu legen, Filme zu schauen oder an ArbeiterInnen-Lieder-Workshops teilzunehmen.

Karten (40 DM/25 DM) und Infos gibt's bei der SDAJ- Hamburg, c/o Magda-Thürey-Zentrum, Lindenallee 70/72, 20259 Hamburg. Zelt, Schlafsack, Eßbesteck usw. nicht vergessen! Vegetarisches Essen gibt's auch. Anfahrtsbeschreibung: Pfadfinderzentrum Rothmannsthal bei Bamberg (Franken) Richtung Bamberg über die A 73, weiter auf der B 505, hinter Bamberg in Richtung Bayreuth abbiegen, die B505 an der Abfahrt Schleßnitz/Wattendorf verlassen, nach Wattendorf fahren, dort Richtung Rothmannsthal, am Ortsende links Richtung Lahm, nach 300 m links in den Wald, der Telefonleitung folgen.