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Militär und Islam in der Türkei
Das türkische Militär erntet, was es gesät hat

In den letzten Monaten führen die türkischen bürgerlichen Medien regelrecht Krieg gegen die ‘Refah-Partisi’ (RP; Wohlfahrtspartei). Im Konflikt zwischen den Militärs und der RP haben sich diese Medien offen auf die Seite der Militärs geschlagen. So wird die Armee als "Beschützerin des Laizismus" und als eine Institution dargestellt, der die Menschen größtes Vertrauen entgegenbringen würden. Doch in Wirklichkeit wurde die islamische Renaissance in der Türkei vom Staat (Militär, Presse,...) nicht nur geduldet, sondern auch gefördert. Den Bau religiöser Schulen und Moscheen hatten die Generäle selbst in den achtziger Jahren forciert - als Gegengewicht zur erstarkenden Linken.
Die neue Regierung will nun auf Druck der Militärs den Religionsschulen mit einer Verlängerung der Schulpflicht auf acht Jahre das Wasser abgraben. Die islamistische Wohlfahrtspartei stellt sich strikt gegen diesen Plan. In den letzten Wochen brachte die RP Tausende gegen die Einschränkung der religiösen Schulen auf die Straße. Schließlich rekrutieren die Fundamentalisten ihre Elite aus den sogenannten Imam-Hatip Schulen (Priester- und Predigerschulen). Nach einer neuen Untersuchung befürworten rund 80% der Absolventen dieser Religionsschulen eine Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Ohnehin haben die Islamisten während der vergangenen Jahre in der Staatsbürokratie zunehmend an Einfluß gewonnen.
Bei den Massenveranstaltungen der türkischen Islamisten in den vergangenen Wochen in türkischen Metropolen, hat die Polizei nicht - wie sonst üblich - die demonstrierende Menge, sondern die Pressevertreter brutal angegriffen. In Fernsehbildern war zu sehen, wie Polizisten gemeinsam mit Islamisten - darunter auch mit Anhängern der Terrororganisation IBDA-C (Front der Soldaten des Islamischen Ostens) - brutal auf Kameramänner und Journalisten einschlugen. Die meisten türkischen Politiker und die bürgerliche Presse äußerten ihr Entsetzen über das Verhalten der Polizei.
Doch war das Parteiergreifen der türkischen Sicherheitskräfte für die Islamisten/Rechtsextremisten weder neu noch überraschend. In der Türkei ist in den letzten 20 Jahren eine islamisch geprägte religiös-konservative Schicht entstanden, die in allen Staatsorganen, besonders aber im Polizeiapparat organisiert ist.
Während es den Mitgliedern der neofaschistischen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) des inzwischen verstorbenen Alparslan Türkes gelang, ihre Anhänger bereits in den 70er Jahren in den Militär- und Polizeiapparat sowie in die staatliche Verwaltung einzuschleusen, gelang es mit staatlicher Duldung in den 80er und 90er Jahren auch der islamischen Bewegung, ihre Mitglieder in den Sicherheitsapparat und in andere Bereiche des Staatsapparates einzuschleusen. Allein während ihrer einjährigen Regierungszeit ließ der Islamistenführer Necmettin Erbakan knapp 250.000 seiner Anhänger in den Staatsdienst einschleusen, um den Apparat zu unterwandern.
Der ‘laizistische’ türkische Staat ist in Wirklichkeit nie laizistisch im wahren Sinne gewesen. So hat er z.B. niemals die religiöse Minderheit der Aleviten wirklich repräsentiert. Es waren die konservativen Parteien und die Armee, die in den 70er und 80er Jahren die Voraussetzungen für die Reislamisierung in der Türkei schufen. Die "laizistische türkische Armee" hat besonders nach dem Staatsstreich von 1980 der Islamisierung der Gesellschaft Vorschub geleistet, um so die Linke zu bekämpfen. So waren es die Putschisten von 1980, die den sunnitischen Religionsunterricht an den Schulen zum Pflichtfach machten, Imam-Hatip-Schulen zu Gymnasien aufwerteten und dadurch den Boden für den heutigen Islam bereiteten. Seit dem letzten Militär-putsch werden Aleviten und Kurden, die als potentielle Gegner angesehen werden, so gut wie nie in die Polizei- und Militärschulen aufgenommen.
Mit der Gründung der Türkischen Republik (TR) wurden auch die bis dahin weit verbreiteten religiösen Schulen abgeschafft. Seit den 50er Jahren ist die ‘laizistische’ TR jedoch stets Kompromisse mit islamischen Kräften eingegangen. Vor allem die Einführung einer Religionsbehörde in den 50er Jahren hatte die Islamisierung der Gesellschaft zur Folge. Die Einführung von Imam-Hatip Schulen öffnete der Islamisierung dann Tür und Tor. Sie waren ursprünglich private Berufsfachschulen für muslimische Prediger und Vorbeter. Sie sind heute ein staatlich anerkannter und staatlich finanzierter Schultyp. Mittlerweile gelten die Imam-Hatip-Schulen als einfacher Weg für die Islamisten, den ‘laizistischen’ Staat zu unterwandern.
Besonders seit den achtziger Jahren ist das Bildungswesen immer mehr unter die Kontrolle der Islamisten geraten. Seit dem Militärputsch von 1980 dürfen die Absolventen der Imam-Hatip Schulen nicht mehr nur Theologie studieren, sondern haben auch Zugang zu fast allen universitären Studiengängen. Seitdem haben diese Schulen einen enormen Aufschwung erlebt. Wurden im Schuljahr dort 1951/52 knapp 1000 Schüler ausgebildet, waren es 1996 bereits mehr als 500.000. Der größte Teil der Absolventen wird jedoch nicht im Moscheedienst untergebracht, sondern überall im Staatsdienst. Nur das Militär verweigert ihre Aufnahme als Berufssoldaten.
Neben den Imam-Hatip-Schulen operieren weitere fünftausend Koranschulen ohne staatliche Genehmigung. Während in den letzten 40 Jahren die religiösen Lehranstalten etwa eine Million Absolventen hervorgebracht haben, besuchen heute etwa eine halbe Million Schüler Religionsschulen, weitere 1,7 Millionen Schüler lernen in Korankursen. An manchen Universitätsfakultäten stellen die Absolventen der islamischen Lehranstalten bereits die Hälfte der Studierenden.
Der Aufstieg der Islamisten ist kein vorübergehendes Phänomen. Sie haben während der vergangenen Jahre in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, des politischen und gesellschaftlichen Lebens Fuß gefaßt. Bereits vor zwei Jahren (im September 1995) belegte eine von der Republikanischen Volkspartei (CHP) im Auftrag gegebene Studie, daß die Islamisten gemeinsam mit den neofaschistischen Nationalisten (MHP) große Teile der staatlichen Bürokratie kontrollieren. Von den 77 Provinzgouverneuren wurden mehr als ein Drittel fundamentalistischen Gruppen zugerechnet. Von den Polizeichefs im Lande standen der Studie zufolge sogar 48 Prozent den Fundamentalisten oder den Neofaschisten nahe. Nach neusten Schätzungen werden mittlerweile drei Viertel der Polizeichefs rechtsextremistischen Gruppen (RP und MHP) zugerechnet.
Selbst in den Streitkräften beginnen die Islamisten Fuß zu fassen, trotz einiger Säuberungen während der vergangenen Jahre. Als der ‘Hohe Militärrat’ Anfang August d.J. in Ankara zu seiner Halbjahressitzung zusammentrat, wurde eine der bisher größten Säuberungsaktionen in den Streitkräften durchgeführt. 73 Offiziere und Unteroffiziere wurden wegen "Verbindungen zu islamischen Fundamentalistenzirkeln", entlassen. Erst Anfang Januar d.J. hatte der ‘Hohe Militärrat’ 69 Offiziere aus demselben Grund aus dem Dienst entfernt. Fachleute schätzen, daß von den jüngeren Offizieren rund ein Viertel Sympathisanten oder aktive Mitglieder fundamentalistischer Sekten sind.
Auch das staatliche Direktorat für religiöse Angelegenheiten ist infiltriert von Radikal-islamisten. Laut dem Generalstab betreiben 19 Zeitungen, 110 Magazine, 51 Radiostationen und 20 Fernsehsender islamistische Propaganda. Der Kleinunternehmer-Verband MÜSIAD (Unabhängiger Verband muslimischer Industrieller und Geschäftsleute), sowie sechs große Konzerne werden beschuldigt, den politischen Islam finanziell zu unterstützen.
Mit der Machtdemonstration der Militärs wird keines der drängenden Probleme des Landes gelöst: Der Bürgerkrieg in den kurdischen Provinzen, die wachsenden sozialen Spannungen und die Verwahrlosung der politischen Kultur, die den Islamisten die Wähler in immer größeren Zahlen zutreiben, gehören zum verhängnisvollen Erbe der Putschistengeneräle von 1980.
Anstatt diese wahren Gründe für den Zulauf zu extremistischen Parteien zu bekämpfen, werden wieder mit harter Hand kurzfristige Scheinlösungen angeboten. Dadurch ist es nur eine Frage der Zeit, wann die türkische Gesellschaft im Kollaps endet.


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