Titelseite
Links
Feedback
|
Das Todesfasten 1996
Die Aktion der politischen Gefangenen im vergangenen Jahr, ihre Forderungen
und ihre Kompromißlosigkeit im Handeln hatte zumindest für eine kurze
Zeitspanne weite Teile der demokratischen Gesellschaft in der Welt
betroffen gemacht.
Nach dem am 1. Mai 1996 in Istanbul ein Block von Hunderten von Militanten
mit schwarzen Baretts und roten Fahnen in den Händen marschierten und bei
den Vorfällen dieses Tages drei Menschen ermordet wurden, kam der
Gegenschlag von Justizminister Mehmet Agar (ehemaliger Polizeipräsident)
fünf Tage später. Mit dem sogenannten "6. Mai Erlaß" verfügte Agar zwischen
dem 6.5. und 10.5.1996 die Verlegung von mehr als 450 politischen
Gefangenen in verschiedene, über das ganze Land verteilte Haftanstalten
und insbesondere in das erneut eröffnete Isolationsgefängnis Eskisehir, mit
der sofort begonnen wurde. Die Folge war u.a., daß Gefangene über hunderte
Kilometer entfernt vom Ort ihrer Festnahme und Gerichtsverhandlung nicht
nur untereinander, sondern auch von ihren Rechtsanwälten, Angehörigen und
Freunden isoliert wurden.
Der "6. Mai Erlaß" war der Auslöser für den am 20. Mai begonnenen
Hungerstreik, an dessen Folgen 12 Menschen sterben sollten. Nach Jahren
hinter Gittern bereiteten sich die politischen Gefangenen vor, ihre Körper
als Waffe zu benutzen. Bereits 1982 im Gefängnis von Diyarbakir und 1984 im
von Bayrampasa/Istanbul und in den darauffolgenden Jahren hatten zahlreiche
Menschen hinter Gittern ihre Körper als Waffe eingesetzt, um so auf ihre
Forderungen aufmerksam zu machen.
Verschiedene linke Organisationen, die an dieser Aktion teilnahmen
gründeten in Bayrampasa die "Koordination der Gefängnisse". Der Beschluß
wurde in kurzer Zeit in den anderen Gefängnissen übernommen. Gleichzeitig
begannen in 40 Gefängnissen mehrere tausend politische Gefangene mit dem
Hungerstreik.
Die Gefangenen forderten u.a. die Schließung des Islosationsgefängnisses
von Eskisehir, das Beenden der Versuche, Gefangene zum Verrat zu bringen,
menschliche Behandlung der Gefangenen und ihrer Angehörigen und Beseitigung
der Hindernisse des Rechts auf Verteidigung. Die Zahlen, der am
Hungerstreik teilnehmenden stieg jeden Tag, aber Agar wollte seinen Erlaß
nicht zurücknehmen.
Mit der Ende Juni gebildeten Refah-DYP Regierung verschärfte sich die
Situation in den Gefängnissen. Der Islamist Sevket Kazan, der von Mehmet
Agar das Justizministerium übernahm, hatte in seiner Kompromißlosigkeit
Agar im Schatten gelassen.
Kazan behauptete sogar, daß die Gefangenen Essen in ihren Zellen hätten.
Nach dem 50. Tag des Hungerstreiks begann für die Angehörigen der
Gefangenen die schwersten Tage vor den Gefängnissen.
Am 21. Juli kam die erste Todesnachricht aus dem Ümraniye Gefängnis. Der
25jährige Aygün Ugur (Mitglied von TKP/ML) starb am 63. Tag des
Todesfastens. Bei seinem Begräbnis entführte die Polizei seine Leiche und
begrub sie. Zwölf Mütter haben danach die Leichen ihrer Kinder, die wie
Skelette aussahen, beerdigen müssen.
Im Hungerstreik (Todesfasten) starben nach Aygün Ugur, Altan Berdan
Kerimgiller (DHKP-C, 28 Jahre) am 65. Tag, Ilginc Özkeskin (DHKP-C, 35) am
66. Tag, Hüseyin Demircioglu (MLKP, 36), Ali Ayata (TKP (ML), 31) und
Müjdat Yanat (DHKP-C) am 67. Tag, Tahsin Yilmaz (TIKB, 37) und Aysel Idil
Erkmen (DHKP-C,22) am 68.Tag, Hicabi Kücük (TIKB), Yemliha Kaya (DHKP-C)
sowie Osman Akgül (TIKB) am 69. Tag. Hayati Can (TKP (ML), 25) starb am
ersten Tag nach Ende des Streiks im Krankenhaus.
Der große Hungerstreik tausender politischer Gefangener verschiedener
linker Organisationen, endete in der Nacht vom 69. Auf den 70. Tag des
Streiks.
Die Anlässe, die immer wieder zum Hungerstreik als letztes Mittel des
Protests und Widerstands in der Haft führen, sind in unterschiedlicher
Intensität gleichgeblieben: Mißhandlungen, Überfälle der Gendarmerie und
des Gefängnispersonals, Übergriffe gegen Angehörige und BesucherInnen,
Einschränkung und Vorenthaltung ärztlicher Hilfe, ungenießbare Nahrung,
mangelnde Hygiene etc.
Seit jeher wurden in der Türkei selbst die geringsten Verbesserungen nur
unter hohen Opfern der Gefangenen erkämpft.
widerstand@koma.free.de
|