"Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr: halt!
Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar.
Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr.
Auch die Schreie fallen wie Sommerregen."
Bertolt Brecht
Am 9.3.2000 haben wir die stellvertretende Leiterin des Gesundheitsamtes Altona Solveig Jürges zuhause im Siegrunweg 22 in Hamburg-Rissen besucht, an ihrem Haus Farbe hinterlassen und die Glastür eingeschlagen sowie ihren PKW angezündet.
Frau Solveig Jürges ist eine aus der Riege bereitwilliger ÄrztInnen, die als ErfüllungsgehilfInnen der Ausländerbehörde Menschen bei Abschiebungen "Reisefähigkeit" attestieren. Am 10.06.99 war sie an der Verschleppung von Nigar S. in die Türkei beteiligt. Frühmorgens wurde die an schweren reaktiven Depressionen leidende Kurdin, die seit 1987 mit Unterbrechungen in Hamburg lebte, zusammen mit ihren Töchtern aus dem Schlaf gerissen und verhaftet. Die Bullen haben sie geschlagen und an Händen und Füßen gefesselt, barfuß und nur mit Pyjama bekleidet in die Ausländerbehörde gebracht. Frau S. befand sich wegen ihrer Depressionen in fachärztlicher Behandlung. Ihre Ärztin/ihr Arzt bescheinigten ihr, dass sie nicht reisefähig sei. Einige Tage vorher hatte sie noch eine sechswöchige Duldung erhalten, allerdings mit folgenden, der Willkür bewusst Tür und Tor öffnenden Stempeltext: "Die Duldung erlischt unabhängig vom Datum des Ablaufs der Geltungsdauer, wenn die für die Erteilung maßgeblichen Gründe (rechtliches oder tatsächliches Abschiebungshindernis) entfallen". Erst im Laufe des Vormittags sind ihre AnwältInnen über die eingeleitete Abschiebung informiert worden. Eilanträge ans Verwaltungsgericht wurden abgelehnt. Der Richter erachtete die Aktion als rechtmäßig, wenn Frau S. von Amtsärzten für reisefähig befunden und ärztlich betreut würde.
Den amtsärztlichen Job zur Wahrung des legalen Scheins übernahm Frau Dr. Jürges, die "ärztliche Betreuung" ein über das Arbeitsamt als Honorarkraft für Abschiebungen angeworbener Arzt, der in der Ausländerbehörde zugegen war und den Flug begleiten sollte. Die Ausländerbehörde kann auf mindestens neun solcher Ärzte und Ärztinnen zurückgreifen. Der dreckige Lohn beträgt für eine Verschleppung in die Türkei 500,-DM.
Dr. Jürges segnete die Abschiebung auf dem Flughafen Fuhlsbüttel ab, obwohl sie miterlebt hatte, wie Frau S. zweimal versucht hatte, einem Bullen die Waffe abzunehmen und sich zu erschießen. Dr. Jürges hielt es nicht für nötig, eine Untersuchung vorzunehmen, ja sie hat sich nicht einmal mit Frau S. unterhalten. Stattdessen war ihr wortwörtlicher Kommentar: "Den Flug wird sie überleben." Auf dem Flughafen in Istanbul ist Nigar S. zusammen mit ihren Kindern mehrere Stunden lang verhört worden. Eine Anzeige gegen Dr. Jürges wegen Verstoßes gegen das Berufsrecht versandete, ungeachtet einer Erklärung des Deutschen Ärztetages vom Juni 99, in der eine Beteiligung von ÄrztInnen an Abschiebungen in Form von Flugbegleitungen, zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka und Ausstellung einer Reisefähigkeitsbescheinigung unter Missachtung fachärztlich festgestellter Abschiebehindernisse ausdrücklich als nicht mit der ärztlichen Ethik vereinbar verurteilt worden war.
Die Häufung überfallartiger Festnahmen und anschließender Abschiebungen nicht "reisefähiger" Menschen ist die Folge eines vertraulichen Papieres der Innenbehörde vom 28.4.99 unter dem Titel: "Rückführung vollziehbar ausreisepflichtiger ausländischer Staatsbürger - Politische Ziele - Aktuelle Probleme". Vor dem Hintergrund eines Rückganges von Abschiebungen aus Hamburg wurde unter verschiedenen Aspekten eine Effektivierung der Abschiebungsmaschinerie anvisiert. Folgende "Probleme" mussten nach Auffassung der SchreiberInnen des Papieres gelöst werden:
* Die Verhinderung der Abschiebung durch Vorlage ärztlicher Atteste.
* Die Verhinderung der Abschiebung ganzer Familien durch Geltendmachung von Abschiebehindernissen eines einzelnen Familienmitglieds.
* Die Verhinderung der Abschiebung durch kurzfristige Eingaben an den Petitionsausschuss.
* Die Verhinderung der Abschiebung wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft in Form von Nichterscheinen.
* Ineffiziente Arbeit der Ausländerbehörde insbesondere bei der Feststellung ungeklärter Identitäten aufgrund personeller Engpässe.
Die vorgeschlagenen Lösungen bestimmten zunehmend die Abschiebepraxis der vergangenen acht Monate. Zuerst wurde die Abteilung "Aufenthaltsbeendende Maßnahmen" um 16 Stellen verstärkt mit der akribischen Zielvorgabe, die Zahl der Abschiebungen um 144 zu erhöhen. (Der Rechnungshof hatte die Rentabilität dieser Maßnahme vorher berechnet u.a. wegen der erwarteten Einsparung erheblicher Sozialhilfemittel in Anbetracht einer Verkürzung der Aufenthaltsdauer abgelehnter AsylbewerberInnen.)
Dann kam es, wie schon erwähnt, vermehrt zu überfallartigen überraschenden Festnahmen bei Behördenterminen oder Morgengrauen. AnwältInnen wurden oft gar nicht mehr oder sehr spät informiert, um das Einlegen von Rechtsmitteln zu verhindern.
Hinsichtlich des Problems der Familienabschiebungen ging man dazu über, Familien auseinanderzureissen und getrennt abzuschieben. Zitat aus dem Papier: "Einzelfälle aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass anlässlich der geplanten Abschiebung eines Teils der Familie in vielen Fällen die Breitschaft zur Ausreise beim anderen Teil der Familie erheblich steigt." Bezüglich der Vorlage ärztlicher Atteste wurde versucht, eine Hetzkampagne gegen ÄrztInnen loszutreten, die Flüchtlinge behandeln und solche Atteste ausstellen. Der Begriff "Gefälligkeitsbescheinigungen" geisterte durch die Presse. Selbst AmtsärztInnen wurde vorgeworfen, sie würden zu lasch entscheiden, die Bearbeitung der Fälle dauere zu lange es käme in der Regel zu einer Bestätigung der fachärztlichen Gutachten. Dies führe zu keiner Entspannung der Situation. Nur die Einrichtung eines eigenen ärztlichen Dienstes in der Ausländerbehörde könne Abhilfe schaffen. Zu den Aufgaben dieser Stelle sollten u.a. die Überprüfung von Attesten, die Begleitung von Flügen insbesondere bei attestierter Suizidgefahr, sowie die Koordinierung von Abschiebungsbegleitungen durch andere Ärzte oder auch MitarbeiterInnen der Abteilung E44, des Abschnitts für Rückführungsangelegenheiten.
Im Oktober 99 wurden zwei Ärztinnen fest eingestellt. Zur Effektivierung des Apparates sind im vergangenen halben Jahr mehrere sogenannte "Botschaftsvorführungen" durchgeführt worden, d.h. Sammelvorladungen von AfrikanerInnen in die Ausländerbehörde. Offizielle Vertreter afrikanischer Staaten sollen hierbei die Identitäten bisher nicht identifizierbarer Menschen feststellen, um so auch dieses Abschiebehindernis zu beseitigen.
Nach Protesten gegen das berüchtigte Papier der Innenbehörde erzielten im Juli 99 GAL und SPD eine sogenannte "politische Verständigung". Öffentlich feierte die GAL diese Übereinkunft als Rücknahme der Vorstöße der Innenbehörde, während diese bluffte, es sei bisher noch gar nicht zu einer Umsetzung der Überlegungen gekommen. Tatsächlich aber wurden die Vorhaben des Innensenators substantiell bestätigt, das Thema ärztliche Begleitung von Flüchtlingen nicht erwähnt und an der im Koalitionsvertrag festgestellten "Notwendigkeit" von Abschiebungen festgehalten. Kosmetisch wurde betont, AmtsärztInnen sollten nach wie vor fachärztliche Gutachten überprüfen. Die Realität des Abschiebeterrors seitdem zeigt, dass die Vorgaben der Ausländerbehörde wie geplant umgesetzt wurden.
"Schlagkräftig zu werden auf allen Ebenen bedeutet auch, die ausländerbehördliche Praxis vor Ort aus dem Schatten der Anonymität zu reißen, die Orte des rassistischen Alltags, der vielen Flüchtlingen und ImmigrantInnen gerade dort begegnet, ans Licht zu bringen und anzugreifen. Die Arbeit der Abschiebeschweine muß be- und verhindert werden, wo es möglich ist." (RZ, zum Angriff auf das Ausländeramt in Böblingen, August 91)
Dieser Aussage können wir uns nur anschließen. Wir fordern alle, die Informationen über Strukturen und Personal der Ausländerbehörde haben, auf, diese öffentlich zu machen. Eine Möglicheit, das reibungslose Funktionieren des Apparates zu stören oder zu blockieren, besteht im Angriff auf die TäterInnen und ihrer Verunsicherung. Solange sie sich sicher fühlen und unbehelligt bleiben, werden sie weiterhin unbekümmert ihren dreckigen Job machen. Druck auf die relativ überschaubare Anzahl von ÄrztInnen, die Abschiebungen ermöglichen bzw. durchzuführen helfen, könnte dieses Instrument staatlicher Abschiebepraxis lahmlegen.
Mit den Verhaftungen in Frankfurt/Main, Berlin und in Frankreich hat die Bundesstaatsanwaltschaft die Runde der Abrechnung mit den RZ und der Roten Zora eingeläutet. Nahezu 20 Jahre militanten und bewaffneten Kampfes, in dem die verschiedenen Formen von Herrschaft benannt und angegriffen wurden, sollen exemplarisch abgestraft werden. Es soll vorgeführt werden, wie hoch der Preis dieses entschiedenen Kampfes ist, und dass die Herrschenden durchaus nachtragend sind. Allen, die sich auch heute und für die Zukunft nicht vorschreiben lassen wollen, welche Mittel sie gegen dies Menschenfressersystem eisetzen wollen und die an der Notwendigkeit klandestiner Organisierung festhalten, soll ein abschreckendes repressives Beispiel vorgeführt werden.
An der Politik der RZ und der Roten Zora haben sich in den letzten drei Jahrzehnten viele Linksradikale orientiert. Die Vielfalt der Aktionsfelder und das Aufgreifen neuer Themen der Auseinandersetzung, das Bemühen, sich immer wieder auf Bewegungen zu beziehen, die Propagierung einer Verbreiterung des militanten Widerstandes und ihre Fähigkeit zur Selbstkritik waren Stärken der RZ und der Roten Zora.
Das offensichtliche Ende ihres Projektes in den 90ern wurde jedoch leider nie abschließend von ihnen erklärt oder kommentiert. An vielen Punkten der vergangenen Jahre, wie der Verschärfung rassistischer Gesetze, dem Erstarken faschistischer Strukturen und nicht zuletzt dem Krieg gegen Restjugoslawien, haben effektive vernetzte militante Strukturen der Linken gefehlt. Die Tendenz, bewaffnete Politik als geschichtlich überholt und abgeschlossen zu bewerten, betrachten wir als kontraproduktiv. Es gibt keinen Grund und ist politisch falsch, wenn auch noch die Linke sich an der gewünschten Abwicklung der Politik von RZ und Roter Zora beteiligt.
Wir denken, dass militante bzw. bewaffnete Politik auch in diesen bewegungsarmen Zeiten unverzichtbar ist und dass es falsch wäre, auf bessere Zeiten zu warten oder zu hoffen. Eine Antwort auf das RZ/Rote Zora-Verfahren ist auch die Fortführung militanter Angriffe gegen die deutsche Flüchtlingspolitik. In diesem Sinne wollen wir unsere Aktion verstanden wissen:
* Bleiberecht für alle
* Freiheit für die Gefangenen, die im Zuge des RZ/Rote Zora-Verfahrens eingeknastet wurden: Rudolph, Axel, Sabine, Harald, Sonja und Christian