Das Lübecker Landgericht verteidigt die Staatsraison

Opfer bleiben weiter verdächtigt


Am 30. Juni endete mit dem "in dubio pro reo" ausgesprochenen Freispruch für den angeklagten libanesischen Flüchtling Safwan Eid fast eineinhalb Jahre nach dem Lübecker Brandanschlag ein Prozeß, in dem ein Opfer des Anschlages stellvertretend für die anderen Überlebenden zum Täter gemacht werden sollte. Ein Urteil des Lübecker Landgerichts, mit dem offenbar (fast) alle in Deutschland gut leben können: Der größte Teil der veröffentlichten Meinung geizte nicht mit Lob und Verständnis für die Entscheidung der Jugendstrafkammer und die Prozeßführung des Vorsitzenden Wilcken. Selbst die Staatsanwaltschaft wirkte zufrieden und verzichtete denn auch folgerichtig wenige Tage nach dem Urteil auf ihre zunächst mit großem Getöse angekündigte Revision. Der Tenor der Berichterstattung lautet: Ein Sieg für den Rechtsstaat, seinen Prinzipien ist hiermit Genüge getan. Die Tat wird nach einhellig bekundeter Meinung nicht mehr aufzuklären sein, dies sei zwar bedauerlich, aber so ist das im Rechtsstaat nun einmal.

Nach der Erklärung, wonach die Täter nicht mehr ermittelbar seien und offen bleibe, warum die HausbewohnerInnen ihre Aussagen zugunsten Safwan Eids gefärbt haben, führt das Landgericht weiter aus, daß in dieser Nacht die Haustür verschlossen und die Fenster geschlossen waren. In dieser Frage legt sich das Gericht hundertprozentig fest (auch hier allen Bewohnern und Bewohnerinnen, die bezeugt hatten, daß einige der Fenster nie verschlossen waren Falschaussage unterstellend). Es ignoriert dabei selbst die Ausführungen des LKA-Sachverständigen, der bei der Untersuchung der Fenster im Vorbau zum Ergebnis gekommen war, daß zumindest ein Fenster sich gar nicht mehr verriegeln ließ, also von außen aufgedrückt werden konnte. Damit ist ein weiterer Eckpunkt der Begründung abgesteckt. Der oder die Täter müssen aller Wahrscheinlichkeit nach von innen den Brand gelegt haben. Deutsche Täter, die von außen eingedrungen sein müßten, kommen damit nicht mehr Betracht.

Weiter wird ausgeführt, daß Safwan Eid sich seinerzeit auffällig verhalten habe. Er habe nach dem Brand ein fast rastloses Verhalten gezeigt und alsbald eine befreundete Familie angerufen, anstatt sich intensiv um seine Angehörigen zu kümmern. Er sei ohne erkennbaren Grund mehrfach aus dem Bus ausgestiegen, der die Verletzten transportiert habe. Er habe nicht im Krankenhaus, sondern bei Freunden ein Duschbad genommen, um alsbald das Krankenhaus zu verlassen. Und er habe, noch im Brandruß, der Familie Alias zugerufen, daß es sich nur um ein kleines Feuer handele, obwohl er selbst zu diesem Zeitpunkt ein Feuer nicht gesehen habe. Für alle diese Verhaltensweisen sieht das Landgericht keine überzeugenden Gründe, obwohl Safwan Eid ausführliche Erklärungen abgegeben hatte.

Warum aber geht das Gericht auf all die geschilderten Verhaltensweisen überhaupt ein? Ist bereits jemand, der sich so wie der Angeklagte verhält, tatverdächtig? Safwan Eid verließ als letzter das Dach des brennenden Hauses, ließ anderen den Vortritt, half Verletzten, kümmerte sich um seine Familie und beruhigte mit seinem Zuruf die Familie Alias. Diesen Umständen mißt das Gericht keine Bedeutung bei.

Unmittelbar darauf scheint sich das Gericht selbst zu widerlegen und fragt rhetorisch, ob man es sich vorstellen kann, daß ein junger Mann in dem Haus, in dem seine Familie lebt, nachts ein Feuer legt, diese nicht warnt, bzw. sie der Lebensgefahr aussetzt, und sich selbst in das Dachgeschoß begibt, wo die Fluchtmöglichkeiten am schlechtesten sind. Noch dazu sei der Angeklagte von den Betreuern als ruhiger, besonnener und auf Ausgleich bedachter Mensch beschrieben worden.

Was hängen bleiben soll, ist jedenfalls dies: Safwan Eid hatte in der Brandnacht Kontakt zu Dritten, mit denen er telefonierte und bei denen er duschte. Er war nervös, verließ das Krankenhaus schneller als andere und wußte etwas von einem Feuer, daß er noch nicht gesehen hatte. Das Gericht hält eine Täterschaft zwar für eher unwahrscheinlich, eine Mitwisserschaft wird jedoch nahelegt. Safwan Eid muß über die Brandlegung Bescheid gewußt haben, vermutlich kennt er zumindest den oder die Täter. Er hatte vermutlich zu diesen Kontakt, erfuhr von diesen Einzelheiten über die Brandlegung.

In diese Bestimmung fügt sich die Bewertung der Aussage des Zeugen Leonhardts ein. Dieser wird als persönlich glaubwürdig beschrieben. Der Kern seiner Aussage sei konstant geblieben. Sämtliche Ungereimtheiten fallen hier unter den Tisch, die ständigen Abweichungen in seinen Aussagen von einer Vernehmung zur nächsten, die intensive "Betreuung" durch die Polizei, der Kontakt zur rechten Szene, personifiziert in seinem Freund und Kollegen Haamann.

Nach dieser "Ehrenerklärung" für den Kronzeugen der Anklage muß es fast schon absurd anmuten, daß das Gericht den Gehalt der Aussage Leonhardts anschließend Punkt für Punkt zerpflückt: Es gab kein Tatmotiv, keinen "Familienvater" im ersten Stock, dem Rache oder ähnliches gegolten haben könnten. Brandbeschleuiger konnten nicht nachgewiesen werden, die vom Täter an eine Tür geschüttet worden sein sollen. Safwan Eid hatte keine Brandverletzungen, die bei einem Brandstifter zu erwarten gewesen wären. Die Treppe, die in Flammen gestanden haben soll, ist nicht brennbar und weiter funktionsfähig. Das einzige, was bleibt: Das berühmt-berüchtige "Wir warn's". Darauf aber kann eine Verurteilung nicht gestützt werden, wie das Landgericht zugeben mußte. Warum aber sollte Leonhardt glaubwürdig sein, wenn die wesentlichen Eckpunkte seiner Aussage nachweislich falsch oder nicht beweisbar sind?

Letztlich rettet sich das Landgericht auch hier durch einen geschickten Schachzug: Leonhardt könnte sich verhört haben, was aber eher unwahrscheinlich sei. "Oder aber der Angeklagte hat diese zitierten Sätze auch so ausgesprochen. Dieses mag mit einer gewissen Schockwirkung, von der auch Leonhardt gesprochen hat, zu erklären sein. Oder aber der Angeklagte hat von dem Geschehensablauf Kenntnis erhalten, Gelegenheit war da, und seinen Informanten nicht richtig verstanden. Letztlich stellt sich darüberhinaus die Frage, ob der Angeklagte von sich aus eine Rekonkstruktion des Geschehensablaufes vorgenommen hat.

Damit hat das Gericht die letzte Klippe umschifft und suggeriert: Safwan Eid ist ein Mitwisser, er muß es sich selber zuschreiben, daß er in Verdacht geriet, weil er sich auffällig verhielt. Leonhardt ist ein Ehrenmann, der unwissentlich falsche Bekundungen des Angeklagten wiedergegeben hat. Safwan Eid hingegen ist eine zwielichtige Person, die selber Mitschuld daran hat, daß sie auf der Anklagebank landete. Den schlechten Leumund behält er zu Recht, weil er jedenfalls sein Wissen über den oder die Täter nicht preisgegeben hat.

Die Ermittler werden dieses Entgegenkommen des Gerichts zu schätzen wissen, hat dieses doch ihren wichtigsten Zeugen gerettet und zumindest den Anfangsverdacht gegen Safwan Eid im Nachhinein für begründet erklärt. Daß das Gericht die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft kritisiert, wird diese verschmerzen können. Ihr Gesicht hat sie nach außen wahren können.

Und schließlich setzt das Gericht zu allem Überfluß noch einen drauf und spricht den Angeklagten lediglich nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" frei. Ein Freispruch zweiter Klasse also, obwohl es selber eindeutig ausgeführt hat, daß es nicht ein einziges Indiz gibt, daß auf einen konkreten Tathergang schließen ließe. Weder für eine Täterschaft noch für eine sonstige Beteiligung Safwan Eids gibt es irgendeinen konkreten Anhaltspunkt.

Ein Sieg des Rechtsstaats über die Opfer. Ein politisches Urteil hat einen politischen Prozeß beendet.

Einige Uneinsichtige

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Zeck vom September 1997