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Verspätete und abgefahrene Züge
Eine Rezension
«Das Ohr auf die Schiene der Geschichte des bewaffneten Kampfs in der BRD» ist der Titel einer gerade herausgekommenen Broschüre aus Stuttgart, die von linksradikaler Seite einen Beitrag zur Beschäftigung mit dem Deutschen Herbst leisten will.
Die Intention der VerfasserInnen ist es, der «Medienhetze» zum Deutschen Herbst 1977 «etwas entgegenzusetzen». Dazu haben sie «diese Broschüre zur Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD erstellt und dabei versucht, diese möglichst umfassend darzustellen». Die Darstellung besteht aus einer Chronologie der Ereignisse von 1968 bis heute, einzelnen, kurzen Artikeln zu Themen wie Guerilla, Palästina, Anti-AKW- und Startbahnbewegung und und hierin liegt die Stärke der Broschüre aus Interviews mit fünf «ZeitzeugInnen», d.h. langjährigen AktivistInnen (vier Antiimps und ein Autonomer, so die Selbstbezeichnung der Interviewten).
Die Interviewten erzählen von ihrer Politisierung, ihrem bis Anfang/Mitte der 70er zurückreichenden politischen Engagement, ihren Beweggründen und einschneidenden Erlebnissen. Es geht den AutorInnen um «Geschichte von unten», darum, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, daß sich die Geschichte des bewaffneten Kampfes nicht nur zwischen RAF, BAW und Krisenstab abgespielt hat. Allerdings zeigen die Interviews auch, wie sehr sich die damaligen AktivistInnen an eben jener «großen» Geschichte orientiert haben, wie wenig eigene Initiativen von den AktivistInnen ausgingen, deren Erzählungen sich mit wenigen Ausnahmen ausschließlich um Ereignisse, die ihren Ausgang außerhalb ihres direkten Einflußbereichs hatten, drehen: die diversen Hungerstreiks, die «Mai-Offensive», 1977, die Beerdigung der vier StammheimerInnen, die Prozesse. Und selbst wenn sie über die Bedeutung des Frontkonzepts erzählen, verbleibt die Initiative bei der RAF.
Während der Wert der Interviews darin liegt, eine Perspektive auf die Geschichte zu eröffnen, die in der herrschenden Geschichtsschreibung meistens ausgespart bleibt, ist der Rest der Broschüre eine Enttäuschung.
Glaubt mensch der Chronologie, dann bestand die Geschichte des bewaffneten Kampfes aus einer Aneinanderreihung von Anschlägen, Verhaftungen und Demonstrationen. Hier reproduziert die Broschüre in verkürzter Form nur, was inzwischen in diversen Büchern und Broschüren besser dargestellt worden ist.
Ärgerlich wird die Chronologie dort, wo politische Auseinandersetzungen jeweils nur als Kontroverse erwähnt werden, über den Hintergrund oder die vertretenen Positionen aber kaum ein Wort verloren wird. (So heißt es beispielsweise zur Erschießung des GIs Pimental lakonisch: «Die Aktion wird von großen Teilen der radikalen Linken stark kritisiert. Die Spalte zwischen Antiimps und Autonomen wird dadurch um einiges größer.» (S. 49/50)
Überhaupt fehlt den AutorInnen über weite Strecken eine Ahnung davon, daß das Scheitern der bewaffneten Politik à la RAF vielleicht auch den Fehlern der eigenen Politik geschuldet sein könnte. So schreiben sie zum Scheitern des Guerillakonzeptes: «Grund dafür [für die mangelnde Unterstützung] war sicherlich, daß die Reaktion der bekämpften Staaten nicht nur direkt repressiv war, sondern auch auf Propaganda und Massenpsychologie setzte.» (S. 13) Als ob es in den 70ern nicht eine breite innerlinke Debatte um die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des bewaffneten Kampfes gegeben hätte, in der die reformorientierte Mehrheit viele schlechte und auch einige gute Gründe gegen die Aufnahme eines bewaffneten Kampfes vertreten hatte, die zu einem Teil jedenfalls jenseits staatlicher «Propaganda und Massenpsychologie» lagen.
Die Reflexion der Gründe für das Scheitern antiimperialistischer Politik der 70er und 80er Jahre beschränkt sich weitgehend auf die Analyse staatlicher Repression. Oder es werden ganz allgemeine Gründe, wie «fehlende Vermittelbarkeit» oder «fehlender Basisbezug» oder ganz individuelle Gründe, wie: «nach und nach stellte sich heraus, daß diese militante Frontphase für viele eine Überforderung darstellte» (S. 51) genannt.
Meistens denken jedoch die HerausgeberInnen, daß eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Brüchen und Widersprüchen der Bewegung «den Rahmen dieser Broschüre sprengen würde» (25); wie beispielsweise bei der Israel-Palästina-Debatte, von der die AutorInnen ironischerweise gleichwohl einräumen: «Allerdings ist dieser Punkt für die Aufarbeitung der Geschichte des bewaffneten Kampfes wichtig und darf nicht übergangen werden.» Nur in der Broschüre war eben leider wieder mal kein Platz.
Vielleicht ist es auch so, daß wer die Geschichte als Schiene begreift, entweder die Weichen stellen will oder er oder sie muß dem längst abgefahrenen Zug hinterherschauen. Wenn Offensiven stecken bleiben wie es die AutorInnen anläßlich des Scheiterns des Frontkonzepts so schön schreiben liegt dies nicht nur an irgendwelchen subjektlosen falschen Weichenstellungen, sondern an der konkreten Politik konkreter Individuen und Bewegungen.
Bei aller Kritik ist die Broschüre dennoch ein interessanter Beitrag zur jüngeren Geschichte der radikalen Linken in der BRD. Wo sonst eher das große Schweigen die Szenerie beherrscht, ist es den HerausgeberInnen hoch anzurechnen, die ZeitzeugInnen der Basis zum Sprechen gebracht zu haben.
Finn
Bezugsquelle: Das Ohr an der Schiene der Geschichte ..., Broschüren-AG «Ohrwürmer», c/o Infoladen, Mörikestraße 69, 70199 Stuttgart, Preis: 5, DM
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