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Grenzen
Einige Anmerkungen zum Artikel »Die Kunst zu Campen«

Die Münchner AutorInnen des Artikels »Die Kunst zu Campen« (siehe Zeck Nr. 75) haben an den Anfang ihres Beitrags vier Thesen zur Bedeutung von Grenzen gestellt. Sie stecken damit einen theoretischen Rahmen ab, innerhalb dessen die eher beschreibenden Bemerkungen zum Ablauf des Grenzcamps im letzten Sommer in Görlitz zu verstehen sind.
Ich will im Folgenden auf zwei dieser Thesen eingehen, sie ein wenig gegen den Strich bürsten und fragen, welche Modelle und Vorstellungen hinter diesen Thesen stehen.
1. Die erste These der Gruppe »Über die Grenze« lautet: »Grenzen markieren auf eine gewisse Weise das Ende der Politik. Hier endet das Territorium der Nationalstaaten und hier ist der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten augenfällig.«
Grenzen begrenzen vieles und doch vor allem eines: Nationalstaaten. Damit markieren sie in der Regel das Ende der Einflußsphäre nationalstaatlicher Exekutivorgane wie Polizei und Grenzschutz, nationalstaatlicher Rechtsprechung, nationaler Währungen und häufig auch Sprachräume.
Und gerade weil an ihnen der Nationalstaat seine materielle Grenze findet, manifestiert sich an Grenzen nicht der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten — im Gegenteil, ohne Grenze wäre kein Nationalstaat denkbar. Gerade die Grenze ist es, was ihn zu einem diskreten, d.h. von anderen unterschiedenen, Nationalstaat macht. Ohne Grenze wären die Attribute der Nation bzw. des Nationalen ohne Sinn. Erst die Grenze schafft die Nation, erst die Grenze macht die Landschaft zu einem Territorium. Die Vorstellung einer Nation wäre ohne Grenze nicht zu denken. An der Grenze versichert sich der Nationalstaat seiner Existenz und je sichtbarer die Grenze ist, desto kraftvoller fällt an ihr die Manifestation des Nationalen aus. Und — dies nur nebenbei bemerkt — genau hierin lag auch die symbolische Funktion der ausufernden Grenzanlagen zwischen der ehemaligen DDR und der BRD: Hier manifestierte sich die DDR als Nationalstaat, hier verlieh sie für alle Welt unübersehbar ihren Anspruch als Nationalstaat Gewicht.
Zumindest solange Politik in einem nationalstaatlichen Rahmen stattfindet — und wer wolle bestreiten, daß dies auch heute noch auf weiten Strecken zutrifft — markieren Grenzen also nicht das Ende der Politik, sondern sie konstituieren vielmehr (national-)staatliche Politik. Und diese Bedeutung kommt ihnen sowohl innen- als auch außenpolitisch zu, denn ohne Grenzen wäre diese Unterscheidung selbst sinnlos. Vielleicht gibt es nur genau einen Moment, an dem Grenzen das Ende der Politik markieren. Nämlich dann, wenn zwei Nationalstaaten den Verlauf der Grenzen mit kriegerischen Mittel zu verschieben suchen.
Mit der Grenze verbunden ist eine binäre Logik des Ein- und Ausschlusses. Die Grenze zieht einen klaren Trennungsstrich — zwischen »In-« und »Ausländern«, zwischen denen, die einreisen dürfen und denen, die abgewiesen werden, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Während im Innern der Nationalstaaten durchaus Grauzonen möglich sind — mehrere Staatsbürgerschaften, unklarer Aufenthaltsstatus, graduelle Verwischungen der Eigen- und Fremdkonstruktionen —, fordert die Grenze Eindeutigkeit.
Ich denke, hier liegt eine der zentralen Problematiken der Ausweitung der Grenzen von Linien zu Zonen, die in das Innere der Nationalstaaten hineinreichen. Wenn sich die Grenzen ausweiten, gewinnt ihre binäre Separationslogik an Raum. — Genau diesem Aspekt trägt der in der Kampagne »Kein Mensch ist illegal« gebrauchte Begriff des Grenzregimes Rechnung, der es erlaubt, die Funktionslogik der Grenze von ihrem ursprünglichen geographischen Ort zu lösen und als allgemeineres gesellschaftliches Prinzip zu verstehen.

2. »An den Grenzen wird die Verschiebung von der Disziplinargesellschaft in Richtung Kontrollgesellschaft deutlich.«
Was bedeuten diese beiden Begriffe »Disziplinar- und Kontrollgesellschaft«? Der an Foucault anschließende Begriff der Disziplinargesellschaft verweist auf ein Set von Techniken und Verfahren der Überwachung, des Messens, des Trainings und der Lenkung und Anordnung von Individuen. Dabei entfaltet die Disziplin bzw. die Disziplinen ihre Wirkung auf zwei Ebenen: Sie erlauben die weitgehende Kontrolle spezifischer Bevölkerungsgruppen und gleichzeitig entfalteten sie ihre normalisierende Kraft durch die freiwillige Unterwerfung der Mehrheit der Bevölkerung unter ihr Ideal.
Die Disziplinargesellschaft erlaubt also die Aufrechterhaltung von Herrschaft und Unterordnungsverhältnissen, ohne die permanente Kontrolle jedes einzelnen Individuums ständig gewährleisten zu müssen. Die Disziplinargesellschaft verfügt dabei durchaus über ausdifferenzierte Techniken der Kontrolle, der Überwachung und der Einschränkung, der Schwerpunkt liegt hier darauf, daß diese Techniken nicht permanent und gegen jedeN eingesetzt werden müssen, sondern sich die Mehrzahl »dizipliniert« verhält.
Im Gegensatz dazu würde eine Kontrollgesellschaft gerade auf dieser allgegenwärtigen und (nahezu) lückenlosen Kontrolle basieren.
Ich denke, daß Jan Allers in seinem Artikel in der letzten off limits (Nr. 24, 4/98) recht hat, wenn er schreibt, daß der Ausbau der sogenannten Schengen-Außengrenzen nicht das Ziel der vollständigen Abschottung und der permanenten und lückenlosen Kontrolle der Wanderungsbewegungen hat. Schließlich wäre es technisch kein Problem, eine der ehemaligen DDR-Grenze ähnliche hermetische Grenzanlage zu installieren. Es geht vielmehr um die eher statistischen Kontrolle der Wanderungsbewegungen und ihrer Verteilung im Raum.
Ähnlich wie bei der Stichprobenerhebung, deren statistische Genauigkeit inzwischen Vollerhebungen in der Form von Volkszählungen praktisch unnötig gemacht hat, zielt auch an der Grenze das Kontroll- und Überwachungssystem nicht auf Vollständigkeit, sondern auf möglichst exaktes statistisches Wissen. Das Grenzregime ist in seiner aktuellen Ausformung nicht dazu geeignet, jeden »unerwünschten« Grenzübertritt zu verhindern, aber sehr wohl dazu, ein sehr exaktes Bild der Wanderungsbewegungen, ihrer regionalen Verteilung und nationalen Zusammensetzung zu liefern. Darüber hinaus entfaltet es auch in seiner Unvollständigkeit eine im Sinne der Herrschenden »ausreichende« abschreckende Wirkung. Das Grenzregime zielt — trotz gegenläufiger Selbstdarstellung — einerseits darauf, den unkontrollierten Grenzübertritt zu erschweren, andererseits wird denen, die ihn dennoch wagen bedeutet, sich möglichst unauffällig zu verhalten, was z.B. heißt, auf ihre Rechte zu verzichten.
Auch die staatliche Propagierung und Förderung des Denunziantentums hat eher eine disziplinierende als eine kontrollierende Funktion. Den Flüchtlingen und MigrantInnen wird bedeutet, sich »unauffällig«, d.h. den bestehenden Normen nicht widersprechend« zu verhalten und bei den DenunziantInnen wird die Bedeutung der Grenze als Ordnung stiftendes Element affirmiert.
Und genau dieser Punkt wird ja auch in der dritten These von »Über die Grenze« betont.
Ich denke, daß die politische Auseinandersetzung unter der Perspektive eines aufziehenden totalen Kontrollsystems vielleicht den Blick für die unauffälligere, normalisierende Funktion der Grenze und ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung des bestehenden politischen Systems verdecken kann. Im besten Fall könnte es mit Aktionen wie dem Grenzcamp ja vielleicht gelingen, die Normalität des Grenzregimes punktuell zu durchbrechen und damit genau seine disziplinierende Funktion zu untergraben.
Dabei erschwert und erleichtert die Disziplinarperspektive die Politik gegen das Grenzregime: Indem sie den disziplinierenden Charakter betont, erweitert sie den Blick weg von der Grenze auf die Gesellschaft. Statt sich auf eine klar umgrenzte Institution der Grenzüberwachung und -kontrolle zu konzentrieren, öffnet sie den Blick für die weitverzweigten disziplinären Techniken an den unterschiedlichen Orten in der Gesellschaft. Damit wird der Ansatzpunkt für eine antirassistische Politik, die das Grenzregime angreift sowohl diffuser, als auch breiter. Es fällt schwerer, einen klaren Ansatzpunkt zu bestimmen, und gleichzeitig werden Gegenaktionen auch an grenzfernen Orten möglich.
In diesem Sinne wäre es sicher sinnvoll, wenn Grenzen auch aus autonomer Perspektive nicht das Ende der Politik, sondern Ansatzpunkte für Politik markieren.
Finn


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