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Liebe Flora,
wir kennen Dich mittlerweile schon seit fast zehn Jahren und seit dieser Zeit bist Du definitiv einer unserer Mittelpunkte, um die sich unser Leben hier im Schanzenviertel dreht - mal mehr, mal weniger. Wir waren dabei, als Du im November 1989 besetzt und damit ins Leben eines autonomen Stadtteilzentrums gebracht wurdest, wir verfolgten mit Interesse und Engagement Deine ausgefuchsten Verhandlungen mit Traute Müller sowie Deinen tollen Plan, aus einer riesigen Baugrube einen schönen Park zu machen. Wir haben so manche Schlacht für Dich geschlagen und so manchen kalten Tag in der Vokü gefroren und an Deinen ausgefallenen Partys so manche Droge ausprobiert: kurz wir kennen Dich recht gut und Du bedeutest uns sehr viel.
Nun verfolgen wir seit 2-3 Jahren Deinen mutigen Versuch, anders mit der Drogenszene im Viertel umzugehen, als es im linksradikalen Politikgeschäft eigentlich üblich ist. Dieser aufsehenerregende Schritt ist bestimmt ein Ergebnis der spannenden Diskussionen um Politik und Techno-Kultur und um den (eigenen) Umgang mit kriminalisiertern Drogen, der auch zu einer differenzierten Haltung geführt hat, jenseits der Parole: "Bullen und Heroin: zwei Wege, ein Ziel." Diese neue Haltung war einmalig für die radikale Linke in der BRD und wurde unserer Meinung nach mit viel Aufmerksamkeit in anderen Städten aufgenommen und diskutiert: Gut gemacht, liebe Flora!
Seit der Zuspitzung der sogenannten Drogenproblematik hier im Viertel durch das Wahlkampfgewitter 1997, in Kombination mit einem geschürten Rassismus gegenüber Afrikanern, hat sich Deine mühsam errungene differenzierte Haltung aber unserer Meinung nach teilweise in die andere Richtung refundamentalisiert. So hören wir aus Deinem Mund eine Problemanalyse, die uns zu glatt und widerspruchsfrei daherkommt und die - so glauben wir - der Angst geschuldet ist, dem Druck der massiven Vertreibungspolitik durch die Stadt sonst nichts entgegensetzen zu können. Das sieht dann so aus, daß kein Wort (öffentlich) darüber verloren wird, daß die Situation an der Flora und immer mehr auch in der Flora eine ist, die das Zentrum als Stadtteilzentrum - und so verstehen wir Dein Selbstverständnis immer noch (please correct us) - grundsätzlich bedroht.
Für uns ist es kein Radikalen-Test, ob es einer/einem was ausmacht, sich einen Weg durch die Drogenhandels- und Konsumszene zu bahnen, um in die Flora zu gelangen. Und es ist uns nicht selbstverständlich mit einem Verhalten konfrontiert zu werden, das ansonsten nicht geduldet werden würde, mit dem aber nun irgendwie anders umgegangen werden soll. Auch haben wir kein Interesse in der Flora direkt eine Funktion zu übernehmen, auf die wir in der Schärfe wenig Lust haben, nämlich einen großen Teil unserer inneren Aufmerksamkeit auf die Junkyszene zu richten: Wird gerade gedealt? Und wenn ja, wie verhalte ich mich? Kann das gefährlich sein? Ist der Becher in der Vokü richtig abgewaschen? In welche Ecke fass ich hin, auf welches Klo gehe ich? Was darf ich berühren? Sind gerade männliche Drogenkonsumenten auf dem Frauenklo? Geht es dem Junky auf dem Klo gut oder muß ich mal langsam nachschauen, ob er noch unter uns weilt? Ändert sich die Dealer-Szene von den "netten" Dealern zu brutalisierteren Strukturen? Muß ich mir das blanke Elend so dicht holen, nur weil es existiert? Habe ich diesen Anspruch auch bei mir zu Hause in meinem Hausflur? Bin ich in der Flora plötzlich einE SozialarbeiterIn?
Wir halten es für fatal auf diejenigen zu schimpfen, die sagen, daß ihre persönlichen Grenzen überschritten sind. Liebe Flora, wir hören Dich schon grummeln, daß die Leute doch gefälligst ihre subjektiven Ängste an der Realität messen sollen und erkennen sollen, daß vieles kleinbürgerliche Gartenzwerg-Ängste sind. Eins zu null für Dich; das finden wir auch. Aber wir finden auch, daß über ein Hinterfragen diese Grenzen nicht einfach weggehen und mit ihnen umgegangen werden muß, ohne sie wegzudrücken.
Und wir denken, daß einige Grenzen sehr berechtigt sind. Denn wir sind nach wie vor der Meinung, daß die Flora nicht der Ort ist, in dem sich eine abgeschlossene Geschäftswelt von Händlern und KundInnen etablieren sollte, egal ob die mit Drogen oder mit Videospielen oder mit Tomaten handeln. Das Drogengeschäft hat zudem noch die Eigenschaft - da kriminalisiert - unter prämodernen Gesetzen zu funktionieren, in denen Einmischungen oder Handelsprobleme nicht qua Arbeitsgericht oder - besser linker - mittels Vollversammlung gelöst werden, sondern über das Recht des Durchsetzungsfähigsten (die männliche Form ist hier keine Unaufmerksamkeit). Das hat in und direkt am Eingang eines Stadtteilzentrums nichts verloren! Auch dann nicht, wenn diese Szene vom Staat kriminalisiert wird.
Das vom Staat erzeugte Elend und auch die erzeugten Geschäftsbedingungen können ein Zentrum kaputt machen. Schau Dir doch z.B. die Erfahrungen des autonomen Zentrums Reitschule in Bern an. Das ist nicht original die Schuld der Drogenszene, aber konkret können auch diese Menschen für eine Zentrumsstruktur bedrohlich werden. Das macht die Flora - also Dich - mittelfristig kaputt, weil es einen anderen Charakter in das Gebäude trägt, auf den Viele verständlicherweise keine Lust haben, weil sie eben was anderes in dem Kasten machen wollen.
Was bist Du, liebe Flora, für die Junkies? Schutzmacht? Was hast Du mit ihnen gemeinsam? Nicht alle Ausgegrenzten sind automatisch unsere Verbündeten, selbst wenn wir die konkrete Ausgrenzung verurteilen. Wir würden uns wünschen, daß Du die Junkies ernster nehmen würdest und nicht nur ihren Opferstatus gegenüber dem Staat betonst, sondern auch ihre Verantwortlichkeit z.B. Dir gegenüber. Kämpfe weiter gegen Vertreibung und rassistische Hetze und für den Erhalt des öffentlichen Raumes. Versuche weiter, den Graben als eben solch einen Raum offen zu halten und den echt fiesen Bullen etwas entgegenzusetzen.
Aber sorge auch dafür, daß Deine Eingänge nicht Teil der Drogenszene, sondern Teil der Stadtteilzentrumsszene sind: Für uns sind das immer noch zwei verschiedene Szenen, weil sie ganz grundsätzlich andere Dinge wollen und sich wirklich nur an dem einen Punkt treffen, seine Ruhe vor staatlicher Verfolgung haben zu wollen. Diesen Wunsch hätten wahrscheinlich auch noch viele andere in dieser Gesellschaft, mit denen wir bestimmt gar nichts zu tun haben wollen.
Steh zu dem Widerspruch auf der einen Seite gegen Vertreibung zu sein und auf der anderen Seite die Drogenszene aus dem Zentrum und was für dessen Erhalt notwendig ist (z.B. die Eingänge) zu "vertreiben", um selber überleben zu können.
Ein erster Schritt wäre dafür, von Deinen Problemen, Schwächen und Hilflosigkeiten auch öffentlich zu reden, statt wie in Deinem letzten Flugblatt die alte aalglatte Leier vom bösen Staat und den armen Junkies runterzubeten.
Wir wissen, daß Du viel Angst davor hast, mit der falschen Meute zu heulen, wenn Du Deine Widersprüchlichkeit offenlegst. Und bestimmt wird diese Meute auch Morgenluft wittern - vom VS bis zur Mopo. Aber warum so ängstlich? Denkst Du wirklich, Du hast zu wenig Profil, um Deinen komplexen Standpunkt vertreten zu können? Daß dann wirklich alle denken würde, daß Du auch nur schöne, saubere deutsche Straßen haben willst? Das denken wir nicht! Warum begreifst Du die Angriffsfläche, die Du mit einem solchen Schritt bieten würdest, nicht als politisches Feld, das es zu umkämpfen gilt? Das wäre doch viel spannender als eine vermeintliche Radikalität, in der die Probleme dann hintenrum über eine scheinbare sachliche Notwendigkeit sicherheitsarchitektonisch gelöst werden (Kassenhäuschen). Was würdest Du denn sagen, wenn der Baschu seine Mauern hochziehen würde, damit nachts niemand mehr in den Hof kommt?
Einen offensiven Umgang mit der Problematik würde darüberhinaus nicht nur die Falschen auf den Plan rufen. Es würde statt dessen einer Reihe von Menschen und Initiativen aus dem Stadtteil die lang erwartete Möglichkeit geben, sich zu Dir zu verhalten und vor allem mit Dir zu kämpfen.
Auch wenn Du es nicht gerne hörst: Du bist nicht die einzige im Stadtteil, die von der Hetze gegen Junkies und Dealer und von der Bullenpräsenz stratzgenervt ist. Bitte ziehe Deine Identität nicht aus der Abgrenzung und Isolation gegenüber dem vermeintlich monolithischen Block des rassistischen Viertelmobs.
Eine Kritik an der Drogenszene zu haben ist nicht das selbe wie rassistisch sein. So ein Denken würde dazu führen, daß jede Initiative oder gar Verbesserung im Stadtteil Dich in Deiner Selbstverortung gefährden würde. Damit wärst Du politisch tot und das wäre wirklich schlimm.

Zum Schluß noch ein paar Parolen, die Du ja so liebst:
- Mittelfristig: Ein weiterer Druckraum für die Schanze (Nicht aus der Perspektive "saubere Straße", sondern aus der Perspektive "weniger Elend und Not für die Junkies")
- Langfristig: Legalisierung aller verbotenen Drogen (Auch wenn damit alle jetzigen Straßendealer auf einen Schlag ihren Job verlieren würden und sie sich dagegen wehren würden und Du sie dabei bestimmt unterstüzen würdest - puh, es ist wirklich nicht leicht mit Dir, liebe Flora)
- Freihaltung der Eingänge von der Drogenszene

Wir haben Dich immer noch lieb,
einige Deiner UserInnen

Ergänzung
Zum besseren Verständnis des vorstehenden Textes im Folgenden ein Auszug aus dem Flora-Faltblatt für AnwohnerInnen vom Januar `99, auch wenn nicht klar ist, auf welches "Flugblatt" sich die AutorInnen des Briefes an die Flora beziehen - gemeint ist ja die inhaltliche Position der Flora.

Die Vorwürfe gegen die Rote Flora verkennen die Realitäten im Viertel
Die Position der Flora, DrogenbenutzerInnen nicht völlig auszugrenzen und diesen die Möglichkeit zu geben, hinter der Flora wenigstens ansatzweise wind- und wettergeschützt zu drücken, wird zur Ursache für eine "Verschlimmerung" der Zustände im Viertel erklärt (Heutzutage katastrophisch als "Verslumung" aufgedonnert).
Zuallererst: Wir werden dieses absolute Minimum an Mitmenschlichkeit nicht aufgeben, selbst wenn dies mit (für uns) unangenehmen Begleiterscheinungen verbunden sein sollte. Wir werden weder die Drogenszene vor unserer Haustür verjagen noch werden wir tolerieren, wenn dies durch die Polizei geschieht.
Wie das Drogenhilfeprojekt Fixstern in einer Erklärung im Juli 98 treffenderweise festgestellt hat, würde ohne diese Möglichkeit ein Teil der DrogenkonsumentInnen zwangsläufig wieder vermehrt in Hauseingängen, Spielplätzen oder Parks drücken müssen. Wir bieten eine, wenn auch armselige Gelegenheit an und versuchen im Rahmen unserer Möglichkeiten praktisch handlungsfähig zu bleiben.
Die Flora hat immer betont, daß die Druckmöglichkeit kein Ersatz für erweiterte Kapazitäten und Räumlichkeiten in der Drogenhilfe (als erste Schritte zu einer Legalisierung) sein kann. Diese werden aber bekanntermaßen von der BAGS (Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales) verweigert bzw. werden diese derartig in ein Konzept der dezentralisierten Elendsverwaltung eingebunden, daß sie nur noch als kontrollierende, nicht als akzeptierende Drogenarbeit wirken. Somit ist der Senat, bzw. die BAGS zu einem wesentlichen Teil an den schlechten Lebensbedingungen in der offenen Drogenszene Schuld.
Wenn jetzt die Rote Flora für die offene Drogenszene im Viertel verantwortlich gemacht wird, dann dient dies lediglich zur Ablenkung von dieser eigenen Verantwortlichkeit. Diese austauschbaren Vorwürfe werden - wie so häufig - als Schachzug gegen die von uns aufgebauten politischen Strukturen angewendet.

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