[arranca, Nummer 15, Herbst 1998]

Aufruf zunetzpolitischer Aktivität

"Der Mythos von Abbe Pierre verfügt über einen kostbaren Trumpf: den Kopf des Abbes (...) der warme Blick, der franziskanische Haarschnitt, der Missionsbart, all das ergänzt durch die Joppe des Arbeiterpriesters und den Stock des Pilgers. Damit sind die Chiffren der Legende und der Modernität miteinander vereint. Der Haarschnitt zum Beispiel, halb rasiert, ohne Künstelei und insbesondere ohne Form, strebt sicher danach, eine von der Kunst und selbst von der Technik vollkommen abstrahierte Frisur herzustellen, eine Art Nullzustand der Frisur. Man muß sich aber wohl oder übel die Haare schneiden lassen, aber möge diese notwendige Operation wenigstens keinerlei besondere Daseinsweise implizieren, möge sie sein, aber ohne daß sie etwas sei. Abbe Pierres Haarschnitt, der sichtlich dazu bestimmt ist, ein neutrales Gleichgewicht zwischen dem kurz geschnittenen Haar (der unerläßlichen Konvention, um nicht aufzufallen) und dem vernachläßigten Haar (Zustand, der zur Bekundung der Verachtung gegenüber den anderen Konventionen geeignet ist) zu bewirken, erreicht so den Archetypus der Heiligkeit: Der ist vor allem ein Wesen ohne formalen Kontext. Die Idee der Mode ist der Idee der Heiligkeit unsympathisch." - (R.Barthes, Mythen des Alltags, S.30)

Für den Aufbau von linken Strukturen im Internet wird zur Zeit viel Energie aufgewendet, was jedoch fehlt sind Auseinandersetzungen über den Stellenwert und die Grenzen linker Präsenz im Internet und netzpolitische Diskussionen, die Einschätzungen über die allgemeinen Entwicklungen des Internets miteinbeziehen. Die verkürzte Vorstellung, die dem Konzept von Gegenöffentlichkeit zugrunde liegt - Informationen zögen automatisch Handlungskonsequenzen nach sich - reicht nicht aus, um offensiv in die Entwicklungen des Internets einzugreifen. Die linksradikalen netzpolitischen Forderungen, wenn überhaupt artikuliert, überschreiten kaum den seit Jahren eingeforderten "Zugriff für alle" und die "Freiheit auf Meinungsäußerung", für die sich hierzulande ja selbst eine bürgerliche Öffentlichkeit nie so recht hatte etablieren wollen.

Daß netzpolitische Diskussionen in einem breiteren Umfang ausgeblieben sind, ist nicht nur einer "Unüberbrückbarkeit" politischer Differenzen, "mangelnder Zeit" o.ä. geschuldet. Uns scheint, daß eine allgemeine Ratlosigkeit am Ende des Internethypes dazu zwingt, sich grundlegende Gedanken dabei zu machen, wenn man medienbezogen und wirkungsvoll im Internet aktiv werden will. Mit der Ratlosigkeit steht die Linke dabei nicht allein da. Die hohe Entwicklungsdynamik des Internets und seine Verzahnung mit den verschiedensten Lebensbereichen bringen es mit sich, daß seine (künftigen) Ausprägungen selbst von den Hauptakteuren schwer zu bestimmen sind. Natürlich wird auch jetzt schon jede Menge Geld mit dem Internet verdient - niemand, der das Internet die letzten Jahre beobachtet hat, wird das bestreiten wollen. Jedoch: Die staatliche Domestizierung des sog. "rechtsfreien Raums" ist noch nicht zur allgemeinen Zufriedenheit geglückt, die "Goldgräberstimmung" in den Brutstätten der immateriellen Arbeit ist zumindest noch solange von Vorsicht gedämpft, wie eine direkte Bezahlung in E-Mark sich nicht bewerkstelligen läßt...

Die (massenhaften) Vernetzungsschübe der letzten Jahre waren begleitet, wenn nicht gar geleitet, von den verschiedenen "Heilsversprechen", die an die technische Vernetzung und deren offensichtliche Möglichkeiten gekoppelt waren. Um es grob zu kartographieren: Das Jahr 1995 war der Höhepunkt des Internethypes in den USA, der die BRD ungefähr ein Jahr später erreichte. Im Laufe des letzten Jahres hat sich nun auch eine große Anzahl linker Gruppen mit einem Internetzugang ausgestattet.

Der Hype verläßt sich auf eine Ansammlung von Mythen, deren Zerstörung sich die Verfechter des Anti-hypes zur Aufgabe gemacht haben. Im Bereich des Politischen führt das zu folgenden Wechselspielen:

  • Das Internet als solches sollte alle demokratisieren, allein die Möglichkeit auch selber etwas veröffentlichen zu können führe dazu, daß sich die vernetzten Subjekte emanzipierten. Die Kommunikationsstruktur (Hypewort: "bidirektionale Kommunikation") wird somit als per se zivilisationsstiftend gesehen, obwohl es sich eben nur um ein Potential handelt, in das sich die üblichen strukturellen Gegensätze wie gewohnt einschreiben.

  • Die Welt würde nun endlich zusammenwachsen (Hypewort: "Globales Dorf"), obwohl das (technisch-kulturelle) Kapital zur Vernetzung tendenziell wiederum nur bei den 2% der Weltbevölkerung liegt, durch deren Vernetzung sich Demarkationslinien eher verstärken, als daß sie sich in einer zweifelhaften Globalität aufheben würden. Globalität ist weiß, männlich, zahlungskräftig und hat das technisch-kulturelle Kapital zur Vernetzung.

  • Die massenhafte Vernetzung mit Internettechnologie würde aus sich heraus gesellschaftliche Probleme lösen und einen sozialen Wandel herbeiführen. Wie üblich wird als Antwort auf politische Probleme nach mehr Technik gerufen, als ob nicht die Verhältnisse zu den Technologien und die Technologien selbst schon problematisch wären.

  • In einem beherzten Wiederaufguß von aufklärerischen Parolen wurde Information zum Fetisch und ihr ein innewohnender emanzipatorischer Wert zugeschrieben: mehr Information = mehr Demokratie. Als hätte sich inzwischen nicht herausgestellt, "daß Wissen und Information selbst Herrschaftssysteme sind"(K.Diefenbach) und daß die heutigen Formen von Informationsverbreitung grundsätzlich das verändert haben, was "Information" ausmacht.

Nicht, daß linke Gruppen davon unberührt geblieben wären. Daneben erhofften sie sich - bei aller Skepsis gegenüber der Gefahr von sich herausbildenden "Informationshierarchien innerhalb der sich vernetzenden Gruppen" - die Wiederbelebung der mittlerweile entschlummerten Gegenöffentlichkeit und die Überwindung der "internen" Kommunikationsprobleme mit anderen Mitteln.

Der Hype ist durchaus noch produktiv, wenn auch die Kritik durch den Antihype es mit sich gebracht hat, daß die Mythen an Kraft verloren haben. Natürlich durfte der üblich maskuline Technikfetisch auch bei der Geburt des Internets nicht fehlen. Eine genauere Betrachtung der Ereignisse, die den "Willen zur Virtualität" erschafften, steht noch aus. Das Internet stellt sich nach dem ersten Rausch meist als langweiliger heraus, als es sein müßte. Die anfängliche Netzeuphorie ist in eine allgemeine Ernüchterung umgeschlagen. Eigentlich wäre es an der Zeit, loszuziehen mit den angekratzten Mythen im Gepäck. Uns geht es dabei ausdrücklich nicht darum, erneut "besseres Wissen" zu produzieren, das "nur" darauf wartet, irgendwann von irgendwem in eine politische Praxis umgesetzt zu werden, oder sich theoretisch an einer Klammer vom Verhältnis zwischen "Theorie und Praxis" zu reiben. Die Artikel sind für uns Sammmlstelle, Protokoll und Textmüll einer breiter angelegten Betätigung, in der wir versuchen "Virtualitätsfelder zu erzeugen, die Handlungsmöglichkeiten eröffnen" (Lovink/Schultz, Netzkritik, S.11), um nachhaltig netzpolitisch aktiv zu werden. Gegen die allgemeine Selbstreferentialität setzen wir auf transversale Kommunikation!

Als nächsten Schwerpunkt begeben wir uns in das Feld "Repression im Internet".

 

Die Forderungen:
Betreibt praktische Netzkritik!
Redet mit uns!

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