Vorneweg
Spätestens seit den Schüssen an der Startbahn mit den nachfolgenden Festnahmen und Verhören von Beschuldigten und Zeuginnen, bei denen es zu Aussagen und Belastungen en masse gekommen ist, gibt es die Diskussion um Aussageverweigerung. Dabei schien den meisten linken/linksradikalen Menschen die Forderung "Keine Aussagen - Keine Kooperation mit dem Staatsschutz" politisch klar zu sein.
In dem Moment jedoch, als die Staatschutzbehörden mit der Anordnung von Beugehaft, d.h. Knast bis zu sechs Monaten, zum härstesten möglichen Strafmittel gegen aussageunwillige Zeuglnnen griffen, wurde die Forderung nach konsequenter Aussageverweigerung relativiert, wurde eine Vielzahl von Argumenten in die Diskussion eingeführt, warum das Festhalten an der Forderung angesichts der Drohung mit Knast falsch sei, warum im individüellen Fall Aussagen oder die Berufung auf eine mögliche Selbstbelastüng nach § 55 StPO sinnvoll sein könnten. Es tauchte die Frage auf, ob Knast nicht ein zu hoher Preis für Aussageverweigerung sei. Zumal die theoretische Erkenntnis, daß nur nichts zu sagen,'wirklich sicher ist, die betroffenen Zeuglnnen nicht"automatisch" auch zu einem entsprechendem Verhalten veranlaßte.
Schließlich blieben von den acht Zeuglnnen, die vor die Alternative: "Knast oder Aussagen" gestellt wurden, ja auch nur die beiden Bochumerinnen bei ihrer Aussageverweigerung. Daß die beiden nach sieben- bzw. zweiwöchiger Haft wieder draußen sind, löst das Problem nicht. Vielmehr werden Zeuglnnenvorladungen und sonstige Verhörversuche durch die Organe des Staatsschutzes mit dem Ziel weitergehend uns einzuschüchtern und zu spalten, unsere politischen und persönlichen Zusammenhänge auszuforschen und zu zerstören, und Einzelne von uns gezielter zu verfolgen.
So wurden gerade erst vier Leute aus Köln als Zeugen vor das OLG Düsseldorf zitiert. Sie sollten Aussagen in einem § 129a Verfahren gegen "unbekannt", wegen Unterstützung einer nicht näher bezeichneten "terroristischen Vereinigung" machen. Die Fragen, die ihnen gestellt wurden, bezogen sich auf Personen, Zusammenhänge, Aktionen und Veranstaltungen rund um die besetzte Weißhausstraße in Köln. (Die Zeugen verweigerten die Aussagen; drei von ihnen erhielten Ordnungsgelder in Höhe von 200 Mark.)
Ähnliches wird es in anderen Städten geben; und wir sollten uns darauf vorbereiten, daß der Staatsschutz in Zukunft verstärkt zum Druckmittel der Beugehaft greift. Gerade auch als Antwort auf ein - hoffentlich - zunehmendes Aussageverweigerungsverhalten unsererseits. Deshalb wollen wir mit dieser Broschüre versuchen, die Diskussionen um Aussageverweigerung und Beugehaft, wie sie in den persönlichen und politischen Zusammenhängen im Ruhrgebiet geführt wurden, öffentlich zu machen und unsere Erfahrungen damit zu "sozialisieren". Denn wir sind davon überzeugt, daß bei zukünftigen Beugehaftanordnungen die Probleme, die sich uns gestellt haben, so oder ähnlich auch an anderen Orten, in anderen Gruppen und Bündnissen auftreten werden.
Mit anderen Worten: Diese Broschüre soll dazu -beitragen, die nach unseren Erfahrungen bei der Bedrohung mit Beugehaft auftretenden Probleme und Diskussionen rechtzeitig anzugehen, damit Ihr in Zukunft besser vorbereitet seid als wir es waren!
Dementsprechend dokumentieren wir weder den Verlauf der Aussageverweigerungskampagne bzw. der Aktivin gegen Beugehaft hier im Ruhrgebiet, noch versuchen wir eine politische Einschätzung der Ereignisse im Zusammenhang bzw. in der Folge der Razzia am 18.12.1987. D. h. die vorliegende Broschüre enthält nicht die Vielzahl von Flugblättern, Presseerklärungen, Artikeln, Aktionen, Solidaritätserklärungen, usw., die zum Thema "Aussageverweigerung" bzw. "Beugehaft" in der Region und bundesweit produziert worden sind. Und sie problematisiert auch nicht den politischen Zusammenhang, in dem Zeuglnnenvorladungen bzw. die Beugehaftbeschlüsse stehen.
Wir haben uns stattdessen aus den oben genannten Gründen auf das Problem der Aussageverweigerung bei im Raum stehender Haftandrohung beschränkt. Nach einem Informationsteil, der einen chronologischen Abriß der Ereignisse, eine Beschreibung der Vernehmungssituation durch die Bundesanwaltschaft und eine Zusamrnenfassung der uns bekannten Fragen und Antworten bei verschiedenen Verhöranlässen enthält, benennen wir in einem zweiten Teil noch einmal die Gründe für eine konsequente Aussageverweigerung und stellen drei unterschiedliche Positionen dar, die sich mit der Frage beschäftigen: Aussageverweigerung trotz Beugehaft? Sie umreißen das Spektrum, das in unseren Diskussionen eine Rolle spielte.
Welche Faktoren - jenseits der rationalen Einsicht in die Notwendigkeit der Aussageverweigerung - angesichts der drohenden Beugehaft bei betroffenen Zeuglnnen eine Rolle spielen und ihre Entscheidung wesentlich mitbeeinflussen, und wie schwierig es ist, eine kollektive Auseinandersetzungsform zu finden, in der diese Faktoren berücksichtigt werden, ohne die Zeuglnnen unter falschen Druck zu setzten, und ohne ihnen die Entscheidung mit allen Folgen allein zu überlassen, soll der dritte Teil \/erdeutlichen. Dazu gibt es den Bericht einer Zeugin, die aus sehr persönlicher Sicht beschreibt, wie sie die Dinge erlebt hat. Und zwei nicht minder subjektiv gefärbte Beiträge, die vom entgegengesetzten Standpunkt, also aus der Position politisch arbeitender Zusammenhänge, versuchen, die Schwierigkeiten und Fehler im Verlauf des Auseinandersetzungsprozesses nachvoliziehbar zu machen.
In einem vierten Teil schließlich reißen wir die Frage nach dem politischen Stellenwert der Aussageverweigerung bzw. einer weiteren Kampagne dazu an. Wir haben in diese Richtung bislang kaum diskutiert, weshalb wir uns auf die Dokumentation eines Artikels aus der Nr.2 der NICHT ZU FASSEN und eines Papiers der Redaktion von AUFRUHR, einer Bochumer Szene-Zeitung, beschränken.
Abgesehen von einer kleinen "Literaturliste" zum Thema findet ihr am Schluß der Broschüre ein Interview mit den beiden Frauen, die in Beugehaft saßen. Wir haben es aufgenommen, weil sich viele von uns bis zur Inhaftierung der Beiden mit Knast nie intensiv auseinandergesetzt hatten. Dementsprechend haben Knasthorror und Spekulationen über die Bedingungen von Beugehaft unsere Diskussionen sehr stark geprägt. Das Gespräch mit Gabi und Gaby zeigt, daß ein großer Teil der Ängste und Befürchtungen (Isolationshaft, 24-Punkte-Programm) überflüssig waren.
Schickt uns Eure Kritik an der Broschüre und setzt die Diskussion fort! Wir verabschieden uns bis auf weiteres.
Solidarische Grüße aus einem sonnigen Ruhrgebietsgärtchen im Juli 1989