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Rede von Pierre Durand, 1.Vors. des ILK Buchenwald/Dora anlässlich des Jahrestages der
Selbstbefreiung 2001
Vor 56 Jahren war der 8. April auch ein Sonntag. Wir waren hier in Buchenwald, mitten unter
den Toten. Über dem Lager, dessen Insassen die SS zu evakuieren versuchte, herrschte eine
Atmosphäre des Schreckens. Wir machen uns auf das Schlimmste fasst. Die organisieren
Einheiten unserer Widerstandsbewegung bereiteten sich auf den Endkampf vor, ohne zu wissen,
welche Verbrechen unsere Henker am Ende noch begehen könnten. Und dann kam der 11.April,
ein Mittwoch, an dem 21.000 von uns die Freiheit wieder fanden. Sie wurden gerettet durch
die heranrückende amerikanische Armee und die Entschlossenheit, mit der unsere bewaffneten
Gruppen vorgingen.
Es ist heute schwierig für Sie, sich vorzustellen, was diese Tage für uns bedeuteten.
Selbst uns, den überlebenden Zeugen und Akteuren dieser tragischen Tage zum Ende dieser
Hölle fällt es nicht leicht, uns an unsere Gefühle von damals zu erinnern. Für unsere
deutschen antifaschistischen Kameraden, die oft mehr als 10 Jahre Folter und Blut ertragen
hatten, wurden die oft enttäuschten Hoffnungen plötzlich Wirklichkeit.
Sie hatten von einem Aufstand des deutschen Volkes gegen Hitler geträumt. Ich möchte an
dieser Stelle einen von ihnen zitieren: Gerhard Zschocher, der seit 1933 in den
Gefängnissen Hitlers saß: "Wir hatten bis dahin die Hoffnung immer noch nicht
aufgegeben,
dass durch die Wende im Kriege bei den Arbeitern im Waffenrock der faschistischen deutschen
Wehrmacht der Denkprozeß fortschreitet und sie dazu bringt, die Waffen umzudrehen und mit
eigener Kraft den deutschen Faschismus niederzuringen".
Die Geschichte hat es so gefügt, dass sich die Dinge anders entwickelt haben als es jene
erhofft hatten, die seit langem gegen die Hitlerdiktatur kämpften oder jene,die seit kurzem
versuchten, den Lauf der Geschichte zu ändern und deren bedeutende Vertreter schließlich zu
uns nach Buchenwald kamen. Wie dem auch sei: sie alle haben die Ehre Deutschlands gerettet,
und wir wollen ihre Leistung am Jahrestag unserer Befreiung würdigen. Ich denke dabei
insbesondere an Menschen wie Emil Carlebach, der so viel für die Rettung der jüdischen und
der Kinder von Sinti und Roma getan hat und den wir an dieser Stelle grüßen, an Willi
Schmidt, der triotz seines fortgeschritten3en Alters immer noch aktiv die Ideale seiner
Jugend vertritt,an Walter Bartel,der uns schon vor langer Zeit verlassen hat und der das
Internationale Buchenwaldkomitee organisiert und geleitet hat.Ich denke an alle diese
Männer aus ganz Europa, die beherzt und m utig in den höchsten Funktionen an der illegalen
Arbeit teilgenommen haben.Es sind zu viele, um sie alle beim Namen zu nennen, aber unter
ihnen waren auch zwei Franzosen, die ihr Leben schon lange vor Kriegsbeginn dem Kampf für
Demokratie und Frieden gewidmet hatten: Oberst Manhés, ein Vertreter General de Gaulles im
besetzten Frankreich und Marcel Paul, ein Arbeiterführer, der im Lager eine wesentliche
Rolle bei der Umsetzung der Aufgaben des Widerstands gespielt hat und der sich besonders
der entscheidenden Frage der Einheit aller Häftlinge im Lager gewidmet hat, ganz gleich
welcher Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung diese waren.
Es sollte auch an die Tschechen Emil Hersel und Alois Neumann, den Polen Jan Lzydorczyk,
den Sowjetrussen Nicolai Kjung,den Jugoslawen Rudi Supek,den Österreicher Otto Horn, den
Belgier Henri Glineur und den Niederländer Jan Haken erinnert werden. Sie alle standen
damals schon stellvertretend für ein im Sinne der Freiheit und des Friedens geeintes
Europa.
Aber ich möchte noch einmal auf diese Befreiung am 11. April 1945 zurückkommen, die schon
so lange zurückliegt und doch in unserem Geist noch s9o präsent ist. Wir haben nie
behauptet, dass der Kampf für unsere Befreiung mit Verdun oder Stalingrad zu vergleichen
ist. Er ist aber dennoch ein historisches Ereignis, und man kann sich fragen, warum es
heute noch Menschen gibt, die mit Vorliebe diese Tatsache bestreiten und die zum Teil
damals noch nicht geboren waren.
Ich beschränke mich darauf, zwei erste Offiziere der amerikanischen Armee zu zitieren, die
das Lager am Tag unserer Befreiung betraten: die beiden Mitglieder des Aufklärungsdienstes
Edward E. Tenenbaum und Egon W. Fleck. Sie schreiben in ihrem offiziellen Bericht: "Wir
kamen an eine Kurve der Hauptstraße und sehen tausende ausgehungerte, in Lumpen gekleidete
Männer, die in disziplinieren Kolonnen nach Osten marschierten. Die Männer war3en bewaffnet
und neben ihnen marschierten ihre Chefs. Einige Gruppen trugen Gewehre, andere Panzerfäuste
über der Schulter."
Diese beiden Aufklärungs-Spezialisten füzhrten die offizielle amerikanische Untersuchung,
in deren Verlauf ca. 120 Zeugen vernommen wurden und die unter dem Namen
"Buchenwald-Report" bekannt geworden ist. Eugen Kogon, ein Katholik aus
Österreich.hats3elbst an der Untersuchung teilgenommen und wesentliche Aussagen des Reports
in seinem Buch "Der SS-Staat" verarbe8itet.
Und ich erinnere daran, dass eben jener Kog9on, der dem Kommunismus wahrhaftig nicht mit
Sympathie gegenüberstand, der aber das Lagerleben bis in seine tiefsten Geheimnisse hinein
kannte, schrieb: "Das Verdienst der Kommunisten um die KL-Gefangenen kann kaum genug
eingeschätzt werden. In manchen Fällen verdanken ihnen die Lagerinsassen buchstäblich ihre
Rettung." Aber auch das Verdienst der anderen Häftlinge darf nicht unterschätzt werden
und das Bespiel von Pfarrer Paul Schneider, um nur von seinem Heldentum zu sprechen, zeigt,
dass auch andere ihre antifaschistische Haltung bewiesen. Man könnte z.B. ebenso die
Sozialdemokraten Hermann L. Brill oder Ernst Thape und den Christdemokraten Werner Hilpert
nennen. Es soll hier keine fruchtlose Polemik geführt, sondern nur Unwissenheit und eine
gewisse Unehrlichkeit aufgezeigt werden.
Ich will diesen Vortrag, der schon zu lang geraten ist, nicht noch mehr ausweiten. Aber wir
können von den tragischen Tagen unserer Befreiung nicht sprechen, ohne das Schicksal
unserer Kameraden in den über ganz Deutschland verteilten Außenkommandos von Buchenwald und
besonders in Ohrdruf oder Gardelegen und Dora zu erwähnen, wo sie unter den schlimmsten
Bedingungen gelebt haben, und gestorben sind. Und wir dürfen die Außenkommandos der Frauen
nicht vergessen, die auf den Todesmärschen umgekommen sind, die oft Tage von wirklichen
Massenvernichtungseinheiten einnahmen.
Und anlässlich des Jahrestages des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion 1941 erinnern wir
an die über 10.000 Offiziere und Kommissare der Roten Armee, die im Buchenwalder
Pferdestall durch Genickschuß getötet wurden.
Ja, meine Damen und Herren, Liebe Kameraden, liebe Freunde, wir dürfen all das nicht
vergessen. Die Menschheit soll wissen, was hier vor mehr als einem halben Jahrhundert
geschehen ist. Und wir müssen daraus lernen. Denn der Kampf ist noch nicht zu Ende. Auch
heute noch wird überall auf der Welt im Namen Gottes, der Freiheit oder aus Rache und ohne
das Recht jedes Einzelnen auf seine Spezifik zu beachten, getötet, vergewaltigt und
gefoltert. Wie vor hundert, tausend und mehr Jahren unterdrücken überall die Starken die
Schwachen und die Reichen erdrücken die Armen. Der israelische Staat bombardiert die
Steinewerfer, die ihrerseits Bomben in Busse legen, die Basken jagen Autobomben in die Luft
und die Korsen Finanzämter. In Angola, Kolumbien und Borneo müssen Kinder Kriegszüge
unternehmen, um nicht getötet zu werden und ihren Hunger stillen zukönnen. Kurden sind auf
schlechten alten Schiffen eingesperrt, Koreaner verhungern, Algerier schneiden sich
gegenseitig die Kehlen durch, auf dem Balkan, der im Vormachtsstreben der größten Weltmacht
und seiner feigen o0dermitschuldigen Verbündeten immer noch ein Explosionsherd ist, zielen
mit Uranium angereicherte Raketen, in der Ukraine sterben Menschen, Afrika wird durch Aids
zerstört, Rinderwahnsinn und Maul- und Klauenseuche bedrohen Europa die Taliban wüten gegen
Frauen und junge Mädchen sowie gegen Statuen, die Todesstrafe ist eine Schande für die USA
und hier, in Frankreich, sowie in Deutschland, unterhöhlen Rassismus, Antisemitismus und
Ausländerhaß die Gesellschaft.
Ich habe nur den verzweifelten Bericht wiedergegeben, den vor kurzem ein französischer
Schrifts6teller aufgestellt hat und dem man noch wei8tere Übel hinzufügen könnte.
Aber, liebe Freunde, wir sind nicht die Klageweiber der Geschichte. Wir sind der noch
lebende Beweis dafür, dass der Kampf für Freiheit, Frieden und Glück immer möglich ist.
Unser langes Leben hat uns gelehrt, dass man nie aufgeben darf, dass im Herzen die Flamme
der Hoffnung und den Willen bewahren muß, eine bessere Welt aufzubauen, eine Welt, die der
Menschheit würdig ist. Diesen Wunsch haben wir mit unserem Schur am 19. April 1945
ausgedrückt. Jetzt müssen Siw ihn in die Tat umsetzen. Und dafür haben Sie unser Vertrauen.
Dr. Pierre Durand, im März 2001
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