Gummi- und Plastikgeschosse in Englands letzter Kolonie
Testfeld Nordirland

"Mein Sohn ist nur noch eine leere Schale, sein Gehirn ist tot, alles, was ich jetzt will, ist, ihn in Ruhe sterben zu lassen." Dies sagte Mrs. Marie McConomy in der Intensivstation des Belfaster Royal Victoria Hospitals (RVH), kurz nachdem sie dem Arzt die Erlaubnis gegeben hatte, die Apparaturen auszuschalten, mit denen ihr elfjähriger Sohn Stephen am Leben erhalten wurde. Stephen war drei Tage zuvor, am 16. April 1982, in Derry von einem britischen Soldaten mit einem Plastikgeschoss am Kopf getroffen worden. Augenzeugen berichten, dass er mit Freunden auf der Strasse gespielt hatte und nicht an den kurz zuvor stattgefundenen Steinwürfen auf Soldaten eines Bombenräumkommandos beteiligt war. (1)

Killed by Plastikbullets

Stephen McConomy ist das vierzehnte Todesopfer durch Gummi- und Plastikgeschosse, seitdem 1970 diese "Aufruhrkontrollwaffe" in "Englands letzter Kolonie" eingeführt wurde; sieben von ihnen waren Kinder: "Sie sind die tragischsten Opfer in einer grotesken Ansammlung von Verletzungen, von denen nur ein Bruchteil in den Medien erwähnt wird: Ausgelaufene Augen, zerschmetterte Hände, dreifach gebrochene Beine, Kopfwunden, die mit 40 Stichen genäht werden müssen, Schädigungen an Nieren, Leber, Leiste und Kehlkopf ...", beschreibt Jonathan Rosenhead, ein britischer Spezialist in Sachen Gummi- und Plastikgeschosse, die Auswirkungen dieser angeblich harmlosen Waffen. (2)

Ausserhalb Nordirlands ist davon so gut wie nichts zu hören: Obwohl die sechs nordirischen Provinzen gerade zwei Flugstunden von der Bundesrepublik entfernt liegen, ist hierzulande kaum mehr bekannt, als dass sich dort angeblich aus religiösen Gründen dickschädelige Iren die Köpfe einschlagen und die britische Armee - wenn auch mit harter Hand - dafür sorgt, dass das Land nicht in einem Blutbad untergeht.


Killed by Plastikbullets

Tatsächlich verteidigt das Vereinigte Königreich hier seinen kolonialen Besitzanspruch auf den Norden Irlands. Der Konflikt geht zurück auf das Jahr 1920: Aissich nach langen Kämpfen gegen die britische Kolonialmacht die 26 südlichen Grafschaften zur Republik Irland erklärten, verblieben die sechs nördlichen Grafschaften, der grösste Teil der "Ulster" genannten Region Irlands, als Preis für die Unabhängigkeit des Südens gewaltsam im britischen Empire. Die "loyal" zur britischen Krone stehende protestantische Oberschicht verteidigte in den folgenden Jahrzehnten zäh ihre Vormachtstellung: Protestantische Unternehmer, in deren Besitz sich der grösste Teil der nordirischen Werften und Spinnereien befand, stellten fast nur Protestanten ein (auf Belfasts grösster Werft beispielsweise waren von 12.000 Arbeitern gerade l Prozent katholisch), die Wahlbezirke wurden nach protestantischen Mehrheitsverhältnissen aufgeteilt, öffentliche Investitionen ungleichmässig verteilt und der Zugang zu Staatsämtern war für Katholiken im allgemeinen ausgeschlossen. Eine rein protestantische Polizei erstickte alle Proteste der republikanischen Minderheit im Keim.

1969 bedurfte es nur einiger Provokationen, um die angespannte Situation zur Explosion zu bringen: Blutige Übergriffe auf Katholiken, verschärft und unterstützt von der Polizei, waren die Folge und führten in den folgenden Jahren zur räumlichen Trennung der Einwohner Belfasts in katholisch-republikanische Stadtteile und protestantisch-loyalistische. Heute teilt ein mehrere Meter hoher Wellblechzaun, die sogenannte Peaceline, Nordirlands Hauptstadt.


Beerdigung von Paul Whitters

 

Beerdigung von Paul Whitters

 

Zum Schutz der katholischen Minderheit wurden britische Truppen nach Ulster verlegt. Schnell zeigten sie sich als weitere Unterdrückungsmacht: 1971 wurden über Nacht Hunderte von Republikanern verhaftet und interniert und ein Jahr später, im Februar 1972, eröffneten britische Soldaten in Derry das Feuer auf eine der zahlreichen Bürgerrechtsdemonstrationen: 14 Menschen blieben an diesem "Bloody Sunday" tot auf der Strasse liegen.

Seitdem findet in Nordirland ein ununterbrochener Kleinkrieg statt: Die kleinen, in mobilen Zellen operierenden Guerillagruppen der Irisch Republikanischen Armee (IRA) und der Irischen Nationalen Befreiungsarmee (INLA) halten mit Bombenanschlägen und Feuerüberfällen die Sicherheitskräfte in Atem und können trotz grösster Anstrengungen militärisch nicht besiegt werden, weil sie über einen nicht unerheblichen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Auf der Gegenseite haben Armee und Polizei ein umfangreiches System alltäglichen Terrors gegen die gesamte katholischrepublikanische Bevölkerung aufgebaut und Nordirland in Europas Testfeld für moderne Unterdrückungstechnologien verwandelt: Hier wurde bereits Ende der 60er Jahre in grossem Stil CS-Gas eingesetzt, moderne Verhörmethoden ausprobiert, ein fast lückenloses System der Videoüberwachung in den katholischen Stadtteilen installiert und in einem Armeecomputer umfangreiche Datensammlungen über die gesamte katholische Bevölkerung gespeichert. (3)

Trotzdem ist der Widerstandsgeist der republikanischen Bevölkerung ungebrochen: Als vor zwei Jahren während des Hungerstreiks republikanische Gefangener für menschenwürdige Haftbedingungen und politischen Status als Kriegsgefangene, das IRA-Mitglied Bobby Sands von mehreren zehntausend Menschen in das Londoner Unterhaus gewählt wurde, mussten britische Regierung und Öffentlichkeit mit Erschrecken feststellen, dass die "Terrororganisation" IRA und ihr politischer Flügel, die Sinn Fein Partei, über einen beträchtlichen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Die Antwort bestand aus einer Verstärkung des alltäglichen Drucks auf die Bevölkerung: Die Präsenz von gepanzerten Jeeps und schwerbewaffneten Fusspatroullien in West-Belfast, dem katholischen Teil von Nordirlands Hauptstadt, nahm spürbar zu, die Wohnviertel wurden mit einer Welle von Hausdurchsuchungen überzogen und Menschenansammlungen schnell und brutal aufgelöst. Hauptsächliches Unterdrückungsmittel waren dabei Plastikgeschosse, die "an einigen Tagen wie Konfetti abgeschossen wurden", wie eine Bewohnerin West-Belfasts berichtete.

Die Opfer


Gummigeschoss in Hüse

Der erste, der durch ein Plastikgeschoss getötet wurde, war der 10-jährige Stephen Geddis aus Belfast. Er wurde am 28. August 1975 seitlich am Kopf getroffen und starb drei Tage später. Ein Reporter der Sunday Times berichtete über diesen Fall: "Auf keinen Fall war Stephen einer der wilden Jungen der Stadt. Er war sehr schüchtern und ging kaum nach draussen, sondern beschäftigte sich mit seinen Spielsachen und übte Gitarre und Mundharmonika. "Im Sommer war er auf einer vom britischen Kinderschutzbund geförderten USA-Reise gewesen. Am 5. August kam er zurück und weigerte sich, draussen zu spielen. "Er flehte seine Eltern an, nach Amerika zurückgehen zu dürfen. Als er nach drei Wochen das Haus noch immer nicht verlassen hatte, bestand Stephens Vater darauf, dass der Junge nach draussen zum Spielen ginge. " Dort hatte in der Nähe eine Gruppe von etwa dreissig Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren begonnen, Steine auf Soldaten zu werfen. Die Soldaten waren damit beschäftigt, einige Kissen von der Strasse zu entfernen, die von den Jungen angesteckt worden waren. Augenzeugen berichteten später, dass Stephen daran nicht beteiligt war. Dann feuerte ein Soldat, der einige Jungen verfolgte, ein Plastikgeschoss ab. Stephen, der knapp 40 Meter entfernt war, fiel mit einer Kopfwunde zu Boden. (4)

 

Gummigeschoss in der Hülse

 

1981, während des Hungerstreiks im Gefangenenlager Long Kesh, starben im Sommerhalbjahr sieben Menschen durch Plastikgeschosse. Drei von ihnen waren Kinder: Der 15-jährige Paul Whitters, die 14-jährige Julie Livingstone und die zwölfjährige Carol Ann Kelly. Die anderen waren: die 30-jährige Hausfrau Nora McCabe und drei Männer in den Vierzigern, Henry Duffy, Peter Doherty und Peter Magennis. Zu jedem dieser Todesfälle liegen umfangreiche Augenzeugenberichte vor, die belegen, dass niemand von ihnen an Krawallen beteiligt war. Fünf von den sieben starben an Kopfverletzungen, einer an Brustkorbverletzungen, einer hatte sowohl Kopf- als auch Oberkörperverletzungen.

Carol Ann kam am 19. Mai mit einer Tüte Milch für ihre Mutter vom Einkaufen zurück. Vor dem Nachbarhaus wurde sie von einem Plastikgeschoss, das aus einem vorbeifahrenden Jeep gefeuert wurde, am Kopf tödlich getroffen. Sie starb drei Tage später. Augenzeugen bestätigen, dass zum Zeitpunkt des Schusses keinerlei Unruhen im Viertel waren. Sie gaben auch an, dass die Soldaten im Jeep sehr gereizt waren, denn kurz zuvor hatte die IRA in South Armagh fünf britische Soldaten getötet. "Wir werden euch schon kriegen für unsere fünf Kameraden", hatten die Soldaten den Bewohnern des Belfaster Stadtteils Twmbrook zu gerufen. (5)


Killed by Plastikbullets

In den drei Monaten von Mai bis August 1981 wurden zusatzlich 161 schwere Verletzungen durch Plastikgeschosse in Belfaster Krankenhausern behandelt. Vier der in diesem Jahr Verletzten verloren ein Auge, mehrere erlitten Schädelbrüche. Ein Junge leidet seitdem an epileptischen Anfallen und zwei Personen werden voraussichtlich für immer teilweise gelahmt bleiben. (6)

Unter den vielen verletzten Kindern war auch der 12-jährige Paul Corr. Er hielt sich am 28. August 1981 in der Nähe seiner Wohnung in West-Belfast auf, als Soldaten der Royal Marine Commandos aus einem vorbeifahrenden Landrover auf ihn schossen. Es gab zu der Zeit in der Gegend keine Unruhen. Das Plastikgeschoss riss Paul einen Teil der Nase weg, zertrümmerte den Gaumen und trieb seine Zähne in den Oberkiefer und Gaumen hinein.


Tödliche Waffen

Plastikgeschoss

Als 1970 RUC und britische Armee in Nordirland mit Gummigeschossen ausgerüstet wurden, hatte diese Waffe schon eine Geschichte. Sie begann in der britischen Kolonie Hongkong, wo in den Wer Jahren eine Teakholz-Version eingesetzt wurde, aus der das Gummigeschoss als Weiterentwicklung entstand. Ab 1973 wurden Gummigeschosse durch Plastikgeschosse aus PVC ersetzt und von diesen bis 1975 fast vollständig verdrängt.

Gummigeschosse sollten ursprünglich auf den Boden geschossen werden, dort abprallen und Demonstranten an den Beinen oder am Unterleib treffen. Ihre Flugbahn wurde schnell instabil, so dass sie nur beim Einsatz aus ca. 20 Metern Entfernung genau trafen. Plastikgeschosse sind im Gegensatz dazu auch aus grösseren Entfernungen treffgenau auf ein Ziel zu feuern, Armeevorschriften empfehlen eine Distanz von mindestens 20 Metern.

 

Plastikgeschoss mit Hülse

 

Oberflächlich gesehen haben beide Typen Ähnlichkeiten. Das Plastikgeschoss ist kurzer als das Gummigeschoss, harter, aber etwas leichter als dieses. Das Plastikgeschoss verlässt das Gewehr mit fast 260 km/h. beim Gummigeschoss waren es ca. 200 km/h. (7)

Gummi- und Plastikgeschosse werden von Soldaten zusätzlich auch noch "behandelt". Ein ehemaliger Offizier der britischen Armee gab an: "Ich habe Soldaten, die in Nordirland gedient haben, damit angeben hören, dass sie zerbrochene Rasierklingen oder Nagel in die Gummigeschosse hineinsteckten, um sicherzugehen, dass sie jemanden verletzen. " Besonders häufig soll vorgekommen sein, dass Gummigeschosse ausgehöhlt und mit Taschenlampenbatterien aufgefüllt wurden. Augenzeugen berichten, dass das Gummigeschoss, das 1972 den elfjährigen Francis Rowntree tötete, so behandelt war.

Auch Plastikgeschosse werden mit abgeschlagenen Flaschenhälsen, Glasscherben und Rasierklingen "behandelt", angespitzt oder durch das Ankleben von Münzen an den Enden noch gefährlicher gemacht. (8)


Killed by Plastikbullets

Gummi- und Plastikgeschosse gehören in das Arsenal sogenannter Anti-Riot-Weapons (Aufruhrbekämpfungswaffen). Sie sind nach der Logik ihrer Anwender dort einzusetzen, wo der Schusswaffengebrauch einen Sturm des Protestes auslösen würde. Entscheidend für die Wahl des Einsatzmittels ist nicht die tatsächliche Gefährlichkeit, sondern das Bild in der Öffentlichkeit, speziell wenn Fernsehteams vor Ort dabei sind. Gerade bei Gummi- und Plastikgeschossen ergibt sich dieser Effekt auch dadurch, dass der Tod meist erst nach einigen Tagen eintritt und nur noch eine Kurzmeldung wert ist.

Als die britische Armee 1970 Gummigeschosse in Nordirland einführte, bemühte sie sich sehr um eine öffentlichkeitswirksame Darstellung dieser "harmlosen Waffe". Ein Reporter des liberalen Guardian beschrieb, wie im Juli 1970 der " charmante Presseoffizier" der Kings Own Scottish Borderers "die weichen wabbeligen Dinger den Reportern zeigte". Er zitiert den Ausspruch eines Kollegen: "Bald werden sie Geschütze mit Konfetti auffahren ... man kann diese Dinger wirklich nicht ernst nehmen". (9)

"Das Prinzip ist nicht die geringste Gewalt, sondern die geringste politische Reaktion", zitierte 1977 das (kritische) Standardwerk "The Technology of Political Control" einen Wissenschaftler des Edgewood-Arsenals-Institute dei US-Armee. (10)


Carol-Ann Kelly Carol-Ann Kelly

 

Carol-Ann Kelly (12 J.), gest. 12. Mai 1981

 


Die Täter

44.000 Plastikgeschosse wurden von 1973 bis 1981 in Nordirland von britischen Soldaten und Polizisten der Royal Ulster Constabulary/RUC abgefeuert. Fast 100.000 Gummigeschosse verliessen von 1971 bis 1975 die Gewehre von Armee und Polizei. Der Einsatz von Gummi- bzw. Plastikgeschossen kann mit einer Fieberkurve der nordirischen Innenpolitik verglichen werden. Jedesmal, wenn viele Menschen auf die Strasse gingen, um gegen die britische Regierungspolitik zu protestieren, stieg die Zahl der abgefeuerten Geschosse. 16.000 Gummigeschosse wurden 1971 abgefeuert, als Tausende gegen die Internierung von Republikanern ohne Gerichtsverhandlung protestierten. 1972 waren es über 23.000 Gummigeschosse, die verschossen wurden. Allein im Februar 1972 waren es ca. 4.000, als es nach dem Bloody Sunday überall in Nordirland zu Unruhen kam. 1981 stieg die Zahl der gefeuerten Plastikgeschosse abermals enorm: Im April 1981 waren es fast 2.000, im Mai allein 16.500. (11)

Gummi- und Plastikgeschosse sollten die traditionellen Distanz-Einsatzmittel, Wasserwerfer und CS-Gas, ersetzen, deren Einsatz sich in geschlossenen Stadtgebieten als ungünstig für Polizei und Militär erwiesen hatte. In Nordirland haben diese Geschosse allerdings stets nur eine ergänzende Rolle zum Einsatz scharfer Munition gespielt, die ihre Todesopfer bei weitem nicht nur in den Reihen der IRA und INLA fanden. Die Opfer sind überwiegend Passanten, unbewaffnete Demonstranten, Frauen, die mit Trillerpfeifen und Mülleimerdeckeln gegen die ständige Militärpräsenz und die britische Besatzungspolitik protestieren sowie Kinder und Jugendliche, die auf gepanzerte und schwerbewaffnete Patroullienfahrzeuge Flaschen und Steine werfen. Bitter kommentiert ein Bewohner des republikanischen Häuserblocks "Divis Fiats" das Ausmass des britischen Alltagsterrors:


Häserkampf

"Die Strafe für Teilnahme an Krawallen lautet meistens sechs Monate, aber nicht Tod. Die Strafe für zehnjährige Kinder, die Steine auf schwergepanzerte Fahrzeuge schmeissen, sollte eine Ohrfeige sein, aber nicht der Tod. Aber wir erleben die Situation, dass die Strafe dafür, Katholik zu sein (kein Plastikgeschoss wurde je in loyalistischen Stadtteilen abgefeuert), in unseren eigenen Strassen spazieren zu gehen oder nur in unseren Fenstern zu stehen, der Tod ist." (12)

Neben den bereits geschilderten Situationen ist auch der folgende Vorfall typisch für die tatsächlichen Umstände, die von Polizei und Armee gegenüber der Öffentlichkeit aus Gründen der "Gefahrenabwehr" als gerechtfertigte Anlässe für den Einsatz dieser Geschosse dargestellt werden: Am 9. Oktober vergangenen Jahres hatten etwa 40 junge Leute im Belfaster Lake Glen Hotel eine Party gefeiert. Gegen Ende der Veranstaltung stürmten 25 RUC-Polizisten den Raum und feuerten Dutzende von Plastikgeschossen wahllos in die Gruppe. "Sie kamen durch die Tür und feuerten Plastikgeschosse. Ich sah nur die Blitze und alle begannen zu schreien und in Richtung der Toiletten zu laufen, um sich zu verstecken. Sie feuerten in der Gegend herum ohne Grund, niemand hatte ihnen irgendetwas getan. "Einer von ihnen griff mich und als ich sagte, ich wolle meinen Mantel holen, stiess er mir das Gewehr ins Gesicht und drohte, mich zu erschiessen. Dann schlug er mit dem Gewehr auf meinen Hinterkopf" berichtete ein Augenzeuge. Es ist ein Wunder, dass niemand bei diesem Überfall getötet wurde. Für die Polizei, so lautete es später in einem Statement, bestand die Rechtfertigung in einer ihr gegenüberstehenden ("feindlichen Menge") ... Saturday-Night in Belfast, 1982.(13) ..Das Plastikgeschoss ist eine reine Defensivwaffe, um Krawallanten auf Distanz zu halten", formulierte zur selben Zeit das britische Nordirland-Ministerium. (14)

Kein britischer Soldat oder RUC-Polizist ist in den über elf Jahren des Einsatzes von Gummi- und Plastikgeschossen zumindest wegen Verstosses gegen die Dienstvorschriften vor Gericht verurteilt oder sonstwie disziplinarisch belangt worden. Armee und Polizei versuchen vielmehr, Prozesse zu verhindern, indem sie Zeugen und Opfer einschüchtern. Mrs. Toner, die sich als Zeugin für den Tod von Carol Ann Kelly bei der Polizei meldete, erlebte, wie am selben Abend auf ihr Haus Plastikgeschosse gefeuert wurden. Opfer und Angehörige, die Anzeige erstatten, haben mit Gegenanzeigen wegen "aufrührerischem Verhalten" zu rechnen. Stehen trotzdem Gerichtsverhandlungen ins Haus, versuchen Armee und RUC sich mit Entschädigungsgeldern vorab aus der Affare zu ziehen, denn diese Gelder werden unter der Bedingung gezahlt, dass auf weitere Verfahren verzichtet wird. Summen zwischen 30 - 40.000 Pfund für ein ausgeschossenes Auge sollen verhindern, dass die Schuld der staatlichen Schützen öffentlich bestätigt wird.

Zudem werden die Todesschützen von ganz oben gedeckt. Der in London zuständige Director of Public Prosecution (Generalstaatsanwalt) entschied bisher - trotz Vorlage der erwähnten Augenzeugenberichte - in keinem Fall für die Aufnahme eines Verfahrens zur Untersuchung der Todesumstände. (15)

Comix

Arroganz der Macht

Weder die offensichtliche Gefährlichkeit von Plastikgeschossen, noch ballistische Untersuchungen aus den USA, weder Augenzeugenberichte noch medizinische Gutachten konnten die britische Regierung bislang davon abhalten, weiterhin Plastikgeschosse einzusetzen, denn ausserhalb Nordirlands ist kaum etwas von den täglichen Schikanen und Gewalttätigkeiten der britischen Armee und der Polizei gegen die Bevölkerung der katholischen Gemeinden bekannt. Dafür sorgt die nahezu gleichgeschaltete Nordirlandberichterstattung in Grossbritannien, deren Filterwirkung nur Fragmente des Geschehens bis auf den Kontinent durchlasst. In den Pressemitteilungen von Armee und Polizei heisst es lapidar, "Aufruhr" und "Krawalle" hatten den Einsatz von Gummi- und Plastikgeschossen erforderlich gemacht ...

Auch vor Lugen wird dabei nicht zurückgeschreckt. Die Irish Times, eine bürgerliche katholische Tageszeitung, enthüllte diesen Mechanismus anlässlich des Todes von Brian Steward, der 1976 als 11jähnger durch einen Schuss direkt ins Gesicht ums Leben kam: "Die erste Erklärung der Armee lautete, dass zwei Streifen von steinewerfenden Jugendlichen angegriffen worden seien, dann von einer Menge von 400 Leuten. Sie hatten einige Geschosse abgefeuert, um sich selbst zu befreien. Unglücklicherweise traf ein Geschoss einen dreizehnjährigen Jungen. Später erklärte der Kommandeur des verantwortlichen Regiments, der Junge sei ein .Anführer der Steinewerfer gewesen. Währenddessen bleiben die Anwohner dabei, dass es weder eine Menschenmenge noch einen Aufruhr gegeben hat und dass der Junge mit ein paar Freunden an der Ecke stand, als die Soldaten das Feuer eröffneten. Daraufhin haben sich die Menschen voller Wut versammelt" (20).

Im Fall des elfjährigen Stephen McConomy aus Derry funktionierte die Rechtfertigungslüge bis hinein in die bundesdeutsche Presse. Stephen wurde, wie eingangs erwähnt, am Abend des 16. Aprils 1982 von einem Plastikgeschoss so schwer verletzt, dass er drei Tage später starb. Stephen hatte mit Freunden auf der Strasse gespielt. In der Nahe hatte die Armee eine Strassensperre errichtet, auf die einige Steine geworfen wurden. Einige Zeit später, als alles wieder ruhig war, schoss ein Soldat auf Stephen und traf ihn tödlich. Augenzeugen berichteten übereinstimmend, dass Stephen auch an den Steinwürfen zuvor nicht beteiligt war. In der Frankfurter Rundschau fand sich eine Meldung der "Katholischen Nachrichtenagentur" aus Londonderry (wie Derry auf britischen Atlanten genannt wird), in der es hiess, dass ..vier Salven Plastikgeschosse abgefeuert (wurden), um eine Demonstrantenmenge aufzulösen, die eine britische Streife mit Steinen und Benzinbomben beworfen hatte" (21).

Der Einsatz von Plastikgeschossen habe sich als "der erfolgreichste Weg, mit den schweren Unruhen in Nordirland umzugehen" erwiesen, der mit dem "Prinzip der geringsten Gewalt" zu vereinbaren sei, bilanzierte Nordirland-Minister James Prior (22). Was für Ulsters Katholiken recht ist, kann für Jugendliche und Farbige auf der britischen Insel nur billig sein:

Nach den Jugendunruhen in Toxteth (Liverpool) und Brixton (London) haben auch in Grossbritannien 15 von 43 Polizeibehörden Plastikgeschosse angeschafft (23).

Aber erst die Aufrüstung der Polizei im eigenen Land hat die britische Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit der Plastikgeschosse aufmerken lassen und bisher den Einsatz als nicht opportun erscheinen lassen.

Als das Europa-Parlament im letzten Jahr auf Antrag irischer Abgeordneter mit überwältigender Mehrheit eine Resolution gegen den Einsatz von Plastikgeschossen in Europa verabschiedete, erklärte die britische Regierung diese Entscheidung als "Einmischung in die inneren Angelegenheiten", die Europa-Parlamentarier kurzerhand für inkompetent und erklärte offen, sie werde sich an diesen Beschluss nicht halten. Stattdessen empfahl James Prior, Gegner der Plastikgeschosse sollten ..lieber die Eltern ermutigen, ihre Kinder nicht mehr nach draussen auf die Strasse zu lassen" (24).

Comix

Ban them now!

Trotz des Einsatzes von Gummi- und Plastikgeschossen und auch scharfer Munition, trotz willkürlicher Razzien, Hausdurchsuchungen, Massenfestnahmen, Ausgangssperren und weiträumiger Bespitzelung und Überwachung der katholischen Ghettos in Nordirland ist es der britischen Regierung nicht gelungen, Ruhe im Land herzustellen. Angetreten als "Schlichter im Religionskampf" zwischen Protestanten und Katholiken ist die britische Armee zu einer Besatzungsmacht geworden, der die überwältigende Ablehnung durch die Bevölkerung täglich entgegenschlägt. Die ständig patroullierenden Armee- und Polizeistreifen bewegen sich wie m einem feindlichen Land, weil niemand sie anspricht und noch nicht einmal anschaut. Und seitdem im letzten Herbst die Sinn-Fein in fünf Wahlkreisen für das nordirische Parlament die Mehrheit erringen konnte, sieht die Thatcher-Regierung mit Entsetzen nach den m diesem Herbst anstehenden Wahlen zum Unterhaus auch den politischen Arm der IRA in London repräsentiert.

Dem Abzug der Briten aus Nordirland steht heute nur noch das Beharren auf einem kolonialen Machtanspruch entgegen: Schon langst haben sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme derartig verschärft, dass das Elend mit kostspieliger militärischer Präsenz lediglich verwaltet werden kann. Eine Arbeitslosigkeit von bis zu 80 Prozent in den katholischen Stadtteilen, keinerlei Zukunftsaussichten für die Jugendlichen und der Verfall ganzer Strassenzuge sind die offensichtlichen Folgen der britischen Herrschaft

Der Einsatz von Gummi und vor allem Plastikgeschossen hat die Angst, auf die Strasse zu gehen, zwar vergrössert, aber auch die Anstrengungen, international die Gefährlichkeit dieser Waffen aufzuzeigen und ihren Einsatz zu beenden

Besonders aktiv ist die Belfaster "Association for Le gal Justice" (ALJ), eine Bürgerrechtsorganisation von Hausfrauen, Lehrern, Eltern und Pfarrern, die seit Jahren alle zugänglichen Falle von Verletzungen und Todes fallen durch Plastikgeschosse aufnimmt und technische sowie medizinische Untersuchungen zusammentragt 1981 und 1982 hat sie internationale Tribunale gegen Plastikgeschosse organisiert und zwei umfangreiche Dokumentationen publiziert Vertreter der ALJ erklärten gegenüber den Autoren dieser Broschüre, dass es in erster Linie wichtig sei, das "Schweigen zu durchbrechen" "Wir sind hier die Meerschweinchen der britischen Armee - alles, was hier eingesetzt und ausprobiert wird, kommt mit einiger Verzögerung auch auf dem Kontinent zur Anwendung CS-Gas und CR, Videoüberwachung, Verhörmethoden, Speicherung von ,low informations' (Daten, die die persönlichen Lebensbereiche abdecken, wie Aussehen der Wohnung, Freundes und Bekanntenkreis, Stammkneipen u a m , Anm ) - ein Testfeld für eine ganze Latte von Technologien der Unterdrückung Ihr musst bei Euch unbedingt verhindern, dass Gummigeschosse eingesetzt werden, weil sonst aus lauter Angst niemand mehr auf die Strasse zu gehen wagt "

Aber auch Betroffene selbst sind aktiv Im letzten April fuhr Mrs Emma Groves, eine altere Dame aus West Belfast, die 1972 durch ein Gummigeschoss beide Augen verlor, in die USA Begleitet wurde sie von Alec McLaughhn aus Derry, der 1981 ein Auge verlor, als britische Soldaten in eine Gruppe Jugendlicher feuerte, die vor einer Tanzhalle standen Sie führten eine Reihe von Informationsveranstaltungen vor irischen Aus landsgruppen durch und brachten die Aktionarsver Sammlung der Firma Allegheny International, die die Plastikgeschosse für die britische Armee produziert und an der viele Amerikaner irischer Abstammung beteiligt sind, davon ab, weiterhin Plastikgeschosse herzustellen Kurz nachdem Mrs Groves aus den USA zurückgekehrt war, führte die Armee eine Hausdurchsuchung bei ihr durch (25)

Nach der erfolgreichen Abstimmung im Europaparlament gegen Plastikgeschosse will die Mutter Brian Stewarts jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof Klage gegen die britische Regierung wegen Verletzung der Menschenrechte fuhren Der Fall ist von internationalem Interesse Bei einem Erfolg wäre der Richterspruch der erste, der gegen die Verwendung von bestimmten Waffen in internen Konflikten gefallt wurde Er konnte ein Präzedenzfall werden für ähnliche Prozesse gegen die Verwendung der in zwischenstaatlichen Konflikten geächteten Kampfgase CN und CS.

Neben der Verhinderung des Einsatzes von Gummigeschossen in Baden Württemberg fallt dem Protest in der Bundesrepublik dabei noch eine weitere Aufgabe zu Üben doch Soldaten der britischen Rheinarmee, die sich hierzulande von ihren Einsätzen in Nordirland erholen, in der Nahe von Munster in einem dort aufgebauten Modell Belfaster Strassenzuge auch den Einsatz von Plastikgeschossen - alles im Rahmen der von der Bundesregierung bezahlten Stationierungsabkommen mit Grossbritannien.

Quellen:

  1. An Phoblacht / Republican News (AP/RN) 22.4.82
  2. zit n They Shoot Children - The Use of Rubber and Plastic Bullets in the North of Ireland hrsg v d Information on Ireland Gruppe London 1982 ISBN 0 9507381 2 3
  3. zit n Lessons on Ireland hrsg v BSSRS - Bntish Society for Social Response in Science London 1974 neu in The Technology of Political Control 2 überarbeitete Auflage London 1980 ISBN 0 86104 307 3 und Report of an Amnesty International Mission to Northern Ireland (28.11.-6.12.1977) AI Index EUR 45/01/78
  4. Augenzeugenberichte über Verletzungen und Todesfalle bis Juli 1981 in Rubber & Plastic Bullets Kill & Maim hrsg v Fr Dems Faul u Fr Raymond Murray für den ersten internationalen Kongress über Plastikgeschosse Belfast 1981
  5. zit n (4)
  6. zit n (2) u (4)
  7. zit n (2)
  8. zit n (2)
  9. zit n (2)
  10. zit n (3) The Teehnology
  11. zit n (4)
  12. zit n (2)
  13. Augenzeugenberichte über Einsätze Verletzungen und Todesfalle ab August 1981 in Plastic Bullets - Plastic Government hrsg v Fr D Faul u Fr R Murray für den zweiten internationalen Kongress über Plastikgeschosse Belfast 1982 Bericht über den Vorfall im Lake Glen Hotel in AP/RN 4.10.82
  14. zit n (13) Briefwechsel d Fr D Faul u Fr R Murray mit d Nordirlandministerium
  15. zit n (2) (4) u (13)
  16. Injunes Caused by Rubber Bullets A Report on 90 Patients Bnt Journ of Surg Vol 62 Seiten 480 486 deutsche Übersetzung in Ruhe oder Chaos - Technologie politischer Unterdrückung Hamburg 1982
  17. zit n (13) Briefwechsel
  18. The Guardian 15.5.82 Fortmght Mai/Juni 1982 The Irish Medical Times 7.5.82
  19. Hospital Doctor 17.6.82
  20. Wieland Giebel Das kurze Leben des Brian Steward, Elefanten Press Berlin 1981
  21. Frankfurter Rundschau 22.4.82
  22. zit n (13) Briefwechsel
  23. Antwort von Innenminister William Whitelaw auf eine Anfrage des MP Roy Hattersley Offical Report 18.11.82 Col 400
  24. zit n (13)
  25. AP/RN 27.5.82