Hamburg: Razzia
DIE SCHWULE BAUSTELLE, Hamburg
Ein unaufgeklärter Mord - Razzia & Speichellecken in der Talstraße
Im Zuge einer "groß angelegten Polizeiaktion, also sagen wir mal 'Razzia',
wenn sie so wollen" (Herr Petersen, Pressesprecher der Hamburger Polizei)
erhielten Wunderbar und Mystery Hall in der Nacht vom 24. auf den 25.
Februar Besuch von einer Hundertschaft Polizei und der Hamburger
Boulevardpresse. Die Talstraße wurde drei Stunden lang abgesperrt. Ein
Sprecher der Polizei berief sich in einer kurzen Ansage auf Ermittlungen zum
Mord an Timothy Smart Anfang Januar 2001 und bat um die Mithilfe der Gäste.
Die Personalien sämtlicher Anwesender, insgesamt mehr als 200 Personen,
wurden computerüberprüft.
Der allgemeinen Aufforderung zur freiwilligen Abgabe von Speichelproben kam
ein nennenswerter Anteil der Anwesenden nach, wobei die Polizei keine genaue
Anzahl bekannt gibt. Während der weitere Musikbetrieb und Getränkeverkauf in
der Wunderbar sofort untersagt wurden, zog sich die Überprüfung hinter
Absperrungen auf der Talstraße und bei Minustemperaturen bis kurz vor 6 Uhr
hin. Die Atmosphäre war dabei keineswegs so entspannt, wie dies in der
Presse dargestellt wurde, sondern durch Druck und Angst geprägt, wie mehrere
Gäste der Wunderbar berichteten.
Schwulenrazzien dieser Art und Größenordnung dürften die meisten aus der
jüngeren Generation noch nicht erlebt haben - sind älteren Schwulen und
Lesben aber durchaus noch bekannt. Massive Polizeikontrollen in Bars und an
anderen Treffpunkten gehörten bis weit in die sechziger Jahre zum Alltag in
der homosexuellen Subkultur und waren wesentlicher Bestandteil der
homophoben Repression.
Die Verunsicherung in der Szene durch die jüngste Razzia ist dementsprechend
groß.
Fakten zum Mord
Tim Smart wurde Anfang Januar erstochen in seiner Wohnung aufgefunden. Er
war am 7. Januar gegen 6.00 Uhr zum letzten Mal in der Wunderbar gesehen
worden, die er allein verlassen hat. Laut polizeilichen Ermittlungen hat er
zu einem späteren Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Reeperbahn
ein Taxi bestiegen. Die Polizei geht davon aus, dass Tim seinen Mörder
selbst in die Wohnung gelassen hat. Dort fanden sich keine auffälligen
Kampfspuren oder Indizien für einen Raubmord.
Selbstverständlich muss Tims Mörder gefunden werden. Die von der Polizei
durchgeführte Razzia scheint hierfür allerdings keine geeignete Maßnahme zu
sein. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es in der Talstraße zwei
Raubüberfalle mit offenbar anti-schwulem Hintergrund in den drei Tagen vor
Tims Ermordung gab, die die Polizei selbst mit dem Mord an Tim in
Zusammenhang bringt.
Um so verwunderlicher, dass der Mörder nun unter den Gästen einer
Schwulen-Bar oder eines schwulen Pornokinos gesucht wird.
Der kriminologische Sinn der Talstraßen-Razzia - sieben Wochen nach dem Mord
- ist für Laien der polizeilichen Ermittlungswissenschaft kaum
nachvollziehbar. Es müsste schon ein sehr großer Zufall sein, dass der
Mörder sich just an diesem Abend in der Bar oder dem Kino aufgehalten hat.
Wer sagt uns, dass der Mörder überhaupt dort verkehrt? (Tim hat die
Wunderbar in der Mordnacht alleine verlassen.) Hätte Tim an dem Abend den
Mojo-Club oder das Café schöne Aussichten besucht, wären auch dort Razzien
durchgeführt worden?
Homophobe Logik
Der ganzen Rechtfertigung für die Talstraßen-Razzia liegt eine zutiefst
homophobe Logik zugrunde: die Konstruktion eines in sich geschlossenen
"homosexuellen Milieus", in dem Verbrechen begangen werden. Tim war schwul,
also muss man die Schwulen checken, wenn man was rausfinden will!
Die Vorstellung eines "homosexuellen Milieus", diesen Begriff benutzen
Polizei und (Hetero-)Presse, entstammt dunkler deutscher Vergangenheit. Die
vermeintlichen Angehörigen dieses "Milieus" werden kriminalisiert, sie
werden zum kollektiven Ermittlungsgegenstand, d. h. in diesem Fall: Die
Gäste von Wunderbar und Mystery Hall werden automatisch zu Verdächtigen in
einem Mordfall.
So läuft die Ermittlungsarbeit der Polizei offensichtlich unter dem
Obertitel "Mord im Homo-Milieu", obwohl die Polizei selbst durchblicken
lässt, dass sie bisher herzlich wenig über den Hintergrund des Mordes weiß.
Morde gibt es laut dieser Milieu-Theorie auch im "Dealer-Milieu" oder im
"Obdachlosen-Milieu", aber von "Manager-Milieus", "Steuerbeamten-Milieus",
"Polizisten-Milieus" haben wir noch nichts gehört, auch nicht von Morden,
die einem "Hetero-Milieu" zugeordnet werden und die die Kriminalisierung
aller heterosexuell lebenden Menschen nach sich ziehen.
Die Talstraßen-Razzia ist darüber hinaus Ausdruck von Hilflosigkeit und
Inkompetenz der Polizei in Bezug auf den aufzuklärenden Mord und
Datensammelleidenschaft im allgemeinen. Inwiefern helfen die DNA-Daten einer
freiwillig Speichel
spendenden Minderheit einer willkürlich zusammengewürfelten schwulen Menge
bei der Ermittlung des Mörders? Was passiert mit den Daten? Gelangen sie vom
Ordner der Mordkommission in die Schwulenkartei der Hamburger Polizei?
Daten-Sammelleidenschaft
DNA-Analysen werden von der Polizei seit einigen Jahren als die
Ermittlungsmethode schlechthin dargestellt. Spektakuläre Verbrechen,
insbesondere Sexualmorde, werden dabei herausgegriffen, um die Akzeptanz
solcher Maßnahmen in der Bevölkerung zu erhöhen. Mit einer entsprechenden
medialen Inszenierung wird in bestimmten Gruppen oder in einzelnen Orten
Druck ausgeübt, an "freiwilligen" Speicheltests teilzunehmen. Dabei werden
die wenigen Fälle, in denen ein Speicheltest zur Ermittlung des Täters
führt, als Belege für die Richtigkeit dieses Vorgehens angeführt.
Nicht alle zum Kreis der Verdächtigen gehörenden Menschen, der in der Regel
ja sehr groß ist, werden aufgerufen, an diesen freiwilligen, d. h. nicht
gerichtlich angeordneten Speicheltests teilzunehmen. So wurden 1998 in
Bochum mehrere hundert Männer, deren Aussehen eine entfernte Ähnlichkeit mit
dem Phantombild eines Serienvergewaltigers hatte, zu einem Speicheltest
aufgerufen, während Polizisten, die dem Täterbild ähnlich sahen, davon
ausgenommen waren.
Inzwischen werden Speicheltests, die eigentlich nur bei schweren Verbrechen
gerichtlich angeordnet werden sollen, auch auf zahlreiche andere
Personengruppen ausgedehnt oder sollen ausgedehnt werden: Strafgefangene,
Asylbewerber, "Kleinkriminelle", linksradikale politische Aktivisten.
Letztlich sind DNA-Analysen Teil von Bestrebungen, die darauf abzielen, das
Genmaterial der gesamten Bevölkerung zu speichern und für unterschiedliche
Zwecke zugänglich zu machen: für Überwachung und Ausbeutung. So hat etwa der
Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche jüngst den gesamten Genpool der
isländischen Bevölkerung für 300 Millionen Schweizer Franken gekauft.
Bereits in den 90er Jahren wurde von Arbeitgebern die Einführung von
Gentests bei Einstellungen geplant, um so feststellen zu können, ob
zukünftige Angestellte möglicherweise unter Erbkrankheiten leiden. Was
damals technisch noch nicht machbar war, ist heute nicht vom Tisch.
Grundsätzlich gilt natürlich: Alle digitalisierten Daten können leicht
weitergegeben und ausgetauscht werden. DatenschützerInnen haben wiederholt
darauf hingewiesen, dass das Sammeln von DNA-Informationen problematisch ist
und nur unter bestimmten Bedingungen möglich sein sollte. Dass
Polizeidienststellen nicht gerade der Ort sind, an dem Datenschutz groß
geschrieben wird, ist als gesicherter Erfahrungswert anzusehen.
Und was passiert, wenn der Mörder trotz der Razzia nicht gefunden wird? Eine
zweite Razzia? Und wenn es einen weiteren Mord gibt, dann auch im Salvation,
im Café Gnosa und Corny Littmanns Schmidt-Theater?
Früchte der Kooperation
Dass die Polizei so arbeitet, ist an sich bedenklich genug. Gefährlich wird
es, wenn diese Denkart eine Basis unter Schwulen selbst findet. Auch Fälle
aus Köln und München zeigen, wie "Schwulenbeauftragte" und Homophobie im
Polizeiapparat co-existieren: Die einen vertreten eine repressive Linie, die
anderen beschwichtigen.
Was die Razzien in Wunderbar und Mystery Hall angeht, scheint die Hamburger
Polizei fast ein bisschen stolz auf "ihre Schwulen" zu sein. Diese
bedenkliche Kooperationsbereitschaft ist das Ergebnis von zehn Jahren
"Vertrauensarbeit" mit den bürgerlichen Schwulenverbänden (z. B. gemeinsame
Plakatserie von Hamburger Polizei und LSVD).
Dummerweise fällt die Bilanz aus schwuler Sicht anders aus: Razzia wie
früher, Personalienkontrolle wie früher, Zivis in der Szene wie früher -
aber alles recht freundlich, alles für einen guten Zweck und Speichelproben
bitte freiwillig.
Die Polizei ist zufrieden. Ist es nicht offensichtlich, dass die nächste
Schlussfolgerung lauten muss: So was kann man scheinbar ruhig öfter mal
machen?!
Und wenn der Wind sich dreht? Wer sagt uns, dass in einem Klima der
allgemein zunehmenden Repression gerade die Toleranz gegenüber Schwulen und
Lesben überleben wird? Die Berichte der Boulevard-Presse zeigen, dass es
auch wieder in die andere Richtung gehen kann.
Nach dem Mord an Tim Smart war die Bereitschaft der Szene zur Mithilfe bei
der Aufklärung überragend. Die Reaktion ist eine ermittlungstechnisch höchst
fragwürdige Razzia und Zivilpolizei am Tisch neben dir!
Freunde? Hab' ich extra meine eigenen dabei.
"Die Polizei wird Freund und Helfer. Alle wissen: Die Polizei ist zu ihrem
Schutz da, und nicht, um sie zu kontrollieren oder zu schikanieren. (...)
Tatsächlich können beide Seiten nur davon profitieren, wenn sie mehr
voneinander wissen."
Werner Hinzpeter, Autor von "Schöne Schwule Welt. Der Schlussverkauf einer
Bewegung." & Razzia-Opfer.
Leider vielleicht aber schon...
"Der Schwulenbeauftragte bewegt sich wie selbstverständlich im Cruising-,
Klappen- und im Strichbereich. Nur wenn Homosexuelle mithelfen,
Ausbildungsinhalte zu verändern und bereit sind, selbst Polizeiarbeit zu
übernehmen, wird sich etwas bewegen. Leider sieht die schwul-lesbische
Mehrheit darin keine gesellschaftliche Notwendigkeit..."
Heinz Uth, erster Schwulenbeauftragter der Berliner Polizei
Selbstredend, selbstredend!
"Auch in Sachen Speichelentnahmen waren viele der anwesenden Personen ganz
außergewöhnlich kooperativ.>
Und wo sind die Daten jetzt?> Im Ermittlungsordner der Mordkommission.>
Und wenn der Fall abgeschlossen ist?> Dann werden die selbstverständlich
gelöscht."
Aus einem Gespräch mit dem Herrn Petersen, Pressesprecher der Hamburger
Polizei
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