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München: Alles zusammenwerfen und schauen, was passt


Jungle World, 44/2001, 24.10.2001
 http://www.jungle-world.com/_2001/44/24a.htm


Alles zusammenwerfen und schauen, was passt

Aktivisten und Theoretiker aus aller Welt diskutierten in der letzten
Woche in München über Expertentum, Migration und Internet.

von tobias rapp

Was für ein schöner Titel: "Make World". Was für ein schöner Titel für
ein Festival, das die verschiedenen Aktivisten, Theoretiker und
Praktiker verbinden sollte. Nicht nur wegen des appellativen Sounds,
"Mach dir deine eigene Welt!", und nicht nur wegen der Umarmung des
Slogans von der Mac World, der Globalisierungsgegner jeglicher Couleur
umtreibt, die befürchten, der Kapitalismus würde überall alles gleich
machen und alle Unterschiede einebnen.

Nein, vor allem deshalb: Make World ist eigentlich ein Unix-Kommando,
um das Computerbetriebssystem zu erneuern. Wer "make world" in die
Befehlszeile eingibt, wechselt das System aus, während es gleichzeitig
weiterläuft. Und wenn es eine Idee gibt, auf die sich die meisten Linken
in letzter Zeit hätten einigen können, hätte sie denn jemand gefragt,
dann doch wohl genau diese: Dass das ganze System ausgewechselt gehört,
dass man es aber, selbst wenn man könnte, nicht unbedingt vorher
ausschalten sollte - wo doch alles irgendwie miteinander zusammenhängt
und weil man nicht das eine tun kann, ohne das andere gleich mit zu
verursachen.

"Make World" war aber nicht nur der Titel des Festivals; wenn man sich
anschaute, wer alles geladen und aus allen Ecken des Globus nach München
angekarrt und eingeflogen worden war - Gewerkschafter aus Südkorea und
Kalifornien, Wissenschaftler aus Indien und Australien, Aktivisten aus
Mexiko, Theoretiker aus Holland und Italien, Arbeiterinnen aus den
Philippinen -, so konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die
Veranstaltung vier Tage lang selbst ein wenig Welt spielen wollte. "Make
World" handelte vor allem von zwei Dingen: Medien und Migration, vom
Internet und vom Flüchtling. Zwei beherrschende Themen verschiedener
politischer Diskurse der vergangenen Jahre, Diskurse, die aber meistens
nebeneinander herliefen und sich recht selten miteinander verbanden.

Aber so war das in der Linken der Neunziger, alle möglichen Leute
bastelten an ihren kleinen Dingen herum, vernetzten sich auch
untereinander oder wussten zumindest, dass es die anderen gibt, aber
seit es den Globalisierungsgegner gibt, hat auf einmal alles miteinander
zu tun und die unterschiedlichsten Menschen glauben, die Kämpfe der
anderen seien auch ihre eigenen.

So ist es auch mit Medien und Migration, und dafür gibt es gute Gründe.
Denn ohne die Möglichkeit digitaler Kommunikation wäre es unmöglich,
ständig so viel Geld um den Globus zu schicken und dadurch so viele
Grenzen einzureißen. Und gleichzeitig vollziehen die Migrationsströme in
umgekehrter Richtung den Weg der Kapitalsströme nach und bekommen
ständig neue Hindernisse in den Weg gestellt, werden ständig mit höheren
Grenzen konfrontiert. Und diese beiden Bewegungen durchdringen einander,
schaffen Wirbel, eröffnen Möglichkeiten, und heraus kommt eine Vielzahl
lokaler Praktiken, subjektiver Entwürfe, Begriffe wie "Globalisierung
von unten" oder der "Make World"-Kongress. Denn Hand aufs Herz: Der
Glaube daran, dass alles immer schlimmer werde, mag vielleicht
berechtigt sein, aber am Ende des Tages führt er zu nichts. Er hilft
niemandem, er schadet niemandem, er sitzt einfach nur herum und
verbreitet schlechte Laune.

Wir alle sind Experten

Wenn die Informationsgesellschaft einen Protagonisten hat, dann den
Experten. Er hat das Wissen, er hat die Macht. Irgendwo in der Barentsee
geht ein russisches U-Boot unter, schon sieht man auf jedem Bildschirm
U-Boot-Experten, die sich an ersten Einschätzungen der Lage versuchen.

Islamistische Terroristen attackieren die USA, schon Minuten später
tauchen Islam-Experten auf, wohin man schaut. Innerhalb kürzester Frist
wird man selbst zum Experten - wer fachsimpelt im Moment nicht über die
Waffensysteme an Bord der amerikanischen Flugzeuge über Afghanistan,
ohne jemals auch nur ein Luftgewehr in der Hand gehabt zu haben? Ich,
du, er, sie, es - wir alle sind Experten.

Expertentum ist aber nicht nur ein Modus, über den wir alle unser
informationelles Selbstverständnis laufen lassen, Expertentum ist
genauso ein Modus, über den das geplante Einwanderungsgesetz
funktionieren soll. Je mehr du Experte auf einem gefragten Gebiet bist,
desto mehr bist du willkommen, desto einfacher ist es, die eigene
Familie mitzubringen, desto einfacher ist es, den deutschen Pass zu
bekommen.

So war das Projekt "Jeder Mensch ist ein Experte" auch das ideelle
Zentrum des ganzen Festivals. Rein formal ist "Everyone Is An Expert"
nichts weiter als eine Jobbörse im Internet. Wer will, kann sich
anmelden, seine E-Mail-Adresse eingeben, eintragen, wofür er oder sie
sich als Experte qualifiziert glaubt, und dann auf Jobangebote warten.
Doch "Everyone Is An Expert" soll sich vor allem an diejenigen richten,
die nur beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben: Flüchtlinge, die
bestimmten örtlichen Beschränkungen unterliegen, die nicht vom
Arbeitsamt vermittelt werden, die aber trotzdem hier sind und
Fähigkeiten haben.

Das war nicht unumstritten. So meldeten einige Aktivistinnen Bedenken
an. Es sei doch recht problematisch, eine solche Plattform zur Verfügung
zu stellen, ohne gleichzeitig vor den Risiken für die Nutzer zu warnen.
Schließlich sei es nicht ungefährlich für Menschen ohne Papiere oder mit
eingeschränkter Arbeitserlaubnis, ihre Haut zu Markte zu tragen. Auch
wurde der Sinn des Ganzen in Zweifel gezogen: Haben Flüchtlinge in
Deutschland überhaupt Zugang zu Computern, und wissen sie, wie man sie
bedient? Wäre es nicht sinnvoller, sich zunächst einmal um solche Dinge
zu kümmern?

Aber jenseits aller Kritik an der praktischen Nutzung: Im Kontext des
Kongresses funktionierte das "Jeder Mensch ist ein Experte"-Projekt vor
allem als ein Gerät, das jeden, der es denn nutzen wollte, ganz
praktisch an das Thema des Kongresses koppelte. Was gibt man ein, wenn
der Computer einen fragt, wofür man Experte ist? Das, wofür man sich
kompetent glaubt? Das, was man kann? Das, was man können muss? Wo ist
der Unterschied? Was will man überhaupt zu Markte tragen? Oder ist es
das besondere Privileg und gleichzeitig die eigene Kernkompetenz, dass
man sich in einem fort überlegen kann, was man denn nun zu Markte tragen
möchte? Und wenn diese Datenbank vor allem für Migranten gedacht ist,
welche Fragen werden die sich stellen, wenn sie vor dem Bildschirm
sitzen? Die gleichen wie man selbst?

Endlich mal Kultur

Auch das Herumsitzen auf Podien ist eine Expertentätigkeit, und
Wochenende für Wochenende sitzt eine Auswahl der immergleichen
Panelexperten hinter irgendwelchen Tischen auf irgendwelchen Podesten
und unterhält sich über Pop und Politik, Kunst und Virtualität, Internet
und Identität, Medien und Repräsentation. Dagegen gibt es wenig
einzuwenden, denn wie die meisten Experten, haben auch die gute Gründe,
das zu tun, was sie tun: Sie können es nämlich allesamt recht gut.
Trotzdem sind diese Veranstaltungen meistens recht ermüdend.

Vielleicht hatte die Stadt München, als sie sich bereit fand, die
Veranstaltung zu finanzieren, sich einen solchen Kongress vorgestellt.
Die Worte der Kulturreferentin Lydia Andrea Hartl, die sich freute,
endlich einmal einen Kongress zum Thema Internet in der Stadt zu haben,
auf dem Kultur "kein Schimpfwort" sei, ließen diesen Schluss zu. "Make
World" war aber vor allem eins: ein lustiges und niemals langweiliges
Durcheinander der Positionen, Erfahrungen und Sprechweisen. Als würde
ein europäischer Linker sich seinen Lieblingskongress zusammenträumen,
alle seine Freunde plus ganz viele Aktivisten von weiter, Repräsentanten
der Kämpfe, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, einladen, und
dann ist auf einmal das Geld da, man kann die Veranstaltung machen, und
die Wünsche nehmen Gestalt an, steigen aus dem Flugzeug und sitzen auf
einmal in der Ecke, um ihre Papiere und Gedanken zu ordnen.

Arbeiten macht unsichtbar

Und erstaunlicherweise haben sich alle etwas zu sagen. Wahrscheinlich
kann man die Folgen der Globalisierung gar nicht verhandeln, ohne Myoung
Joon Kim, einen unglaublich diszipliniert wirkenden Video- und
Netzaktivisten der südkoreanischen Gewerkschaftsbewegung, Prasad
Mohapatra, einen Sozialhistoriker aus Neu Delhi und Franco Bifo Berardi,
einen dieser etwas verrückten italienischen Theoretiker, zusammen auf
ein Panel zu setzen. Thema: "Representations of Labour". Tatsächlich
hängt die ganze Welt miteinander zusammen. Wenn in den USA etwa die
Bürolichter ausgehen, beginnt in Indien der Tag, was dazu führt, dass
jemand, dem nachts in Chicago der Kühlschrank kaputtgeht und der deshalb
eine Service-Hotline anruft, mit hoher Wahrscheinlichkeit in Bombay oder
Neu Delhi landet. Er merkt es jedoch nicht, denn die indischen
Telefonistinnen melden sich nicht nur mit einem amerikanischen Namen, im
Zuge ihrer Ausbildung bekommen sie sogar einen amerikanischen Akzent
antrainiert.

Ein Umstand, der Mohapatra die Parallele zu den Kulis aus dem späten
19. und frühen 20. Jahrhundert ziehen ließ, die auch ihren Namen
verloren, sobald sie das Land verließen. Auf den Schiffen, mit denen sie
an ihre Bestimmungsorte gebracht wurden, bekamen sie von ihren Herren
Nummern und Bezeichnungen wie "Beauty", "Dilitant", "Asia", "Industry"
oder "Labour" verpasst. Die Informationalisierung drängt die Arbeit aus
der öffentlichen Sphäre, macht sie unsichtbar. Und verkompliziert die
Kämpfe, da es äußerst schwierig ist, sich im Unsichtbaren zu
organisieren. Denn man ist nicht nur für die Öffentlichkeit verborgen,
die Kollegen sieht man auch nicht. Und der eigene Computer wird durch
spezielle Software überwacht. Es sei deshalb sehr schwierig, die
Produktionsmittel gegen die Unterdrücker zu wenden.

Für Myoung Joon Kim war Repräsentation von Arbeit vor allem
Repräsentation von Arbeitskämpfen, einer Kunst, die in Südkorea sehr
ausgeprägt und verfeinert zu sein scheint und die mitunter zu Aktionen
führt, wie der, dass alle Gewerkschaften ihre Webseiten abschalten und
den Netzverkehr zu Mobilisierungsaufrufen für Demonstrationen umleiten.

Für Bifo Berardi schließlich war "Representation of Labour" der Anlass,
ein Problem zu konstatieren. Weil der Cyberspace potenziell unendlich,
die Cyberzeit aber endlich sei, bleibe nicht genug Zeit zum Prozessieren
aller Information. Das führe zu einer Produktionskrise intellektueller
Güter, einer Ökonomie der Panik. Frage aus dem Publikum: Wie gehen die
südkoreanischen Gewerkschaften mit dem Problem der Scheinselbständigen
um? Noch eine Frage: Sollten wir nicht darüber nachdenken, die Arbeit
ganz abzuschaffen?

München-Babylon

Wie unterhält man sich auf einem Festival, das, wenn es ernsthaft mit
Übersetzern gearbeitet hätte, wahrscheinlich mehr Übersetzer als
Teilnehmer benötigt hätte? Auf Englisch. Und dieses
Sich-auf-Englisch-Unterhalten führte tatsächlich mitunter dazu, dass man
sich wünschte, Muttersprachler zu sein, nicht etwa, um sich besser
ausdrücken zu können, sondern im Gegenteil, um all die
Bedeutungsverschiebungen, all die Sprachfärbungen, all die kleinen
Fehlerchen und Missverständnisse in ihrer vollen Schönheit hören zu
können.

Wer hat den Pass?

Es wäre ein wohlfeiler Vorwurf, das "Make-World"-Festival sei so etwas
gewesen wie ein gutsortierter Diskurs-Gemischtwarenladen. Denn im Grunde
mündete das Erstaunen darüber, wer in Seattle oder Genua alles gemeinsam
auf die Straße gegangen war, in die Freude darüber, dass man vielleicht
nicht immer die gleichen unmittelbaren Interessen und bestimmt nicht die
gleichen Probleme hat, dass die verschiedenen Kämpfe, die ausgefochten
werden, aber durchaus miteinander zu tun haben können.

So wurde sich etwa an einem Vormittag Gedanken über subjektives und
objektives Staatsbürgerschaftsrecht gemacht, darüber, welche Form von
legalem Status der Globalisierung eigentlich angemessen sei. Ob nicht
vielleicht das Internet, jener recht wenig kartografierte Raum, und die
Möglichkeiten, sich hier dieser oder jener Community anzuschließen oder
selbst eine zu begründen, ob dieses Netzwerk nicht ein Modell für andere
Arten von Citizenship sein könnte.

Wenige Stunden später ging es dann um die ganz realen Folgen der
gegenwärtigen Regelungen des Staatsbürgerrechts. Aktivistinnen, die
versuchen, in England Haus- und Kindermädchen ohne legalen
Aufenthaltsstatus zu organisieren, berichteten über den Stand der
Kämpfe. Etwa wie sie es nach 15jährigem Kampf geschafft hätten, dass die
britische Regierung vor einigen Monaten ein Gesetz verabschiedete, das
es Hausangestellten, die schlecht behandelt werden, erlaubt, die Familie
zu wechseln, ohne automatisch ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren. Ein
Erfolg, der aber nur einen kleinen Teil der Probleme löst. Wie will man
die Familie wechseln, wenn es zur schlechten Behandlung gehört, dass der
Pass eingezogen wurde?

Eine Gewerkschafterin aus Kalifornien - eine der Organisatorinnen des
legendären Putzkolonnen-Streiks, der dazu führte, dass in Los Angeles
wochenlang die Büros stanken, und den die Gewerkschaften schließlich
gewannen - berichtete, in den USA sei es für Arbeiter ohne legalen
Aufenthaltsstatus möglich, ihren Lohn vor Gericht einzuklagen. Sie
hätten schließlich gearbeitet, ob legal oder illegal, und deshalb
Anspruch auf ihr Geld.

So vielleicht

Wenn die amerikanische Soziologin Saskia Sassen bei der
Auftaktveranstaltung gefordert hatte, die Destabilisierung, die die
westliche Welt gerade erlebe, müsse genutzt werden, um politische Räume
zu besetzen, neue Begriffe zu erfinden, neues Vokabular auszuprobieren,
dann war "Make World" tatsächlich ein Versuch, genau das zu tun. Jeder
bringt das mit, was er oder sie in den letzten Jahren gelernt, erfahren
oder gemacht hat, man wirft es zusammen und schaut, was passt.

Natürlich hatten die Internet-Experten und Medienfachleute das größere
Publikum, nicht zuletzt, weil sie ihre Freunde und Verbündeten
mitgebracht hatten, was bei dem südkoreanischen Gewerkschafter oder der
philippinischen Haushaltshilfe aus nahe liegenden Gründen nicht der Fall
war. Als zum Beispiel der australische Anthropologe und
Migrationsforscher Ghassan Hage aus seinen Studien über die
Migrationsbewegungen dreier libanesischer Familien einen Begriff der
Hoffnung herausdestillierte und eine ganze politische Ökonomie der
Hoffnung entwarf - schien auf, wie es denn funktionieren könnte, ein
produktives Denken von Grenzen und Orten. Es bleibt doch eh nichts
anderes übrig.

Die Mitschnitte der Panels kann man im Netz unter  http://make-world.org
herunterladen, das Projekt "Jeder Mensch ist ein Experte" findet man
unter  http://www.expertbase.net

Jungle World, Bergmannstraße 68, 10961 Berlin, Germany Tel. ++ 49-30-61
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25.10.2001
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