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Berlin: Dr. Korbmacher vor Gericht (30. Prozesstag)

Den Kronzeugen sehen wir nicht wieder (in diesem Jahr)

Gut dreißig ZuschauerInnen erlebten die heutigen "Kammerspiele" des 1. Strafsenats in
Moabit und begleiteten das Gericht auf seinem oft unergründlich erscheinenden Weg der
Wahrheitsfindung. Vier Zeugenbefragungen, zwei Anträge der Verteidigung und eine
Beschlussverkündung füllten die Verhandlung. Zu den noch ausstehenden Prozessterminen
in diesem Jahr werden voraussichtlich nur noch diverse ZeugInnen bzw. Sachverständige
geladen, während die entscheidende Vernehmung des Kronzeugen erst im Jahr 2002
fortgesetzt werden soll.

Weitere Ermittlungsunterlagen vorenthalten?

Rechtsanwältin Studzinsky eröffnete den Verhandlungstag mit der Feststellung, dass nach
wie vor der Verteidigung verfahrensrelevante Unterlagen nicht zur Verfügung der stünden.
Ein Sachstandsbericht des Bundeskriminalamtes (BKA) vom September 1999 läge nur
verkürzt vor. Es fehle gerade der Teil, aus dem die Fortsetzung der Telefonüberwachung
(TÜ) des Kronzeugen zu entnehmen ist. Da ein Gerichtsbeschluss die Fortführung der TÜ
über den Mai 1999 angeordnet hat, vermutet die Rechtsanwältin die Existenz weiterer
Tonbandaufzeichnungen auch aus dieser Zeit. Letztlich würden Berichte über aktenkundig
durchgeführte Observationen von Tarek Mousli fehlen und Aktenbestandteile, die die
Begründung bzw. Anregung des BKA zur Fortsetzung der TÜ enthalten. Sie beantragte die
Beiziehung und die Einsichtnahme der fehlenden Unterlagen.

Kriminalbeamte trägt Inhalte von Vernehmungsprotokolle vor

Wie gewohnt völlig unberührt von diesem Antrag rief die Vorsitzende Richterin nunmehr den
Kriminalbeamten Rainer G. (56) in den Zeugenstand. Er sollte Einzelheiten aus der
Vernehmung des ehemaligen Leiters der Ausländerbehörde Hollenberg bekunden. Diese
hätte am 5.11.86 im Klinikum Steglitz stattgefunden, eine Woche nach dem Anschlag auf
Hollenberg. Der Zeuge räumte bereitwillig ein, dass sein gesamter Vortrag ausschließlich aus
dem vorangehenden Aktenstudium hervorgeht, ihm aus eigener Erinnerung keinerlei Details
mehr bekannt sind. Im druckreifen Kriminaldeutsch referierte er dann das damals angeblich
gefertigte Vernehmungsprotokoll: Hollenberg hätte an diesen Morgen, wie gewöhnlich, sein
Haus in der Berlepschstraße (Berlin-Zehlendorf) verlassen. Dabei hätten sich ihm eine
männlich und eine weibliche Person, ein Fahrrad schiebend, genähert. Nachdem er seinen
Wagen aus der Garage gefahren hätte, beim Verschließen des Gartentores, wären die
beiden Menschen dicht hinter ihn herangetreten. Die näher bei ihm stehende Frau hätte dann
Schüsse auf seine Wade abgegeben, während er den Mann mit einer Waffe in der Hand
etwas entfernter wahrgenommen habe. Er hätte dann Schutz hinter seinem Pkw gesucht und
will von dort die Flucht der AngreiferInnen beobachtet haben. Die Vorlage von Bildmappen
mit Fotos von angeblichen Terroristen und Personen aus dem vermuteten Umfeld hätte zu
keiner Identifizierung geführt. Auch die sich anschließende Inaugenscheinnahme einer
Tatortsskizze und einer Waffenabbildung, sowie wiederholte Aktenvorhalte konnten das
Gedächtnis des Zeugen nicht erhellen.
Im Jahr 1987 war er auch mit Ermittlungsaufgaben zum Anschlag auf den Richter
Korbmacher gleichen Jahr betraut. Dabei veranlasste er die Untersuchung eines angeblich
dabei benutzten Motorrades der Marke Yamaha durch die Polizeitechnische
Untersuchungsanstalt (PTU). Im Folgenden trug er die damals festgestellten Ergebnisse vor,
u.a. unzutreffende Kennzeichen, veränderte TÜV- und Polizeiplaketten, aufgebrochene und
ausgewechselte Schlösser und eine Neulackierung.

Anschlagopfer war Bundesrichter in Asylverfahren

Der Richter Dr. Günter Korbmacher, selbst Opfer eines Anschlages am 1.9.1987, berichtete
nun von den Geschehnissen an jenem Tag. Der 75-Jährige war zehn Jahre lang
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht und stand dort einem Senat vor, der
überwiegend Asylverfahren zu führen und entscheiden hatte. Seine Entscheidungen wären in
der Öffentlichkeit damals als zu hart kritisiert worden, z.B. von der Tageszeitung taz.
Am Tage der Tat hätte er gegen 9:00 Uhr sein Haus in der Murtenerstraße in Berlin-
Lichterfelde verlassen, um zum Gericht zu fahren. Auf dem Weg zu seiner Garage hätte ihn
ein relativ großes Motorrad auf der Straße überholt, dass im Kreuzungsbereich zur
Baselerstraße gewendet habe, zurückkehrte und auf ihn zu fuhr. Auf dem Fahrzeug hätten
zwei "Figuren" gesessen, vermutlich Männer, von denen der Beifahrer dann mit einer Waffe
auf ihn geschossen hätte. Zweimal jeweils ca. drei Schüsse wären auf ihn abgegeben
worden, wobei er von der zweite Salve zweimal in die Wade getroffen worden wäre. Nach
seinem Eindruck wären die Schüsse auf die Beine oder nur einzelne Körperteile gezielt
abgegeben worden, eine lebensbedrohliche Verletzung hingegen wäre offensichtlich von den
Angreifer nicht beabsichtigt gewesen. Er sei dann mit Hilfe eines herbeieilenden Kollegen
(Richter Dr. Horst S.) humpelnd in sein Haus zurückgekehrt. Auf den ihm vorgelegten
Fotomappen konnte er keinen der Angreifer identifizieren, u.a. weil sie Helme getragen
hätten. An weitere Einzelheiten konnte sich Dr. Günter Korbmacher nicht erinnern. Auch viele
Aktenvorhalte der Richterin aus den polizeilichen Vernehmungen und die intensive
Inaugenscheinnahme einer Tatortskizze und mehrerer Fotos halfen nichts, der Betroffene
konnte mehr Details nicht benennen.

Eine ausgelassene Mitfahrgelegenheit mit Folgen

Nach der ausgedehnten Unterbrechung der Sitzung zur Mittagszeit wurde die Verhandlung
mit der Einvernahme des Zeugen Dr. Horst S. fortgesetzt. Dr. Horst S. (59), Vorsitzender
Richter eines Revisionssenats am Bundesverwaltungsgericht für Asylverfahren, war damals
Kollege von Dr. Günter Korbmacher und als unmittelbarer Nachbar Bewohner des
angrenzenden Nachbarhauses, allerdings mit Eingang in der Bernerstraße. Auch er hätte am
besagten 1.9.1987 zur gleichen Zeit wie Dr. Korbmacher sein Haus verlassen, um seine
Arbeit in demselben Gericht aufzunehmen, er allerdings mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle sei er auf den torkelnden und sich am Geländer
festhaltenden Kollegen aufmerksam geworden. Mit seiner Hilfe hätte Dr. Korbmacher zurück
in sein Wohnhaus gebracht werden können, wo er anschließend von seiner Frau versorgt
worden wäre. Einen später von ihm auf dem gegenüberliegenden Grundstück
wahrgenommenen Arbeiter hätte er nach dem Ablauf der Vorfälle befragt. Dieser hätte ihm
gegenüber jedoch keine Angaben gemacht. Im Laufe der Vernehmung ergaben sich
deutliche Unterschiede zwischen seinen damaligen Aussagen bei der Polizei und seiner
heutigen Erinnerung im Gerichtssaal. Ob er durch einen Pfiff oder durch Schüsse auf das
Geschehen aufmerksam wurde, ob der befragte Arbeiter doch das Hören von Schüssen ihm
gegenüber zugab oder ob es sich um einen Teer- oder einen Gartenarbeiter gehandelt
habe, viele Angaben blieben durch die verblassende Erinnerung ungenau und
widersprüchlich. Abschließend erfolgte auch hier das Ritual der gemeinsamen
Inaugenscheinnahme von Skizzen und Fotos mit dem unveränderten Ausbleiben von
weitergehenden Aussagen.

Von links außen oben nach rechts innen unten

Den Abschluss bildeten die Aussagen des Rechts- und Umweltmediziners Klaus-Steffen S.,
(61) aus Göttingen. Er hatte unmittelbar nach dem Anschlag auf Hollenberg wie auch
Korbmacher beide Verletzte untersucht und medizinische Gutachten erstellt. Über die
Ergebnisse wurde er befragt. In beiden Fällen hätte es sich Schussverletzungen gehandelt,
jeweils an den Unterschenkeln. Hätten den Dr. Korbmacher zwei Projektile ins linke Bein
getroffen, so wären bei Hollenberg jeweils ein Schuss in jedes Bein zu diagnostizieren
gewesen. Könne mensch bei der Verletzung des Erstgenannten von zwei Schüssen in
unmittelbarer Folge ausgehen, so wären beim Zweitgenannten durch Lage und Winkel der
Durchschuss- bzw. Steckschusskanäle eine ähnliche Aussage sehr viel ungewisser. Das
stünde auch so in seinem Gutachten. Die nun inzwischen allseits geschätzte Übung der
Inaugenscheinnahme führte diesmal alle Prozessbeteiligten über Röntgenbilder zusammen,
die der Gutachter den ihn Umringenden geduldig und mit einfachen Worten zu erläutern
versuchte. Über den Erfolg dieser medizinischen Unterweisung bei den versammelten
VertreterInnen der Rechtswissenschaften blieb bei den gemeinen ProzessbeobachterInnen
erhebliche Zweifel.
Am Rande seiner Vernehmung wurde der sonst sehr zähe und träge Verhandlungsablauf
kurzzeitig lebendig. Bundesanwalt Bruns wollte beiläufig vom Gutachter wissen, ob denn ein
Schuss ins Kniegelenk schlimmere gesundheitliche Folgen haben könne, als die hier
festgestellten Verletzungen. An der Absicht seiner Frage ließ der Bundesanwalt von vorne
herein keine Zweifel, denn er sei ohnehin davon überzeugt, dass ein Knieschuss eigentlich
beabsichtigt war. Nachdem die Unzulässigkeit dieser Frage von den VerteidigerInnen gerügt
worden war, ließ sie die Vorsitzende Richterin trotzdem zu. Erst nach Hinweisen auf die
versuchte Beeinflussung des Gutachters durch die Art der Fragestellung und einer
entsprechenden Fundstelle in einem relevanten juristischen Kommentar besann sich die
Richterin und ließ die Frage nun doch nicht mehr zu.

Beschluss des Gerichtes, wie nicht anders zu erwarten

Der Antrag von RA Euler, den Prozess für vier Wochen zu unterbrechen, um den
VerteidigerInnen Gelegenheit zu geben, die 955 TÜ-Tonbänder wenigstens ansatzweise
auszuwerten, wurde abgelehnt. Eine Begründung gab die Vorsitzende Richterin dafür nicht,
nur den Hinweis auf die Ablehnungsgründe in einem früheren Beschluss zum
Aussetzungsantrag der RAinnen Würdinger und Studzinsky.
Daraufhin beantragte RA Becker die Gewährung einer zusätzlichen Kostenpauschale für die
Verteidigung, um das Abhören der über 700 Stunden Tonbandaufzeichnungen zumindest
teilweise an geeignete Personen (z.B. Referendare) delegieren und vor allem auch bezahlen
zu können. RA Dr. König unterstützte diesen Antrag mit dem Hinweis auf eine entsprechende
Kostenentscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg.

Und weiter geht’s

Auf Nachfrage des Verteidigers v. Schlieffen teilte die Richterin Hennig mit, dass für dieses
Jahr die Ladung von weiteren Zeugen und Sachverständigen zu den Komplexen
"Korbmacher" und "Mehringhof", die Anschläge auf die Zentrale Sozialhilfestelle für
Asylbewerber (ZSA) und die Siegessäule sowie dem Sprengstofffund am Seegraben
vorgesehen ist. Ein Auftritt des Kronzeugen Mousli noch in diesem Jahr hielt sie für
unwahrscheinlich.

Der Prozess wird morgen, Freitag, den 26.10, mit weiteren
Zeugenvernehmungen fortgesetzt. Danach wird eine kurze Herbstpause eingelegt.


 

26.10.2001
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