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KanakAttack Interview - Legalisierung statt Rasterfahndung

Subtropen in der Jungle-World Nr.7

gespiegelt von:
 http://www.jungle-world.com/_2001/46/sub06a.htm

Legalisierung statt Rasterfahndung

Migration, rassistisches Regime und linker Antirassismus | Kanak Attak im Gespräch
Im Sommer dieses Jahres haben Kanak Attak anlässlich der Grenzcamps eine Initiative vorgeschlagen, die den gesellschaftlichen Status der illegalisierten Migrantinnen und Migranten in den Mittelpunkt rückt. Die Forderung nach Legalisierung greift in die offizielle Einwanderungsdebatte ein. Zugleich soll sie als Ein-Punkt-Programm die antirassistische Arbeit in Deutschland neu orientieren. Im Gespräch diskutieren Kanak Attak über die Aktualität des Versuchs, antirassistische Politik aus der Defensive zu bringen. Heute befindet sich die Legalisierungsforderung in der Konfrontation mit der laufenden repressiven Neuordnung des Migrationsregimes.

Subtropen: Nach eurer Analyse waren die Ausgangsbedingungen für eine Legalisierungskampagne noch vor wenigen Wochen besonders günstig. Ist mit den Anschlägen in New York und Washington und dann mit der Kriegserklärung der Nato dieser Initiative der Boden entzogen worden?


Kanak Attak: Die veränderte Lage seit September zwingt uns tatsächlich dazu, über diese Ausgangsbedingungen erneut nachzudenken. Insbesondere der Kriminalisierungsdruck hat erheblich zugenommen. Damit sind sicherlich die Bedingungen für eine Diskussion um Legalisierung nicht mehr so gut wie zuvor. In der EU leben schätzungsweise fünf Millionen Illegale. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wie sich deren Existenzbedingungen unter den Fahndungsaktivitäten, den neuen so genannten Antiterror-Gesetzen, dem Ausbau des Polizeiapparats und anderen Maßnahmen verschlechtern werden. Der verkündete »lang andauernde Krieg« schränkt die Resonanz für eine Forderung nach Legalisierung ein. Stattdessen wird Verdächtigungen aller Art Raum gegeben.

So dringend eine Legalisierung gerade in dieser Lage wäre, so wenig ist die Öffentlichkeit jetzt noch bereit, eine Forderung in dieser Richtung aufzunehmen. Aber wenn wir über die Ausgangsbedingungen neu nachdenken, dann gehören die Analysen und Einschätzungen, die wir vor dem September entwickelt haben, zu diesem Nachdenken. Unsere Einschätzung der Krise des Antirassismus in der Bundesrepublik geht in diese neuen Ausgangsbedingungen auf jeden Fall ein. Insofern ist uns nicht der Boden völlig entzogen worden, um eure Formulierung aufzugreifen, aber die gegenwärtige politische Konstellation verlangt nach einer Weiterentwicklung.


Subtropen: Einverstanden, doch bevor wir auf diesen Aspekt zurückkommen, können wir erstmal versuchen, die Voraussetzungen zu klären, unter denen antirassistische Arbeit in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Ihr sprecht von einer antirassistischen Arbeitsteilung, die die antirassistische Arbeit eher belastet als voranbringt. Worin besteht diese Arbeitsteilung, wie hat sie sich herausgebildet und was sind ihre Wirkungen?


Kanak Attak: Die Arbeitsteilung zeigt sich darin, dass die verschiedenen Gruppen jeweils ihre Spezialthemen haben. Sie beschäftigen sich mit Asylpolitik und Asylbetreuung, mit den Flüchtlingsregimes und der Deportationspraxis, mit der Selbstorganisation von Flüchtlingen, mit linker Antirassismusarbeit oder mit Antifaschismus. Alle beschäftigen sich mit dem rassistischen Regime, oder besser, mit einzelnen seiner Aspekte.

Hier hat sich eine Struktur der Arbeitsteilung ergeben, in der die Kompetenzen und Zuständigkeiten festliegen, eine Struktur, die unangreifbar scheint. Für uns ist diese verfestigte Arbeitsteilung selbst Ausdruck der Krise der antirassistischen Szene. Sie schleppt diese Struktur seit ungefähr zehn Jahren mit. Schon vorher hatte sich diese Arbeitsteilung herausgebildet, wenn man an die Wohlfahrtsverbände denkt. Die Linke hat diese Struktur in gewisser Weise übernommen. Damit sind aber auch bestimmte Politikformen wie Non-Government-Organization oder Selbstorganisation festgelegt, verbunden mit einer politischen Praxis, die auf Betreuung oder Selbstverteidigung ausgerichtet ist.

Wir kritisieren nicht die einzelnen Elemente dieser Politik, sondern ihre Strukturierung. In ihre Struktur ist die Defensive schon eingeschrieben. Der entscheidende Punkt unserer Kritik ist der, dass die antirassistische Arbeit nicht über ein reaktives Verhältnis zu den gesellschaftlichen Transformationen hinauskommt. Jede Verschärfung eines Gesetzes ruft eine kalkulierbare Gegenreaktion hervor. Die Formen der Politik entsprechen immer noch denen von Wohlfahrtsverbänden. Sie hinken der Initiative der Herrschenden hinterher, weil es nicht möglich scheint, die verschiedenen Elemente der Aktivitäten zusammenzudenken.


Subtropen: Aber diese Haltung ist doch viel grundlegender in der Defensive emanzipatorischer Politik zu suchen. Das reaktive Verhältnis zu den Vorgaben staatlicher Apparate und der Regierung, zu den rassistischen Kampagnen der Konservativen und auch zur Politik der Faschisten hängt doch ursächlich damit zusammen, dass eine gesellschaftsverändernde Praxis, die diese Elemente antirassistischer Aktivität zusammenbringen könnte, sich nicht so recht verdeutlichen lässt.

Die Kritik an den Grenzen bestimmter Tätigkeiten, an der Betreuungsfunktion etwa oder an der Verfasstheit als Nichtregierungsorganisation oder an den Beschränkungen der Selbstorganisation unmittelbar Betroffener, kann diesen Mangel doch nicht aus sich selbst heraus überwinden. Daneben sind es doch gerade diese antirassistischen Gruppen, die ein Minimum an Kontakt, an Beziehungen und an direktem Umgang organisieren. Kann auf dieser zwar schmalen, aber immerhin vorhandenen Grundlage der Antirassismus nicht eine neue Orientierung finden?


Kanak Attak: Das ist nur möglich, wenn auf dieser Basis tatsächlich die verschiedenen Elemente zusammengedacht werden, wenn sich hier eine Haltung herausbilden ließe, die man als universellen Antirassismus bezeichnen könnte. Dem steht aber die Struktur der Arbeitsteilung im Weg. Es ist richtig, den Mangel einer linken emanzipatorischen Option festzustellen. Der Antirassismus trägt so die Mitgift einer Niederlage, die viel früher stattgefunden hat. Der Antirassismus, wie wir ihn kennen und in dem wir selbst uns ja auch politisch sozialisiert haben, ist das Produkt der Genealogie der Niederlage der deutschen Linken. In vielem erscheint er wie ein Kompensationsprojekt für eine emanzipatorische Politik. Er ist immer noch gebannt durch den Schock, den viele Linke hatten, als nach 1989 Nationalismus und Rassismus sich wahrnehmbar ausbreiteten.

Noch immer ist es schwierig, Antirassismus und Antikapitalismus zu artikulieren, noch immer beobachten wir eine gewisse Theoriefeindschaft, die vor der Kapitalismuskritik zurückschreckt, weil sie sie für nicht kommunizierbar hält. Das sind Folgen der historischen Niederlage.

Auch das problematische Verhältnis zu Fragen der Migration und zu den Migrantinnen und Migranten und ihren Communities hängt mit diesem Zustand der deutschen Linken zusammen. Das Fehlen einer emanzipatorischen Option für diese Gesellschaft führt zu einem Nicht-Verhalten gegenüber diesen sozialen Phänomenen, stattdessen hält man starr an einmal gefundenen Organisationsstrukturen fest.

Wir gehen davon aus, dass sich das rassistische Regime der Bundesrepublik in den letzten Jahren transformiert hat. In dieser Transformation haben sich neue Kräfteverhältnisse hergestellt, die nicht wahrgenommen wurden. Das bezeichnen wir als Krise des Antirassismus.


Subtropen: Woran lässt sich dieser Regimewechsel in euren Augen festmachen? Sicherlich, die Bundesrepublik bekennt sich jetzt staatsoffiziell zur Einwanderungsgesellschaft, ein gravierender Unterschied zur konservativen Regierung unter Kohl, die das immer abgelehnt hat. Doch in den konkreten Formulierungen meint dieses längst überfällige Eingeständnis doch nur die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung.

Auch in der Frage des Staatsbürgerrechts gibt es eine Ablösung vom Verwandtschaftsprinzip, dem Blutsrecht, hin zum Territorialprinzip, dem an den Ort gebundenen Geburtsrecht, aber die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft als Möglichkeit für Migrantinnen und Migranten ist ausgebremst worden. Welche neuen Handlungsmöglichkeiten haben sich durch diese Veränderungen ergeben?


Kanak Attak: Grundlegend ist die Transformation des rassistischen Regimes, wenn man sich das Verhältnis von Staat und Migration anschaut. Der Unterschied zwischen der Verleugnung der Einwanderung früher und der Definition als Einwanderungsgesellschaft heute hat Wirkungen, die wir nicht so sehr am Regierungswechsel selbst festmachen, sondern an der Verschiebung des politischen Klimas. Die Kirchen, die Ausländerbeauftragten in Land und Bund, die Wohlfahrtsverbände fanden nun Gehör, migrantophile Positionen waren öffentlich zu vernehmen. Schon vor dem Regierungswechsel von 1998 hatten sich diese Positionen herauskristallisiert.

Durch die rot-grüne Regierung entstand ein neuer Code. Die Debatte um das Einwanderungsgesetz erzeugte eine kontingente Situation, die nicht von vorneherein auf bestimmte Positionen reduzierbar war. Die Regierung versuchte zivilgesellschaftliche Zustimmung aus allen Richtungen zu organisieren. Mit der Süssmuth-Kommission sollte das rechte parlamentarische Lager eingebunden werden, aber auch für kritische Stimmen, die zuvor nie zu Wort kamen, eröffneten sich Möglichkeiten. Dieser Klimawechsel reichte bis in die CDU hinein. Der Aushandlungsprozess war im vergangenen Sommer noch nicht abgeschlossen.


Subtropen: Aber hat die CDU in Hessen mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft Anfang des Jahres 1999, massiv unterstützt von den Massenmedien, nicht den zivilgesellschaftlichen rassistischen Konsens gegen die Regierungspolitik mobilisiert? Gibt es nicht strukturell eine konservative Hegemonie in der Bundesrepublik?


Kanak Attak: Die Rahmenbedingungen sind klar, und bei der doppelten Staatsbürgerschaft wurden sie deutlich abgesteckt: Die Regierung verfolgte ihr Projekt nur halbherzig, was man dann an ihrem eiligen Zurückweichen erkennen konnte. Fraglich ist, ob Rot-Grün das eigene Projekt wirklich voranbringen wollte. Mit dem Konzept der Integration wurden ja ständig Anschlüsse für die Mobilisierung der Rechten geliefert.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: In der Green Card-Diskussion hat sich gezeigt, dass es der Regierung in erster Linie um eine neue Aufteilung und Segregation der Einwanderer nach Kategorien der kapitalistischen Verwertbarkeit geht. Hier war sie sich der Unterstützung dynamischer internationalisierter Fraktionen des Kapitals sicher. Wir machen uns keine Illusionen über die Einwanderungsgesetzgebung. Gerade aus migrantischer Perspektive war der Wechsel des politischen Klimas jedoch nicht unwichtig. Die Transformation des rassistischen Regimes brachte eine Vereinfachung der Aufenthaltstitel. Die Situation war aufgelockert und Raum für Einmischung war gegeben. Eine kontingente Situation bedeutet, dass es Interventionsmöglichkeiten gibt.

Darauf zielt die Forderung nach Legalisierung. Sie ist der Versuch, der berechtigten Forderung nach offenen Grenzen in einer konkreten Situation eine dieser Situation angemessene Formulierung zu geben, um politisch handeln zu können. Die Formel ist ganz einfach, sie lautet: Legalisierung vor Novellierung. Erst müssen die Illegalisierten der Migration einen anderen sozialen Status erhalten, dann erst kann es eine Einwanderungsgesetzgebung geben. In diese Richtung müsste an diesem Punkt der Gesetzgebung politischer Druck von links ausgeübt werden. Gegenwärtig nun scheint der Versuch unternommen zu werden, die Kontingenz wieder völlig auszuschalten und die Diskussion unter Kontrolle zu halten. Wenn das gelingt, bleibt wieder nur die Alternative der Herrschenden, also Zuwanderung unmöglich zu machen oder sie nach den Erfordernissen der Kapitalverwertung zu dosieren.

Subtropen: Die Alternative zwischen Nationalisten und Ökonomisten also. Ihr habt die migrantische Perspektive bereits angesprochen. Bei anderen Gelegenheiten sprecht ihr von der Autonomie der Migration. Bisher haben wir lediglich die sich verändernden Bedingungen rassistischer Herrschaft berücksichtigt. Ist die Migration von den herrschenden nationalistischen oder ökonomistischen Formen der Politik unabhängig? Folgt sie in diesem Sinn einer eigenen Gesetzlichkeit? Kurz, was bedeutet in euren Augen Autonomie der Migration?


Kanak Attak: Ein Beispiel dafür ist die Einwanderung in die Bundesrepublik nach dem Anwerbestopp von 1973. Hier wurde die gesetzliche Möglichkeit der Familienzusammenführung genutzt, wobei der Topos Familie von Seiten der Migrantinnen und Migranten eine eigenwillige Auslegung erhielt, zumindest war nicht die deutsche fordistische Kleinfamilie das Muster. Ähnliches war im Umgang mit dem Asylrecht zu beobachten.

Anders gesagt, innerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten entwickelten sich autonome Praktiken, um die Migration zu organisieren. Die Autonomie der Migration zeigt sich vor allem in der absolut chaotischen und dezentralen Art, in der billige Arbeitskräfte ethnisiert wurden und zugleich diese Arbeitskräfte die sich ihnen bietenden Möglichkeiten zur Einreise nutzten. Dieser Prozess war nicht vorhersehbar und auch nicht kontrollierbar. Die Kontrollpolitiken haben zunächst nicht gegriffen, die Familienzusammenführung und das Asylrecht waren bis zu einem bestimmten Punkt nicht angreifbar.

Das zweite Moment ist, dass die Präsenz die Formen verändert hat, unter denen der Überlebenskampf von Migrantinnen und Migranten stattfindet, zum Beispiel die Art, wie ethnische Communities entstanden. Ein wichtiger Strang in der Einwanderungsgesetzgebung geht im Grunde darum, die in der Vergangenheit chaotisch abgelaufene Migration zu reglementieren. Doch jede neue Regel, jede neue juristische Kodifizierung kann auch neue autonome Taktiken der individuellen und kollektiven Nutzung hervorrufen. Diese Taktiken bleiben unvorhersehbar. Sie sind nicht strategisch planbar, obwohl in letzter Instanz von der Dominanz des Migrationsregimes der Herrschenden auszugehen ist.


Subtropen: Die Taktiken, von denen ihr sprecht, sind doch nur in einem sehr beschränkten Verständnis als autonom zu bezeichnen. Mit einem emphatischen Autonomiebegriff haben sie zumindest wenig gemein. Diese Taktiken finden Anwendung unter der Dominanz des herrschenden Migrationsregimes, wie ihr selbst sagt, sie haben nur eine befristete und partielle Wirkung, dann greifen wiederum die Kontrollmechanismen. Das ist aber nur die eine Seite. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen, diese Taktiken sind das Gegenteil von Autonomie. Sie stehen unter der Heteronomie des Migrationsregimes, nicht nur in letzter Instanz. Sie sind heteronom auch wegen des informellen Charakters, der nichts mit individueller Autonomie zu tun haben muss, sondern möglicherweise von Clanstrukturen bestimmt sein kann oder von einer ethnischen Identitätspolitik beherrscht wird.

Ihr führt die ethnischen Communities an. Damit aber steht man vor dem Problem des Spiegelverhältnisses von Ethnisierung und Selbstethnisierung. Die bürgerliche Vorstellung von Autonomie war reichlich angefüllt mit Identitätsbildern, mit denen der Persönlichkeit und der Bildung, denen der Nation und der Kultur. Rassismus und Ethnisierung haben dabei immer die Funktion gehabt, autoritäre, homogenisierende Kollektivbildungen zu stützen. Muss die Kritik nicht auf beide Seiten zielen: auf das rassistische Regime der Herrschenden wie auf die ethnische Identitätspolitik der Beherrschten? Wäre in der Perspektive der doppelten Kritik nicht eine Verbindung zwischen den von euch angeführten autonomen Taktiken und einer erweiterten sozialen, individuellen wie kollektiven Autonomie zu suchen?


Kanak Attak: Ja, wir wenden uns aber gegen eine abstrakte Form der Kritik, die vom Schreibtisch aus verfügt, wie die Lebensformen aussehen dürfen und wie nicht. Denn schon die Figur des Spiegelverhältnisses von Ethnisierung und Selbstethnisierung ist problematisch. Sie impliziert eine Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit, was die Strukturierung dieses Verhältnisses von Unterwerfung betrifft. Fremd- und Selbstethnisierung können nicht einfach analytisch auseinander gehalten werden, separat zu bekämpfen sind sie schon gar nicht.

Die Identitätspolitik der Beherrschten ist immer auch eine Selbstermächtigungsstrategie unter Bedingungen eines rassistisch stratifizierten Elends. Das heißt, wenn wir von den ethnischen Communities sprechen, dann haben wir klar vor Augen, dass sie den Migrantinnen und Migranten unter den Bedingungen des rassistischen Regimes einen Schutz gewähren, der ihre Überlebensbedingungen verbessert. Dieser Aspekt wird häufig unterschlagen, er ist aber sehr wichtig. Was wiederum nicht heißt, dass in diesen Communities alles so bleiben soll, wie es ist. Wir treten für ein nicht-polemisches Verhältnis ein, in dem die Kritik je nach der Situation mögliche andere Praktiken im Blick behält.

Man muss das dialektische Moment herausarbeiten. Es gibt hier positive Möglichkeiten einer anderen Form der Vergesellschaftung ebenso wie negative, reaktionäre, die wir nicht wollen. Unter den autonomen Taktiken verstehen wir etwas, was sowieso im Alltag stattfindet. Wir versuchen damit, eine Dimension der Materialisierung anzugeben, die nicht moralisch-ideologisch zu reduzieren ist. Die Materialität der Taktiken geht niemals völlig identitätspolitisch auf. Darin liegt die Chance linker Kritik. Die Taktiken haben eine Materialität in den konkreten Produktions- und Reproduktionsverhältnissen. Die identitären Prägungen und Fesseln können nur abgestreift werden, wenn interne Momente in der Reproduktion der Lebensverhältnisse transformiert werden. Wir plädieren für eine praktische Kritik, die die Immanenz der Möglichkeiten nutzt und diese Nutzung politisch artikuliert.


Subtropen: Auffällig ist, zum Beispiel auch in der Revue »Opelpitbulautoput« bei der Kanak-Attak-Veranstaltung im April in der Volksbühne, dass ihr euch dabei auf die Arbeitskämpfe in der späten fordistischen Formation, etwa die Streiks bei Ford 1973, bezieht. Wie sieht es aber mit einem Bezug auf das letzte Jahrzehnt aus?


Kanak Attak: Sicher, das waren Kämpfe der ersten Generation. Heute steht die Fabrik als Produktionsort nicht mehr im Zentrum migrantischer Kämpfe. Aber es hat sich noch mehr geändert. Es gibt eine andere Qualifikationsstruktur der ethnifizierten Arbeit, beispielsweise kann sich die zweite Generation anders als die erste nun auch arbeitsrechtlich behaupten. Das hat zum Teil damit zu tun, was die antirassistische Arbeit und der kanakische Alltag inzwischen als Normalitätsvorstellungen davon, wie man leben kann, durchgesetzt hat. Diese Leute sind nicht betreubar, sie verfügen über eine Alltagspraxis, die nicht zu dem stigmatisierenden Klischee des kanakischen Opfers passt. Viele verfügen über eine geregelte Aufenthaltserlaubnis, also über ziemlich sichere Aufenthaltstitel. Sie können mit der deutschen Sprache selbstverständlich umgehen, was ganz andere Artikulationsmöglichkeiten eröffnet.

Diese Veränderungen resultieren aus zwei Momenten, die sich im historischen Rückblick festmachen lassen: zum einen aus dem Hineinleben in die bestehende Gesellschaft, so beschissen wie die Verhältnisse auch sind, und zum anderen aus dem Widerstand, der sich nicht in erster Linie politisch artikuliert, das zwar auch, aber hier ist eine erstaunliche Vererbung der resignativen Gleichgültigkeit zu beobachten. Der Widerstand zeigt sich vor allem in alltäglichen Praktiken. Auch in dieser Hinsicht rückt die Reproduktion der Lebensverhältnisse in den Mittelpunkt. Die symbolische, imaginäre oder auch ideologische Ebene ist dabei von besonderem Gewicht. Hier können wir ein paradoxales Verhältnis beobachten, zum Beispiel bei der Kanak-Schickeria. Erstens visualisiert sie den Aspekt der sozialen Mobilität auf eine ethnisierende Art, zweitens aber ist dies in der Performativität nicht ethnisch zurückzuführen.

In der Widersprüchlichkeit der Reproduktion gibt es also Anknüpfungspunkte. Hinzu kommt eine Fragmentierung der Existenzweisen. Es kann nicht um den Migranten per se gehen. Illegalisierte, Kanaken der zweiten Generation und noch anzuwerbende Green Card-Besitzer können nicht auf eine politische Linie festgelegt werden. Das würde nur zu einer Allgemeinheit führen, die leer bliebe. Eher schon bestünde eine gewisse allgemeine Voraussetzung in einer gemeinsamen Haltung.


Subtropen: Richtet sich die Forderung nach Legalisierung auf die Erzeugung einer solchen Haltung? Soll damit ein gewisser Grad an Verallgemeinerung hergestellt werden?


Kanak Attak: Die Forderung nach Legalisierung zielt nicht auf Repräsentation und nicht auf Partizipation. Mit ihr sollte tatsächlich eher eine politische Haltung zum Ausdruck gebracht als eine Linie fixiert werden. Sie wird mit Bezug auf einen stattfindenden Aushandlungsprozess um die Einwanderungsgesetzgebung erhoben. Sie setzt kein politisches Subjekt voraus, sondern ist als offene Konzeption vorgeschlagen, durch die sich ein politisches Subjekt konstituieren kann und die bis in die zivilgesellschaftlichen Milieus hinein tragfähig werden könnte.

Es geht um die Mobilisierung unerwarteter Kräfteressourcen. Hieraus, so war zumindest im Sommer unsere Einschätzung, könnten die Bedingungen der Kommunikation hergestellt werden, die die antirassistische Arbeitsteilung zeitweise überwinden; und damit hätte sie einen exemplarischen Charakter.


Subtropen: Kommen wir auf den Anfang des Gesprächs zurück. Wie hat sich die Lage in dieser Hinsicht seit September geändert? Ihr habt den Akzent auf eine politische Offensive gelegt, auf eine offensiv vorgetragene politische Haltung. Wie ist gegenwärtig mit diesem Anspruch das politische Potenzial einzuschätzen? Worin könnte eine Weiterentwicklung der Forderung nach Legalisierung in der heutigen Situation bestehen?


Kanak Attak: Heute haben wir eine Situation, in der die Bedingungen einer offensiven Politik, wie wir sie noch im Sommer sahen, nicht mehr in gleicher Weise existieren. Das Thema Einwanderung ist komplett auf ein kontrollpolitisches Terrain verschoben worden, was neue Anforderungen stellt.

Es geht nicht darum, eine Haltung des »Jetzt erst recht« einzunehmen, die gleich abstrakt und hilflos wäre. Man muss vielmehr versuchen zu verstehen, welche Momente der gegenwärtigen Konjunktur es uns ermöglichen könnten, dem im Gewand des Antiislamismus und im Sicherheitsdiskurs sich artikulierenden Rassismus etwas entgegenzusetzen. So richtet sich Schilys Terrorbekämpfungspaket Nr. 1 nur nominell gegen den Terrorismus. Das schon lange existierende Ausländerzentralregister, das die informationelle Totalerfassung aller Lebensbereiche einer nach Abstammung definierten Bevölkerungsgruppe gewährleistet, erlaubt neuerdings einen innerbehördlichen Online-Datenabgleich, womit nicht nur abstrakt die Grundrechte angegriffen werden. Mit der Erstellung einer Datei für eingebürgerte Ex-Ausländer verdeutlicht sich das revanchistische Angriffsziel dieser Maßnahmen genauer.

Es geht um die kontrollpolitische Zurücknahme des Gleichheitspostulats für eingebürgerte Einwanderer. Verschärft ist vor allem aber die Lage für die Illegalisierten. Aktuell wurden europaweit im Rahmen der Rasterfahndungen und der ihnen vorausgehenden Schikanen schon zirka 1 500 Illegalisierte abgeschoben, und dies, obwohl für die absolute Mehrheit der Festgenommenen die Inkriminierung nicht nachgewiesen werden konnte. Genau an dieser Stelle könnte die Legalisierungskampagne neu überdacht werden. Galt es im Sommer, die sofortige Legalisierung als One-Point-Programmatik zu fordern, geht es heute eher darum, den »Beifang«, zufällige Festnahmen im Zuge der Rasterfahndungen und des Denunziationseifers in der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu rücken und eine Entschädigung für Einwanderer durch Legalisierung zu fordern.


Es diskutierten Manuela Bojadzijev, Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos (Kanak Attak), Thomas Atzert und Jost Müller (Subtropen).


 

09.11.2001
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