Risse im Empire -------Vor Genua, nach New York | Interview mit Toni Negri
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Risse im Empire
Vor Genua, nach New York | Interview mit Toni Negri
Wir befinden uns, so Toni Negri, nicht gerade in einer angenehmen Situation. Die Widersprüche in der Konstitution des Empire, bereits seit langem wahrnehmbar, haben sich mit den Anschlägen vom 11. September und mit dem Beginn der Militäraktionen vor zwei Monaten zugespitzt. Es ist eine Krise der Hegemonie im Empire. Im Krieg wird ein Weg gesucht, die Blockade zu überwinden, wird danach getrachtet, die konstituierende Dynamik neu zu justieren, mit allen katastrophalen Folgen. Auf der anderen Seite befinden sich die sozialen Bewegungen, deren Art, den Konflikt zu führen - von Seattle bis Genua -, abrupt unterbrochen wurde. Die Kriegsordnung richtet sich gegen das Gemeinsame der Subjektivitäten, aus denen sich die Multitude zusammensetzt. Wir sprachen mit Toni Negri in Rom.
Subtropen: Anfang der neunziger Jahre schien die internationale Militärintervention im Zweiten Golfkrieg mit den USA als Führungsmacht eine expansive Phase des Empire zu eröffnen. Bedeuten nun die Ereignisse von New York, im Verhältnis zu damals, einen Bruch oder schreiben sie sich in eine Kontinuität ein? Kann man davon sprechen, dass mit den Anschlägen in New York eine Phase ihren Abschluss fand, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts begann? Oder muss man davon ausgehen, dass sie schon damit endete, dass die USA ihre Positionen in der internationalen Politik verändert haben, etwa bei den Verhandlungen über die Nonproliferation bakteriologischer Waffen, beim Kyoto-Abkommen oder in Durban?
Toni Negri: Zu Beginn der neunziger Jahre waren es sehr wenige, die gegen den Krieg am Golf demonstrierten, heute sind wir sehr viel mehr, zumindest hier in Italien. Diese Tatsache muss man schon mal in Betracht ziehen. Und ich glaube, das trifft so auch auf die USA zu.
Über dieses wichtige Moment hinaus stellen die Ereignisse von New York sicherlich einen Bruch dar. Einen Bruch in der Führung des Empire, in der Kontinuität, mit der sich das imperiale Netzwerk - als Projekt des Gesamtkapitals - konstituiert. Diese Aufbauphase nahm ihren Ausgang zu Beginn der Neunziger, mit dem Ende des Kalten Krieges. Es handelt sich nun tatsächlich um einen Bruch, denn es ist etwas von außerhalb gekommen. Von außerhalb dieses Prozesses, nicht jedoch von außerhalb der imperialen Verfasstheit.
Ich will damit sagen, dass es einen Prozess imperialer Konstitution gegeben hat, das heißt eine Expansion kapitalistischer Souveränität über das gesamte Feld der internationalen Beziehungen, eine Verschiebung von Souveränität. Die imperiale Souveränität hat sich über die internationalen Beziehungen gelegt. Nun hat eine Unterbrechung stattgefunden, ein Bruch: der Angriff auf die USA. Von außerhalb des Prozesses, aber von innerhalb des Empire kommt etwas, ein Rückschlag, eine Blockade, etwas, das erzwungen wurde. Vor diesem Schlag hatten die USA versucht, den Verlauf des Prozesses einseitig unter ihre Kontrolle zu bringen. Augenblicklich sehen sie sich großen Schwierigkeiten gegenüber.
Krise der imperialen Souveränität
Subtropen: Von welcher Art sind diese Schwierigkeiten?
Negri: Um das deutlicher zu machen, können wir meines Erachtens momentan drei Krisen unterscheiden - ich sage drei, um zu vereinfachen, tatsächlich sind es multiple Krisen. Diese Krisen berühren unmittelbar den Charakter der imperialen Souveränität.
Die erste Krise betrifft das militärische Moment. Die Krise besteht darin, dass die enorme militärische Macht der USA sich von Selbstmordattentaten herausgefordert sieht. Die Souveränität, die sich bislang durch die Verfügungsgewalt über Leben und Tod definierte, bis zum Paroxysmus der nuklearen Vernichtung, existiert so nicht mehr. Tausende könnten sich entscheiden, diese Macht anzugreifen, und könnten freiwillig in den Tod gehen. Es handelt sich hier um einen Widerspruch, der, wie auch immer, nach einer Lösung verlangt.
Die zweite Krise betrifft das Geld. Souveränität bedeutet auch Macht über monetäre Prozesse, die Macht über das Geld. Die große Krise geht auf die neoliberale Ideologie zurück, auf die Lex mercatoria, also darauf, dass der private Sektor in die Lage versetzt wurde, monetäre Krisen zu produzieren. Die monetäre Regulation geht nicht mehr über den Staat, sie läuft zu 80 Prozent direkt über die Privatwirtschaft. Jetzt, nach diesen Attentaten, sieht man die Probleme, etwa bei der Garantie der Assekuranzen.
Die dritte Krise ist die der Kommunikation. Die Krise der Souveränität ist verbunden mit der Zirkulation von Sinn, und dabei mit einem atemberaubenden Zerfasern der Kommunikation. Das ist eine absolut dramatische Entwicklung. Die Krise der Kommunikation ist eine Katastrophe für die Souveränität. In der Situation nach dem 11. September zerfaserte die Kommunikation derart, dass die Krise nicht mehr beherrschbar ist.
Die Schwierigkeiten stellen sich also in Form multipler Krisen. Ich sagte, dass wir zu Beginn der Neunziger nur wenige waren und heute erheblich mehr sind. Es gibt viel mehr Menschen, die sich der Krise bewusst sind, einer Krise im Inneren der imperialen Konstruktion, durch die wir an fundamentale Grenzen gestoßen sind. Und man muss noch mal darauf hinweisen: Die USA haben die Starken zu spielen versucht, in der Nahostpolitik, in der Frage der Kontrolle von bakteriellen Waffen, bei den Themen Ökologie in Kyoto und Rassismus in Durban. Jetzt finden sie sich inmitten zugespitzter Widersprüche.
Subtropen: Was bedeutet das für die neue Militärintervention, für den neuen Krieg? Welche Art Krieg ist das? Wenn die Souveränität sich verschoben hat, wenn die imperiale Souveränität in der Krise steckt, welche politischen und militärischen Konsequenzen hat das?
Negri: Die Bedeutung des Krieges selbst hat sich geändert. Die Reaktion angesichts der Krise scheint in eine Strategie eingeschrieben, die auf ganz selbstverständliche Art Krieg als Mittel der Disziplinierung begreift. Wenn die Gewalt kein »Außen« mehr kennt, wenn die Sprache nicht mehr Träger von Bedeutung ist, wenn es keine vermittelnden Maßnahmen mehr gibt, dann ist klar, dass Disziplin nur mit extremer Gewalt durchgesetzt werden kann. Wir sind mitten im Problem der Souveränität. Ich bin überzeugt, dass es keine Souveränität gibt, die nicht zugleich auch eine Beziehung, ein Verhältnis ist. Luciano Ferrari-Bravo beschrieb ganz richtig, dass das Konzept der Souveränität immer ambivalent ist: Eine Art Hegemonie, die auf paradoxe Weise etwas verspricht, das sie nicht halten kann. Für den Staat, für die Politik ist es nicht möglich, die Ambivalenz auszuschließen. Die imperiale Macht hingegen ist geradezu genötigt, sie auszuschließen, sie ist gezwungen, den Krieg als konstituierende und instituierende Form der neuen Ordnung zu denken. Das bedeutet allerdings, Gewalt und Maßnahmen zu predigen, über die Anwendung von Gewalt, das Ergreifen von Maßnahmen und die Bedeutung der Sprache zu verfügen. Sie wollen die Souveränität zu einer konstituierenden Maschinerie umbauen.
Hegemonie und Konkurrenz
Subtropen: In dem Buch Empire haben Michael Hardt und du das Empire als »Nicht-Ort« beschrieben. Ist an diesem Nicht-Ort ein Kampf um Hegemonie möglich? Befinden wir uns bereits in diesem Kampf? Welche Stellung nehmen die USA heute im Empire ein, etwa im Vergleich zu Europa? Gerade bei dieser letzten Frage gibt es ja eine lebhafte Debatte und auch einige Missverständnisse über das Konzept des Empire ...
Negri: Man kann nicht sagen, dass der globale Kapitalismus unter amerikanischer Führung ist. Wer es gewohnt ist, die Regeln der Macht auf diejenigen der Ausbeutung zurückzuführen, wird auch erst in zweiter Linie von Nationen sprechen. Das war noch möglich, als es imperialistische Mächte gab. Was verstand man unter Imperialismus? Es war die Möglichkeit, ein Modell der Ausbeutung auf die internationale Ebene auszuweiten. Da das heute so vorbei ist - oder besser, größtenteils vorbei ist, oder noch besser, tendenziell so gut wie vorbei ist -, kann man nicht mehr vom US-Imperialismus sprechen. Es gibt vielmehr Gruppen, Eliten, die die Schlüssel in den Händen halten, die Ausbeutung zu organisieren, und daher die Macht, den Krieg zu organisieren, Gruppen, die sich weltweit durchsetzen wollen. Selbstverständlich ist das ein widersprüchlicher Prozess und wird es mit Sicherheit auf lange Zeit bleiben. Augenblicklich üben vor allem nordamerikanische Akteure, also Unternehmen und Eliten, die Vormacht aus. Gleich nach ihnen kommen die Europäer, die Russen, die Chinesen. Sie sind da, unterstützen sie, stören sie gelegentlich und sind jederzeit bereit, eine neue, gewichtigere Position einzunehmen. Diese möglichen Veränderungen blieben jedoch an der Oberfläche, denn letztlich bleibt das, was läuft, das gleiche, es ist immer noch das Kapital, der globale Kapitalismus. Wenn man einen politikwissenschaftlichen Standpunkt einnimmt, so sieht es so aus, als ob augenblicklich, gemeinsam mit den USA, die Russen gewinnen, wohingegen die Europäer dabei sind, ins Hintertreffen zu geraten. Wenn ich Europäer sage, so meine ich nicht das große europäische Kapital, das weiterhin gleichauf mit seinem amerikanischen Pendant ist, sondern die europäischen Führungseliten und herrschenden Klassen. Seit Anfang der siebziger Jahre gab es jedes Mal eine Krise, wenn die Europäer versucht haben, ihre monetären und/oder militärischen Institutionen aufzubauen. In diese großen internationalen Krisen wurden die Institutionen jedes Mal hineingezogen.
Subtropen: Du meinst also doch, dass es eine Hegemonie des amerikanischen Kapitals gibt?
Negri: Es gibt eine Hegemonie, die als die des amerikanischen Kapitalismus erscheint, ich meine allerdings, dass der italienische, der deutsche oder auch der französische Kapitalismus Teil dieser hegemonialen Operation sind.
Krieg als konstituierende Maschine
Subtropen: Das Attentat auf das World Trade Center traf vor allem Menschen, die in einer sehr kosmopolitischen Stadt leben, immaterielle Arbeiterinnen und Arbeiter, Migrantinnen und Migranten aller Länder. Ist der Angriff ein Angriff auf diese kosmopolitische Zusammensetzung, auf die Freiheit der Bewegung, auf die Möglichkeit des Exodus?
Negri: Eure Frage hilft uns, diesen Krieg zu verstehen. Tatsächlich stehen sich in diesem Konflikt zwei Fraktionen im Empire gegenüber, die eine, die aktuell dominant ist, und eine, die diese Führung übernehmen will. In diesem Sinne ist der Terrorismus das Double des Empire. Gegner von Bush und bin Laden ist aber die Multitude. Ich denke nicht, dass wir sagen können, wir seien alle Amerikaner; ich denke, wir könnten allerdings sagen, wir seien alle New Yorker. Wenn wir sagen, wir sind alle New Yorker, dann hat das nichts mit einer Affirmation der USA als Ganzes zu tun, sondern mit einer Affirmation von New York, als eines Orts der Métissage, der Hybridisierung. Der Big Apple voller Würmer.
Subtropen: Vor dem G 8-Gipfel in Genua hast du von einer Alternative innerhalb des Empire gesprochen, du hast der Form »Rom« die Form »Byzanz« gegenübergestellt, einer stärker demokratischen Führung die deutlich autoritäre Variante. Realisiert sich jetzt diese »byzantinische« Form?
Negri: Es ist augenscheinlich, dass die byzantinische Variante des Empire auf frühere Pläne der Bush-Gruppe zurückgeht, auf die einer strategischen Verteidigung im Weltraum (SDI). Auch hier gibt es wieder den Diskurs über den Krieg als konstituierende Maschine. Eine Maschine, die auf eine ins Extrem getriebene technische Innovation aufgepfropft wird. Ein alter Entwurf, der darauf abzielt, die Verteidigung zu automatisieren und der militärischen Entwicklung eine postfordistische Form zu geben. Welches sind seine Elemente? Vor allem der Automatismus der Reaktion. Es handelt sich hierbei zum einen um eine enorme Akkumulation von fixem Kapital, zum anderen um eine extreme Mobilität in der Art, Krieg zu führen. In den Neunzigern sprach man von einer Militärreform, die auf zwei Säulen ruhen sollte. Es geht um eine postfordistische Militärorganisation.
Die Ereignisse vom 11. September haben diesen Mechanismus umgepolt. Die Reform geht einerseits schnell voran, in dem Maße wie, aktuell durch die USA in Afghanistan, die Armee zu einer Art internationalen Polizei gemacht wird. Die Barriere der strategischen Verteidigung im Weltraum jedoch, die die kapitalistischen Eliten der verschiedenen Regionen spaltete, insbesondere die USA und Russland, diese Barriere existiert nicht mehr. Der rechte Flügel der amerikanischen Führung hat SDI für eine weitergehende Allianz geopfert, eine »Große Allianz« zum Zweck einer einheitlichen globalen Macht. So gesehen entsteht gerade eine neue Form.
Ein neuer Keynesianismus?
Subtropen: Die USA scheinen die neoliberale Phase definitiv beendet zu haben; man versucht, sich durch die angekündigte staatliche Unterstützung für die Wirtschaft wieder »keynesianischen« Vorstellungen anzunähern. Aber wie soll Keynesianismus ohne Fordismus möglich sein? Man spricht von der Stärkung des Staates und der Politik, immer vor dem Hintergrund des Kriegs. Was kann die Multitude dem entgegensetzen?
Negri: Die USA sind dabei, auf den Krieg zu setzen, auf die militärische Strukturierung der Welt nach der Maßgabe eines autoritären Neoliberalismus, und nicht auf eine keynesianische Ordnung. Die USA intervenieren, und zwar auf sehr nachdrückliche Art, was uns zur Frage der Souveränität zurückbringt. Der Staat interveniert als ein Pol der Souveränität, und er hat nicht das Vermögen zur Neuordnung der sozialen Prozesse im politischen Sinn. Ich meine, dass dieser autoritäre Neoliberalismus eine offene Konzeption von Souveränität hat, vergleichbar dem Verhältnis, in dem Stalinismus und Sozialismus verbunden waren. Dieser Aspekt ist in höchstem Maße beunruhigend.
Die Macht der Multitude
Subtropen: Du hast über die Krise des Empire gesprochen. Doch zielte unsere Frage auch auf die andere Seite, auf die Macht der Multitude. Gibt es für sie die Möglichkeit, der Drohung etwas entgegenzusetzen?
Negri: Ich möchte diese Frage sehr vorsichtig beantworten. Ich habe das Gefühl, dass die Reaktion der sozialen Bewegungen sehr gut, aber auch noch sehr fragil ist. Dieses zweite Element ist sicher recht negativ. Der begonnene Zyklus von Kämpfen, grob gesagt von Seattle über Porto Alegre bis Genua, wurde unterbrochen. Seit Ende der siebziger Jahre sind wir leider an die Unterbrechung dieser Zyklen gewöhnt. In Empire beschreiben wir soziale Kämpfe - die von Los Angeles, Chiapas, Tienanmen, aber auch die, die zum Fall der Berliner Mauer geführt haben. Es handelt sich um wirkliche Kämpfe, zwischen denen sich jedoch kein roter Faden ausmachen lässt. Nach Seattle allerdings wurden wir Zeugen eines echten Zyklus von sozialen Kämpfen. Auf dieser Ebene hat es zweifellos einen Rückschlag gegeben. Das Problem besteht nicht darin, dass es keinen neuen Demonstrationsort gäbe. Es gibt eine reale Schwierigkeit bei der Einschätzung der Zukunft: Was werden die neuen Schlagworte sein, wie lassen sich die Fragen und Forderungen weltweit verbinden? Diese Bewegung hatte ein reales Niveau erreicht, eine ontologische Konsistenz etabliert, heute gibt es eine Blockade all dessen, ein Hindernis.
Subtropen: Welche Wege stehen den sozialen Bewegungen heute offen?
Negri: Analysieren wir doch die Reaktionen der Bewegung in Italien. Zunächst versucht man, das zu halten, was man aufgebaut hat. Da meine ich vor allem das Verhältnis zu den Katholiken, das in Italien sehr wichtig ist. Das Thema »ziviler Ungehorsam« gehört in diesen Kontext. Das gleiche - der Versuch zu erhalten, was aufgebaut wurde - findet übrigens in den USA statt, wie auch in anderen Ländern.
Zweites wichtiges Element: die Netzwerke offen zu halten und zu versuchen, sie auszubauen. Was augenblicklich geschieht, in den Betrieben, den Schulen und den Universitäten, ist von grundlegender Bedeutung, da so Bündnisse konsolidiert werden können, mit denen sich Kämpfe, Bewegungen, Tendenzen identifizieren, was zuvor nicht absehbar war. Das heißt weder, die Schwierigkeiten zu vergessen, die wir heute hätten, eine halbe Million Menschen in den Straßen zu organisieren wie in Genua, noch, dass man es so machen muss wie in Genua. Es handelt sich um eine Passage, eine Situation des Übergangs, die sehr mächtig ist, mächtig in dem Sinne, dass sie voller Möglichkeiten steckt.
Etwas anderes, das mir absolut fundamental erscheint: Die Menschen haben verstanden. Sie haben tatsächlich verstanden, dass es ihre Subjektivität ist, die produziert, und dass alle Tätigkeiten produktiv geworden sind, gerade weil es keine privilegierten Produktionsorte im alten Sinn mehr gibt. Wenn es ein solches Bewusstsein gibt, das weiter geht, wenn die Leute aus der Friedensbewegung sich vermischen mit denen aus der Arbeiterbewegung, und die wiederum mit denen aus den sozialen Bewegungen, mit der Frauenbewegung, mit den Jugendlichen aus den Centri sociali, wenn das so mächtig stattfindet, wie wir es augenblicklich erleben, dann werden ganz neue Parolen möglich. Zum Beispiel »Flucht«, ein Schlagwort, das keineswegs passiv ist. Es war passiv, als die Flucht sich im Streik ausdrückte; als allein das Kapital die Produktionsmittel zur Verfügung stellte, konnten Flucht und Streik nur passive Äußerungen sein. Heute, wenn man flüchtet, wenn man sich dem Machtverhältnis, das ans Kapital gebunden ist, verweigert, dem Machtverhältnis, das ans Wissen, dem Machtverhältnis, das an die Sprache gebunden ist, wenn man das macht, dann tut man es machtvoll, machtvoll, weil man im Augenblick der Verweigerung produzierend tätig ist. In dieser Produktion, die nicht nur eine von Subjektivität, sondern auch von immateriellen Gütern ist, wird die Flucht ein hervorragendes materielles Mittel des Kampfes. Es handelt sich um Modelle, bei denen sich ein Netz im Moment des »Sich Entziehens« aufbaut, in dem Augenblick, da man flieht, sich verweigert, sich entzieht, der kapitalistischen Organisation der Produktion, der kapitalistischen Produktion von Macht.
Subtropen: Die Frage des Exodus also ...
Negri: Natürlich müssen die Flucht, der Exodus als politisches Laboratorium verstanden werden. Es stimmt allerdings auch, dass wir von einer grundlegenden »Umwertung der Werte« betroffen sind. Das Problem besteht darin, zu verstehen, dass traditionelle Trennungen, etwa die zwischen privat und öffentlich, nichts mehr bedeuten und es vielmehr darauf ankommt, ein »Gemeinsames« aufzubauen, dass Produktion und die Möglichkeiten, einen Ausdruck zu finden, eine Vorstellung dieses »Gemeinsamen« entwickeln müssen. Eine »Umwertung der Werte« muss stattfinden, und sie muss zu einer Entscheidung führen.
Allerdings können weder die Entscheidung noch das Ziel in einem Vakuum entwickelt werden. Sie entstehen aus der Mitte des materiellen Transformationsprozesses der Multitude; wenn nicht, so findet nichts dergleichen statt, und wir entwickeln uns zurück. Ein Zyklus von sozialen Kämpfen hat sich in Gang gesetzt, und er erlaubt es uns, unsere eigenen kleinen Kriegsmaschinen zu entwickeln, sehr deleuzianische Maschinen.
Wir sind unübersehbar dabei, in Rückstand zu geraten, denn es gab eine Vorahnung dieses Prozesses, der in dieser Blockade manifest wurde. Diese Blockade jedoch, falls ein guter Weg gefunden wird, mit ihr umzugehen, kann paradoxerweise zu einem mächtigen Moment werden. Es wäre ein Fehler, ein sehr schwerwiegender Fehler, sich jetzt, wie es einige vorschlagen, den nationalen Wahlen, also den Formen der klassischen politischen Repräsentation zuzuwenden. Das hieße, die Bewegung zu reterritorialisieren.
Rückwärts zu gehen ist ein Fehler, der unbedingt vermieden werden muss. Die grundlegende Überlegung sieht folgendermaßen aus: Auf der Ebene der Biomacht, auf der Ebene einer Machtsituation wie der unsrigen, ist es nicht möglich, das Verhältnis zum Anderen zu vermeiden, vor allem nicht zum produzierenden, zum denkenden Anderen. Und das Andere, das sie versuchen zu zerstören, ist, ganz im Gegensatz zu dem was sie behaupten, nicht bin Laden und der Terrorismus, es ist die Multitude. Diese Situation des Übergangs ist fundamental.
Das Interview mit Toni Negri entstand in Kooperation mit der Zeitschrift Multitudes aus Paris, in deren aktueller Ausgabe (Nr. 7, Dezember 2001) es gleichzeitig erscheint. Die Fragen formulierten Giuseppe Cocco, Maurizio Lazzarato (Multitudes) und Thomas Atzert (Subtropen). Aus dem Französischen von Michael Sander.
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