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Berlin: Prozessbericht vom 03.01.2002

Und weiter geht’s
Nicht das ‘dreckige Dutzend’ sondern ein unerschrocken hartnäckiger Kern verfolgte auf den
ZuschauerInnenbänken den ersten Auftritt des Kronzeugen nach gut dreimonatiger Absti-
nenz. Am ersten vollständigen Verhandlungstag im neuen Jahr wurde Tarek Mousli vom
Kammergericht durch ein Potpourri von Fragen zu verschiedenen bereits verhandelten Kom-
plexen vernommen. Seine Zeugenaussagen enttäuschten auch diesmal nicht, sie schlossen
nahtlos an das bereits bekannte Aussageverhalten: detailliert bei belastenden
Feststellungen, ahnungslos bei seiner eigenen Mitwirkung bzw. dem Erwerb seines
angeblichen Wissens. Die scheinbar planlose Verhandlungsführung des Kammergerichtes
tat das Seinige, um den Prozessbeteiligten ein schlüssiges Folgen möglichst schwer zu
machen. Davon völlig unberührt blieb - wie gewohnt - die wie immer schwergewichtig
besetzte Bank der Bundesanwaltschaft (BAW). Das neues Gesicht am heutigen Tag, der
Bundesanwalt Balenta, reihte sich störungsfrei bei den bisherigen Herren des Verfahrens ein,
obwohl sein Volumen noch etwas ausbaufähig erschien.

Probleme bei der Vergegenwärtigung, wer kennt sie nicht?

Beim Anschlag auf das ZSA-Gebäude hätte er bei früheren Vernehmungen die Beteiligung
des Angeklagten Harald G. absolut sicher zu Protokoll gegeben. Heute in der Verhandlung
könne er die Anwesenheit des Angeklagten am Tatort und -tag nicht mehr so bestätigen. Si-
cher hätte jedenfalls nach der Aktion ein Nachbereitungstreffen mit ‘Judith’, ‘John’ und
‘Heiner’ stattgefunden, dem der Zeuge damals angeblich die Mitwirkung des ‘Siggi’ entnom-
men haben will. Einzelheiten beim Zustandekommen des o.g. Treffens, wie auch bei den Tat-
vorbereitungen für den Anschlag..."könne er sich derzeit nicht mehr vergegenwärtigen."

Die ersten Überlegungen in ‘seiner Gruppe’ für einen Anschlag auf die Siegessäule hätten
Mitte/Ende 1989 begonnen. Er selber hätte das Vorhaben natürlich für schwachsinnig gehal-
ten, symbolisiere die Siegessäule doch eine ganz andere Bedeutung, z.B. für die Schwulen-
bewegung durch ihre gleichnamige Zeitung. Nach der Aktion wäre er gelegentlich mit
‘Sebastian’ am Tatort vorbei gefahren und dieser hätte ihn über Details (Beschaffung von
Nachschlüsseln, Positionierung des Sprengstoffes und Fehlzündung eines Teiles der
Ladung) informiert. Von ‘Siggi’ will er wiederum gehört haben, dass auch ‘Heiner’, ‘Anton’
und er selbst daran beteiligt gewesen sein sollen. Wo und wann dieses Gespräch
stattgefunden hätte, mit welchem Inhalt oder weiteren Beteiligten konnte er nicht angeben.
Auf alle Fälle hätten ‘John’ und ‘Judith’ den Anschlag angeblich befürwortet. Auf Vorhalt der
Richterin Henning wurde deutlich, dass der Zeuge bei seiner Vernehmung im August 2000 in
diesem Punkt offensichtlich genau das Gegenteil erklärt hatte. Damals hätten die beiden
Vorgenannten den Plan missbilligt. Selbst fragmentarische Frageversuche des Beisitzenden
Richters Alban zu diesem Widerspruch blieben ohne die erhoffte Aufklärung. Auch zur
Herstellung, Lagerung und Transport des angeblich verwendeten Sprengstoffes könne er
keinerlei Angaben machen, ..."das wäre jetzt reine Spekulation von mir."

Der Mehringhof mit explosivem Aufzug?

Zum angeblichen Sprengstofflager im Mehringhof: 1988 hätte er von ‘John’ erfahren, dass
ca. 20 kg des Materials auf die ‘Insel’ kommen sollen. Nach kontroverser Debatte wäre auf
Vorschlag von ‘Sebastian’ der Mehringhof als Depot ausgesucht worden, der (später dann
‘Anton’) auch das Lager verwaltet hätte. Sebastian hätte dem Zeugen später dann einmal
das Depot gezeigt, das sich angeblich, mit einem schweren Metalldeckel verschlossen, in
einem Aufzugsschacht gegenüber der damaligen Kneipe EX mindestens bis 1990 befunden
haben soll. ‘John’, ‘Judith’, Anton und vermutlich auch ‘Heiner’ ("...weil die sowieso immer
über alles gesprochen haben...") hätten von dem Versteck gewußt, in dem der Sprengstoff,
eine Pistole und eine Maschinenpistole aufbewahrt worden wäre. Der Kronzeuge selber will
nie etwas von diesen Dingen gesehen oder berührt haben. Die Erfolglosigkeit zweier
gründlicher Durchsuchungen des von ihm exakt bezeichnetes Schachtes durch das
Bundeskriminalamt (BKA) fand keine Erklärung. Die beim zweiten Anlauf vom Kronzeugen
Mousli videogelenkten Beamten konnten nicht einmal Staubproben von Sprengmaterial
aufspüren. Eine nachträgliche Einschätzung dieser ergebnislosen Bemühungen des BKA
wäre zumindest mit ihm angeblich nicht vorgenommen worden.

Der beim Anschlag auf Hollenberg (Leiter der damaligen Ausländerbehörde) gefertigte
Brandsatz hätte mit dem o.g. Sprengstoff angeblich nichts zu tun gehabt, der wäre aus
anderem Material gefertigt worden, gab der Kronzeuge an. Wer diesen gefertigt hätte, in
welchem Behältnis er sich befand, wer ihn transportiert hätte und wie, darüber wollte aber
Tarek Mousli keine Erinnerung mehr besitzen. Zu der verwendeten Handfeuerwaffe konnte
sich der Zeuge hingegen ganz genau erinnern und angeben, dass ‘John’ für diese zuständig
gewesen sein soll. Was ihn zu dieser Annahme verleitet hat, wo die Waffe gelagert und
anschließend verwahrt worden sei, ob sie entsorgt wurde, usw. konnten seinem Gedächtnis
hingegen nicht entlockt werden. Das ungläubige, intensive Nachfragen der Verteidigung zu
diesem Punkt veranlasste die Vorsitzende Richterin ihre Schutzfunktion auszuüben: ..."aber
der Zeuge weiß doch nichts...". Das würde auch für die benutzte Waffe beim Anschlag auf
den Richter Dr. Korbmacher gelten, fügte der Kronzeuge hinzu. Sein Erinnerungsvermögen
erhellte sich dann aber zusehend bei den Aussagen, er selber habe nie eine Waffe in der
Hand gehabt und wäre auch nie mit einem Fahrzeug gefahren, von dem aus geschossen
worden ist.

Ein Brief wurde verlesen, der mit ‘Hallo Langer’ beginnen und mit ‘Anton’ enden würde. Sein
spezieller Spitzname wäre diese Anrede nicht, erklärte der Zeuge, auch hätte er diesen Brief
nie erhalten (er stammt aus der Rekonstruktion eines aufgefundenen Karbonfarbbandes
einer Schreibmschine). Grüße von einem ‘Anton’ seien ihm einmal von seinem damaligen
Rechtsanwalt Frank A. übermittelt worden, der wiederum die Nachricht von dem Anwalt
Thomas H. erhalten haben will. Der Zeuge selber will aber vom RA H. nicht direkt die Grüße
ausgerichtet bekommen haben.....alles noch soweit klar am Kammergericht?

Ein Seegraben mit Untiefen

Weiter ging es im Galopp durch die Themenkomplexe mit dem angeblichen Sprengstoffdieb-
stahl in Mousli’s Keller und der Entsorgung des Restmaterials in dem sprengstoffumwobenen
Seegraben bei Berlin-Buch.
‘Siggi’ hätte ihn im März 1995 angerufen. Bei einem Gespräch in einem Café habe er dann
der kurzzeitigen Einlagerung von Sprengstoff in seinem Keller zugestimmt. Er habe einen
Zweitschlüssel übergeben und kurze Zeit später hätte er im Keller auch eine entsprechende
Tasche entdeckt. Nach dem Einbruch hätte er dann den restlichen Sprengstoff eingesammelt
und in einem blauen Müllsack mit Klebeband wasserfest neu verpackt. Da ‘Siggi’ angeblich
die Rücknahme abgelehnt habe, hätte er am selben Abend das Paket in besagten
Seegraben entsorgt. Die Einwurfstelle unmittelbar in Parkplatznähe wäre für ihn auch später
bei wiederholten Vorbeifahrten (zu einem Hundetrainingsgebiet) weiterhin deutlich zu
erkennen gewesen, denn die blaue Farbe des Sackes hätte sichtbar durch das Wasser
geschimmert. Genau diese Stelle hätte er dann später während seiner Untersuchungshaft in
der JVA Moabit auf einem Plan markiert und bei einer Ausführung in Handfesseln die BKA-
Beamten am 16.06.99 ohne Umwege direkt dorthin führen können. Nachdem dort die
Polizeitaucher auch am darauffolgend Tag keinen Fund hätten machen können, wäre er
einen Tag nach seiner ersten Entlassung (08.07.99) mit den BKA-Beamten Trede und
Barbian sowie einem Forstbeamten ein zweites Mal zu dieser Stelle gebracht worden. Dabei
hätten sie dann den Grabenverlauf ca. 200 m weiter abgesucht und auch noch einen
anderen ähnlichen benachbarten Graben, wiederum ohne Erfolg. Dass später bei einer
ausgeweiteten Suche im Seegraben sich dann doch noch der gewünschte Erfolg einstellte,
will der Kronzeuge erst bei einer erneuten Vernehmung im Oktober 1999 erfahren haben.
Explizit nachgefragt beim BKA hätte er nach dem Suchergebnis jedenfalls nicht.

Ja, lüg’ ich?

Abschließend stellte die Verteidigung einen Protokollantrag (gemäß §183 GVG), da nun ein
gravierender Widerspruch zu der Aussage des damals beteiligten Polizisten Trede im Pro-
zess erkennbar war. Der hatte bei seiner Vernehmung das Gegenteil bezeugt: er hätte sich
bereits bei seinem ersten Ortstermin - an den Kronzeugen gefesselt - durch ergreifend an-
strengende Fußmärsche mehrere Hundert Meter den Graben entlang gequält. Mousli hätte
mit ihm das ganze Areal großflächig abgesucht, weil sich der Zeuge nicht genau an die Ein-
wurfstelle hätte erinnern können...... Haben wir den ersten Meineid eines BKA-Beamten in
diesem Prozess erlebt oder sollte sich etwa der Kronzeuge doch als Kronlügner betätigt ha-
ben.......? Die Auflösung erfolgt eventuell schon morgen in der neuen Ausgabe der Kammer-
spiele in Moabit. Eines war für die ProzessbeobachterInnen unübersehbar: der Seegraben
hatte es in sich, ob vorher oder hinterher werden wir vielleicht noch erfahren, aber bei niedri-
gem Wasserstand stinkt’s da gewaltig!!

 

04.01.2002
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