Berlin: Prozessbericht vom 8. März 2002
8.3.2002: 60. Prozesstag
"Wir" verständigten uns über Funk
Heftige Auseinandersetzungen lieferte sich am heutigen Verhandlungstage die Verteidigung
mit dem Gericht und der Bundesanwaltschaft (BAW). Auslöser waren widersprüchliche
Aussagen des Kronzeugen zum Anschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber
(ZSA). Zuvor allerdings stellte die Verteidigung von Harald G. neue Anträge.
Im Wassergraben
Gleich drei Anträge stellte die Verteidigung von Harald G. zu Beginn des heutigen
Prozesstags. Im ersten Antrag forderten die Rechtsanwältinnen Studzinsky und Würdinger die
Erstellung eines BKA-Gutachtens, das den Zeitraum präzisieren soll, wie lange der
Sprengstoff, der von der Polizei im August 1999 in einem Wassergraben im Norden Berlins
gefunden worden war, dort gelegen haben kann. In die gleiche Richtung zielte der zweite
Antrag: Ein unabhängiger Sachverständiger soll ein Gutachten über den chemischen
Veränderungsprozess erstellen, dem Klebeband ausgesetzt ist, wenn es über längere Zeit
Wasser ausgesetzt ist.
Zum Hintergrund: Tarek Mousli hat mehrfach bekundet, dass er nach dem Diebstahl von
Sprengstoff in seinem Keller den dort zurückgelassenen Sprengstoff in einen blauen
Plastiksack eingepackt und mit Klebeband zugeklebt haben will. Dieses Packet hätte er dann
in einem Wassergraben in Berlin-Buch versenkt. Demnach wäre das besagte
Sprengstoffpacket rund 4,5 Jahre im Wasser gelegen, bis es am 24.8.1999 von der Polizei
gefunden wurde. Die Gutachten - so die Verteidigung - werden jedoch zeigen, dass der
Sprengstoff maximal einige Wochen vor seinem Auffinden in besagtem Graben versenkt
wurde. Dies würde denn auch das Mysterium erklären, warum der Sprengstoff bei zwei
polizeilichen Suchaktionen am 16.6.1999 und am 8.7.19999 nicht gefunden werden konnte.
Der dritte heute gestellte Antrag bezieht sich auf die Herbeiziehung zweier Akten aus einem
anderen Verfahren. Dadurch würde offenkundig - so die Verteidigerinnen -, dass das
Bundeskriminalamt (BKA) schon 1995 einen Bezug zwischen dem Sprengstofffund in Berlin
und Anschlägen der Revolutionären Zellen (RZ) hergestellt habe.
"Darum haben wir uns noch nicht gekümmert"
Bevor Mousli erneut den Zeugenstand betrat, erinnerte Rechtsanwalt Euler an einen anderen
Antrag der Verteidigung von Harald G.. In diesem Antrag wurde die Aushändigung von
ungeschwärzten Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS) gefordert, da die Akten
in der vorliegenden Form nur unvollständig nachvollzogen werden könnten. Die Vorsitzende
Richterin Hennig erinnerte sich zwar, musste jedoch zugeben, dass sie sich darum noch nicht
gekümmert habe.
Wie Euler Mousli heute vorhielt, ergibt sich aus den bisher vorliegenden VS-Akten, dass der
Zeuge im April 2000 drei Mal und jeweils ein Mal in den Monaten Mai, Juni und September
des selben Jahres mit Beamten des VS zusammengetroffen sei. Mousli bestätigte auf
Nachfrage, dass die BKA-Beamten Trede und Schulzke nur bei dem ersten Treffen anwesend
gewesen seien. Die weiteren Treffen hätten nur zwischen ihm und zwei VS-Beamten
stattgefunden. An deren Namen konnte er sich nur noch lückenhaft erinnern.
Ein Funkspruch von "Jon" oder "Sebastian"
In der Folge versuchte Rechtsanwältin Studzinsky an ihrer Befragung des Zeugen vom 1.
März anzuknüpfen. Mousli hatte damals auf genaue Nachfrage ausgesagt, dass bei der Aktion
gegen die ZSA im Februar 1987 zwei Funkgeräte im Einsatz gewesen seien. Eines davon
habe er bedient. Er könne sich an zwei kurze Funksprüche erinnern, die o.k. "oder so ähnlich"
gelautet hätten und von ihm empfangen worden seien. Ein Funkspruch sei bei der Ankunft an
der ZSA, ein weiterer Funkspruch nach dem Ablegen des Sprengstoffs an einer der
Außenmauern des Gebäudes abgegeben worden. Rechtsanwältin Studzinsky, die diese
Aussagen des Zeugen zusammenfassend wiedergegeben hatte, um daran ihre Befragung
anzuknüpfen, wurde von Bundesanwalt Bruns mehrfach lautstark unterbrochen, da er die
Zusammenhänge nicht richtig wiedergegeben sah. Mousli machte heute noch einmal deutlich
"zu fast 100 Prozent" sicher zu sein, dass "Sebastian" (laut Mousli der Deckname von Lothar
E.) die von ihm empfangenen Funksprüche abgegeben habe.
In der Folge hielt Rechtsanwältin Studzinsky Mousli seine Aussage vom 2.12.1999 vor.
Damals hatte er ausgesagt, "Jon" (laut Mousli der Deckname von Rudolf Sch.) sei um
Mitternacht mit der U-Bahn zur ZSA gefahren. "Als er sich fünf Minuten vor der ZSA (zu
Fuß) befand, verständigten wir uns über Funk". Erneut war es Bundesanwalt Bruns, der den
Vorhalt als unnötig qualifizierte, weil der Zeuge zu diesem Zusammenhang nun schon zu
genüge befragt worden sei. Unterstützt wurde Bruns an diesem Punkt auch von der
Vorsitzenden Richterin. Sie beanstandete, dass diese Aussage dem Zeugen zu einem früheren
Zeitpunkt bereits von Rechtsanwalt Euler vorgehalten worden sei. Eine viertelstündige Pause
beendete zunächst den daraufhin einsetzenden heftigen Disput zwischen Verteidigung und
Gericht, ob Vorhalte früher gemachter Aussagen ab sofort nur noch einmal dem Zeugen
verlesen werden dürften.
Das "wir" als "gedankliche Füllmasse" für "Sebastian", den guten Freund
Nach der Pause versuchte Mousli den Widerspruch zunächst aufzuklären: Schon mehrfach
habe er erläutert, dass er zunächst bemüht gewesen sei, seinen "guten Freund" Lothar E. nicht
zu belasten. Dies sei auch am 2.12.1999 noch der Fall gewesen. Aus diesem Grund habe er
nur von "Jon" gesprochen. Diese Erklärung Mouslis veranlasste Rechtsanwalt Becker
einzugreifen. Wenn Mousli zu nahezu 100 Prozent sicher sei, dass "Sebastian" gefunkt habe
und damals diesen Tatbeitrag eindeutig "Jon" zugeordnet habe, so sei dies eindeutig eine
Falschaussage. Warum er nicht zumindest die "Unsicherheit", ob "Jon" oder eine andere
Person gefunkt hatte, in seiner damaligen Aussage zum Ausdruck gebracht habe, versuchte
Rechtsanwältin Studzinky vom Zeugen zu ergründen. Diese Frage wurde jedoch auf
Betreiben der BAW vom Gericht, weil schon beantwortet, zurückgewiesen. Ebenfalls
zurückgewiesen, "weil der Zeuge die Frage schon beantwortet hat" (Vorsitzende Richterin
Hennig), wurde die von allen Anwälten schließlich zu Protokoll gegeben Frage, warum der
Zeuge damals den Funkspruch "Jon" zugeordnet hatte und ob er keine andere Möglichkeit
gesehen habe, "Sebastian" zu schützen.
Ob er denn kein "schlechtes Gewissen" gehabt hätte, als er damals wieder besseren Wissens
"Jon" belastet habe, wollte dann Rechtsanwalt Becker wissen. Nein, dass hätte er nicht
gehabt, so Mousli, der sich nun doch zu einer Antwort herausgefordert fühlte und die
Deckung, die ihm das Gericht und die BAW bot, kurzzeitig verließ. Mit dem "wir" in der
damaligen Aussage ("Als er ('Jon') sich ca. fünf Minuten vor der ZSA befand, verständigten
wir uns über Funk") habe er implizit Lothar E. vor seinem inneren Auge gehabt. Das "wir" sei
sozusagen die "gedankliche Füllmasse" für den nicht genannten Lothar E. gewesen. Es sei
jedoch nicht seine Absicht gewesen "Jon" fälschlicher Weise zu beschuldigen.
Die letzte U-Bahn
Nach diesem aufschlussreichen Einblick auf die Art und Weise des Aussageverhaltens des
Zeugen, führte Rechtsanwältin Studzinsky ihre Befragung zum Anschlag auf die ZSA weiter.
Ebenfalls am 2.12.1999 hatte Mousli ausgesagt, dass zum "Sicherheitskonzept" der Aktion
die Verabredung gehört habe, dass "Jon" ca. 15 Minuten nach dem Ablegen des Sprengstoffs
eine dritte kurze Funkmeldung abgeben sollte. Daran konnte sich der Zeuge heute nicht mehr
erinnern. Auch an seine in der Hauptverhandlung am 24.8.2001 gemachte Darstellung, dass
kurz nach der Detonation "Sebastian" eine Funkmeldung abgegeben habe, war ihm heute
nicht mehr erinnerlich. Er sei sich heute vielmehr sicher, sich vor der Detonation mit der
letzten U-Bahn abgesetzt zu haben, konnte sich jedoch auch nicht mehr erinnern, ob er dazu
den U-Bahnhof Amrumerstraße oder Reinickendorferstraße benutzt habe. Rechtsanwältin
Studzinsky erörterte, dass die Polizei damals auf Grund von Zeugenaussagen davon
ausgegangen war, dass der Sprengsatz um 0:45 gezündet habe. Die letzte U-Bahn sei zum
damaligen Zeitpunkt von der Amrumerstraße um 0:07 und von der Reinickendorferstraße um
0:37 Richtung Süden gefahren. Selbst wenn sich der Zeuge eine viertel Stunde vor der
Detonation abgesetzt haben will, sei ein Erreichen der Amrumerstraße in so kurzer Zeit nicht
möglich. "Ich kann dazu nur sagen", so Mousli, "dass ich sicher bin, mit der letzten U-Bahn
gefahren zu sein".
Die Befragung wird am Donnerstag, den 14.3. fortgesetzt.
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