Strasbourg: Reden wir von Europa | Aufruf zum noborder camp
Einem Europa, das irgendwann einmal verlassen wurde und nun besetzt wird wie
ein leeres Haus. Dessen Türen aufgebrochen werden, damit die
heruntergekommenen Räume sich wieder mit Leben füllen: einem anderen Leben,
das freilich nichts zu tun hat mit dem, was einst unter Europa verstanden
wurde.
Wir glauben diesem alten Europa nach wie vor kein Wort, wenn es heute statt
Humanismus um humanitäre Missionen, statt Kolonialismus um gerechte Kriege,
statt Stellvertreterkriege um die eigene Sicherheit geht.
Wenn wir heute von Europa reden, dann nicht, weil wir an Europa glauben.
Sondern weil wir auf die Ironie der Geschichte setzen:
Im Zeitalter einer neuen globalen Souveränität haben Abhängigkeit und
Unabhängigkeit überall auf der Welt einen neuen Sinn bekommen und die
positive wie die negative Fixierung auf Nationalstaaten jede Perspektive
verloren.
Wenn wir heute von Europa reden, dann weil wir vorhaben, Europa, dieses
abbruchreife Gebilde, endlich einer sinnvollen Nutzung zuzuführen. Weil wir
die Chance sehen, mitten in diesem Europa eine andere Welt möglich zu
machen.
Wir reden von einem Europa, das erkämpft wird gegen die Mächte des alten
Europas der Nationalstaaten, das alte Europa von Kolonialismus,
Imperialismus und Faschismus. Das erkämpft werden muss gegen die Mächte des
gegenwärtigen Europas mit seinen rechtspopulistischen und postfaschistischen
Regierungen, mit seinen progressiven Großmachtphantasien und seiner
ungebrochenen humanistischen Heuchelei.
Wir reden von einem Europa, das viel mehr erkämpft werden muss gegen die
neue Macht eines imperialen Kommandos, das den Ausnahmezustand zur Regel
erhebt und die Privilegien einer liberalen Gesellschaftsordnung ebenso
einebnet wie die mühsam errungenen Zonen gelinderter kapitalistischer
Ausbeutung.
Wir reden am Ende von einem Europa, das weniger gegen das bestehende, als
für ein künftiges erkämpft wird. Wir reden von einem virtuellen Europa.
Einem Europa, das in und aus vielen anderen Europas besteht. Wir reden von
Europas, die das Werk von Generationen anderer Menschen im Kampf um
Befreiung fortsetzen.
Ein Europa, das in den vergangenen Kämpfen von Minderheiten bereits zu
erahnen war, das in den Kämpfen der Arbeits- und Papierlosen im Entstehen
begriffen ist, in den Kämpfen einer neuen Gewerkschafts- und
Umweltschutzbewegung weiter wachsen wird. Ein Europa, das es längst gibt, in
dessen Mitte wir leben, das aber trotzdem unsere Vorstellungskraft
überschreitet.
Die Menschen, denen die Hoffnung auf das blanke Überleben bald mit der
gleichen Selbstverständlichkeit geraubt wird wie das Recht auf
Selbstbestimmung, lassen sich nicht fern halten von Europa. Sie machen sich
auf den Weg - wenn nicht freiwillig, dann aus gutem Grund, mit dem festen
oder letzten Willen, ein besseres Leben zu erlangen.
Reden wir von einem offenen Europa. Ein Europa, das sich nicht länger zu
sichern vorgibt und abschottet. Ein Europa, das erobert wird vom Rest der
Welt. Das aus allen besteht, die hier sind oder hierher wollen. Ein Europa
ohne Grenzen. Ein Europa, in dem sich Innen und Außen so miteinander
verschränken, dass es untrennbar vernetzt ist mit der Welt.
Reden wir von einem kleinen Europa. Ein Europa ohne Territorium und ohne
Identität. Ein Europa, das allen gehört und zu dem alle gehören, die
dazugehören wollen, und sei es im Vorübergehen. Ein temporäres Europa,
dessen einziger und eigentlicher Sinn darin besteht, Brücken zu schlagen,
Beziehungen zu stiften, zu verknüpfen und zu verbinden.
Reden wir von einem demokratischen Europa. Ein Europa, in dem es keine
Mehrheit mehr gibt, und deswegen auch keine Minderheiten. Einem Europa, das
sich nicht aufteilt oder erweitert wird, sondern immer weiter
vervielfältigt. Ein Europa, in dem die materiellen wie immateriellen
Grundrechte allen Menschen zustehen, egal in welches Unrecht sie
zufälligerweise hineingeboren wurden. Ein Europa, das allen Menschen
Bewegungs- und Informationsfreiheit, das Anrecht auf ein gesichertes
Auskommen wie die Aussicht auf ein glückliches Leben garantiert.
Reden wir von einem produktiven Europa. Ein Europa, das nicht zwischen
nützlichen und unnützen Menschen unterscheidet. Ein Europa, in dem jeder
Mensch ein Experte ist. Ein Europa, in dem Wissen nicht als geistiges
Eigentum versperrt, sondern zur allgemeinen Nutzung freisteht. Ein kreatives
Europa, in dem die Menschen sich die Produktionsmittel aneignen, die sie
benötigen, um wenigstens die dringendsten Probleme dieser Welt anzugehen.
Ein Europa, das seine Vielfalt, seine Verschiedenartigkeit und seinen
Reichtum nicht auf Kosten der restlichen Welt erwirtschaftet, sondern zu
einer Globalisierung beisteuert, die diesen Namen verdient.
Sprechen wir von Strasbourg. Sprechen wir vom europäischen NoBorderCamp vom
19.- 28. Juli 2002 in Strasbourg. Verlieren wir einige Worte auf dem Weg,
das Europa zu unterminieren, welches sich Schengen nennt und geheimnisvoll S
I S buchstabiert. Unternehmen wir die Aktionen, welche die herkömmlichen
Grenzen Europas überschreiten und unterlaufen. Erwähnen wir die Leidenschaft
und den Aufstandswillen des Kumpel Blanqui. Gewinnen wir Freundinnen und
Freunde bei einem Festival der Lust. Produzieren wir im Labor des zivilen
und sozialen Ungehorsams die unvorstellbaren Wünsche der möglichen Welt.
Organisieren wir die Subversion Europas.
Sie kaufen dein Glück, stehlen wir es.
Temporäre Assoziation
jeder mensch ist ein experte
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