Darmstadt: Lesung und Diskussion mit Madjiguene Cisse
Madjiguène Cissé, im Senegal geboren, Studium u.a. in Deutschland, wurde
1996 zur Sprecherin der Sans Papiers gewählt, sie erhielt im Dezember
1998 die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für
Menschenrechte. Den beispielhaften Kampf der Sans Papiers beschreibt sie
als Teil ihrer eigenen Biographie in der ersten Person - und als
politische Chronologie auf einem neuem Terrain: der erste noch
unvollendete Versuch kämpferischer Selbstorganisation von
Illegalisierten für gleiche Rechte im neuen Europa.
Da sind wir aber immer noch
Die Bewegung der Sans-papiers in Frankreich hat sich erfolgreich zurückgemeldet. Der Innenminister kündigt bereits Zugeständnisse an. von bernhard schmid, paris
Das Ganze war ein Missverständnis. Anfang September gerieten einige afrikanische und chinesische Immigranten am Rande einer Demonstration auf dem Platz der Menschenrechte in Paris in handgreifliche Auseinandersetzungen. Der Anlass waren Flugblätter, die die ehemalige maoistische Organisation politique kurz zuvor verteilt hatte. Scheinbar glaubten einige Demonstranten, dass es sich um die ersehnten Formulare handle, die man ausfüllen muss, um Aufenthaltstitel von Behörden zu bekommen. Sie steckten die eroberten Blätter sorgfältig in ihre Tasche.
Inzwischen sind die Illusionen über eine rasche individuelle Regelung verflogen. Die meisten Betroffenen haben verstanden, was es bedeutet, sich in einem Kollektiv papierloser oder, nach herrschender Diktion, illegaler Einwanderer zu engagieren. In allen Versammlungen und Demonstrationszügen werden inzwischen kollektive Forderungen formuliert.
Vielleicht war auch deswegen eine Demonstration am 7. September in Paris mit rund 12 000 Teilnehmern ein großer Erfolg. Es nahmen Vertreter trotzkistischer Parteien, der Grünen sowie der Gewerkschaften teil. In den Départements des Großraums Paris kam es ebenfalls zu zahlreichen Demonstrationen.
»Die Rückkehr der Sans-papiers« titelte die Pariser Abendzeitung Le Monde bereits in ihrer Ausgabe vom 31. August. Tatsächlich hat die Bewegung in Frankreich in den letzten Wochen einen spürbaren Aufschwung genommen. Mitte August besetzten Sans-papiers die große Basilika von Saint-Denis. Das geschah mit dem Einverständnis des Priesters in dem Dom, unter dem mehrere Generationen französischer Könige begraben liegen. Daher kam es Ende August auch mehrmals zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit monarchistischen Gruppen. Die Kirche hingegen unterstützte die Besetzer aus humanitären Gründen.
Die Einwanderer wurden aufgefordert, sich in der Kirche in Listen einzutragen, um einen kollektiven Antrag auf Aufenthaltspapiere zu stellen. Viele der Besetzer wurden vor vier Jahren bei der letzten Legalisierung unter der Regierung Lionel Jospins nicht berücksichtigt. Hinzu kamen neue illegale Einwanderer, die wenig Erfahrung im Umgang mit den französischen Behörden haben.
Die Besetzer wurden vom Erfolg ihrer Bewegung überrascht. Nachdem über 1 000 Sans-papiers sich eingetragen hatten, beendeten sie die Besetzung der Basilika am 30. August im Einvernehmen mit der Kirche. Die Listen wurden in das Gewerkschaftshaus nach Paris gebracht. Inzwischen haben sich 16 000 eingetragen, die eine Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus fordern.
Der neokonservative Innenminister Nicolas Sarkozy hat bereits zugesichert, eine erneute Einzelfallprüfung vorzunehmen und dabei auch die individuelle Situation zu beachten. Sein Albtraum ist es, dass sich die Solidaritätsbewegung erneut so stark ausbreiten könnte wie vor sechs Jahren.
Eine breite Bewegung aus Selbstorganisationen der Sans-papiers und Unterstützern aus der Linken, aber auch unter Beteiligung von prominenten Künstlern und Intellektuellen, hatte Mitte der neunziger Jahre die konservative Regierung von Alain Juppé unter enormen Druck gesetzt. Sie durchkreuzte das Ansinnen der Mitte-Rechts-Regierung, durch eine Verschärfung der Ausländergesetze verlorene Sympathien zurückzugewinnen. Indem sie aus der Anonymität heraustraten und für ihre Anliegen kämpften, erschienen die Illegalen nicht mehr als Bedrohung, sondern ermöglichten es vielen, sich mit ihnen zu identifizieren.
An einer Widerholung hat der Innenminister kein Interesse, das wissen auch die Solidaritätsvereinigungen. Die Nationale Koordination der Sans-papiers und die Rechtsberatungsgruppe für Immigranten, Gisti, fordern eine allgemeine Legalisierung und verwerfen die Einzelfallprüfung. Der Gisti hat sogar eine europäische Initiative begonnen. In einem gemeinsamen Aufruf mit britischen und portugiesischen Antirassisten wird eine für die gesamte EU geltende Legalisierung aller so genannten illegalen Einwanderer gefordert.
Die der KP nahe stehende antirassistische MRAP und die linksliberale Liga für Menschenrechte sind derzeit hingegen mit den Einzelfallprüfungen noch einverstanden. Sie fordern, dass eine möglichst große Zahl von Aufenthaltstiteln erteilt wird. Auf allgemeine Kritik stieß aber die Äußerung des Vorsitzenden von SOS-Racisme, einer sozialdemokratischen Vereinigung. Malek Boutih erklärte in einem Zeitungsinterview, er sei gegen eine allgemeine Legalisierung, da sie noch mehr Migranten nach Frankreich locken werde. Innerhalb der sozialdemokratischen Oppositionspartei herrscht ansonsten betretenes Schweigen.
Der neue Aufschwung der Bewegung hat auch damit zu tun, dass sich viele Immigranten von der neuen Rechtsregierung stärker bedroht fühlen. Denn sie will die Asylverfahren künftig radikal straffen und Kollektivabschiebungen, notfalls mittels Charterflügen, wieder einführen. 103 Sans-papiers wurden in den vergangenen Wochen tatsächlich abgeschoben. Unter ihnen sind zwei Teilnehmer der Fußmärsche der Sans-papiers im März und im April. Damals hatten 60 illegale Immigranten, darunter viele Algerier, Frankreich von Marseille bis Paris zu Fuß durchquert. Der gleichzeitige Wahlerfolg des Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen hatte ihnen damals zu großer Aufmerksamkeit verholfen.
Das war ein wichtiger Impuls für die Aktivisten, denn in den vergangenen Jahren war die Bewegung der Sans-papiers kurz davor, sich aufzulösen. Schuld daran war vor allem die geschickte Politik des linksnationalistischen Innenministers Jean-Pierre Chévenement in den Jahren 1997 bis 2000. Statt einer Legalisierung aller Immigranten ohne gültigen Aufenthaltstitel, wie es sie im Jahr 1981 unter der Linksregierung gab, sollte es dieses Mal nur Einzelfallprüfungen geben. Insgesamt erhielten von 150 000 Antragstellern unter der Regierung Jospin gut die Hälfte die ersehnte Legalisierung, die anderen gingen leer aus.
Die Organisationen der Sans-papiers wurden dadurch gespalten. Dennoch gab es auch in den letzten Jahren immer wieder Kämpfe, vor allem auf regionaler Ebene blieb die Bewegung der Sans-papiers aktiv. Darüber hinaus aber war die Bewegung zersplittert (Jungle World, 49/01). Das hat sich nun geändert.
jungle world Nr. 39/2002 - 18. September 2002
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/39/14b.htm
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