Argentinien: Keine Marken, keine Männer, keine Unternehmer: No-Logo-Fabrik
Keine Marken, keine Männer, keine Unternehmer: Seit einem Jahr halten Näherinnen ihre Arbeitsstätte besetzt und produzieren nach ihren eigenen Regeln. von cecilia pavón und damián ríos, buenos aires
Die Avenida Jujuy geht mitten durchs Once-Viertel. An allen Ecken des lauten und umtriebigen Stadtteils haben Kleidergeschäfte, Kioske und Großhändler schon am frühen Morgen geöffnet. Straßenverkäufer decken sich hier mit Batterien, Feuerzeugen und Füllfederhaltern ein. Auch wer auf der Suche nach Schnäppchen ist, kommt hierher. Beim Kauf ab Werk erhält man auf viele Kleidungsstücke Rabatte bis 40 Prozent. An den Gebäuden hängt eine Werbetafel neben der anderen. Obwohl die Straßen jeden Abend gereinigt werden, ist am Mittag schon wieder alles voll mit Flyern und Abfall.
Völlig unscheinbar wirkt das Gebäude, in dem die Kleiderfabrik Brukman untergebracht ist. Seit dem Dezember des letzten Jahres haben die Näherinnen ihre Arbeitsstätte besetzt und betreiben die Fabrik selbst. Sie befindet sich in einem dreistöckigen Gebäude in der Avenida Jujuy. Im Vorbeigehen kann man die Auslagen der Schaufenster leicht übersehen: keine Marken, keine Dekoration, keine Reklame. Nur nüchterne Anzugsjacken und Hosen auf Kleiderpuppen aus einer vergangenen Epoche. Als handelte es sich bei Brukman um einen Schneidersalon aus dem 19. Jahrhundert.
Rosa, 31, ist eine der 56 Arbeiterinnen von Brukman. Sie steht heute hinter dem Empfangstresen, scheint sich dort aber nicht so richtig wohl zu fühlen. Es scheint, als habe sie sich immer noch nicht an diese Aufgabe gewöhnt. Zehn Jahre lang war sie in der Fabrik nur damit beschäftigt, Sakkoärmel zu nähen. In den vergangenen elf Monaten musste sie lernen, ganze Anzugsjacken zuzuschneiden und zu nähen, ab und zu als Empfangsdame zu arbeiten und alle anderen anfallenden Aufgaben bei Bedarf zu übernehmen. »Hier machen alle alles«, sagt sie.
Ein Besucher aus Europa kommt und stellt sich vor: »Johann, aus der Schweiz.« Johann ist ein Professor, der sich ein »sabbatical year« genommen und sich dafür entschieden hat, nach Argentinien zu fahren. Auch er möchte seine Solidarität mit den Frauen bei Brukman zum Ausdruck bringen und drückt Rosa 100 Dollar in die Hand. Etwas ratlos greift sie zum Telefon und ruft eine Kollegin an, um zu fragen, wie sie die Spende verbuchen soll.
Mit dem Telefon kann schon lange nicht mehr nach draußen telefoniert werden, es dient nur noch zur Verständigung zwischen den verschiedenen Stockwerken der Fabrik. Seit sechs Monaten ist der Anschluss abgestellt, weil die Rechnungen nicht mehr bezahlt werden konnten. An der Wand hängen auf einer Tafel fotokopierte Drucke aus der französischen Revolution, Zeichnungen im Stil des sozialistischen Realismus, Ankündigungen von Solidaritätsveranstaltungen und schwülstige Gedichte von Mario Benedetti mit selbst gemalten Herzen. Irgendwo dröhnt ein Fernseher. Irgendwelche Augenblickssternchen erzählen in einer Boulevardsendung am Nachmittag von ihren Liebesproblemen. Der Fernseher hat vor ein paar Monaten noch nicht da gestanden, merkt Rosa an.
Im dritten Stock des Gebäudes sitzen 15 Frauen und arbeiten. In einer großen Halle mit riesigen Fenstern sind moderne Nähmaschinen aus deutscher Herstellung verteilt. Überall gibt es Plastikblumen und argentinische Flaggen. Die Atmosphäre ist entspannt. Nichts erinnert an die Disziplin normaler Fabriken. Die Frauen legen die Arbeit beiseite, unterhalten sich miteinander und laufen herum, wenn es ihnen passt. »Jetzt arbeiten wir in Ruhe«, sagt Rosa. »Vorher haben wir uns an die Maschine gesetzt und nicht aufgehört, bis der Arbeitstag zu Ende war.« Wirklich gekannt haben sie sich damals untereinander kaum, da die Besitzer verboten hatten, von einem Stockwerk ins andere zu gehen. Auch das war ein Grund, warum sich die Frauen nicht gewerkschaftlich organisieren konnten.
Jetzt ist alles anders. Rosa kann sogar ihre Tochter mitbringen, wenn sie niemanden findet, der auf sie aufpasst. Und in der Fabrik findet ihre Tochter sogar Spielgefährten, weil auch andere Mütter ihre Kinder mitnehmen. Rosa ist seit 1992 bei Brukman. Sie ist eine der Arbeiterinnen, die am 18. Dezember 2001 die Fabrik besetzten. Obwohl die Arbeiterinnen statt von Besetzung lieber von »Wiederinbetriebnahme« sprechen. In den letzten Jahren wurden in Argentinien Tausende von Fabriken geschlossen. Auch Brukman stand kurz vor der Schließung.
Die resolutere Leonor, 39 Jahre alt, hat die Aufgabe, die zahlreichen aus aller Welt kommenden Gäste, Journalisten, Wissenschaftler und Studenten, zu empfangen. In einer Halle im Erdgeschoss, wo früher das Büro des Personalchefs war, erzählt sie von der Besetzung der Fabrik. Hinter ihr ein vergilbter Plan von Groß-Buenos-Aires, darauf kleben die Etiketten internationaler Marken, für die Brukman früher Kleidung herstellte: Christian Dior, Ralph Laurent, Yves Saint Laurent. In Zeiten des wirtschaftlichen Wohlstands hatte das Unternehmen Franchising-Verträge mit den Markenfirmen, die Arbeiterinnen wurden 14tägig ausbezahlt, und auf den Betriebsfesten wurden Fernsehgeräte verlost. Das ist lange her, und heute ist davon nichts geblieben. Die neuen Besitzerinnen übernehmen nur noch selten Aufträge von Markenherstellern, meistens verkaufen sie markenlose Produkte an Einzelkunden. Weil sie sich in der »Illegalität« bewegen, können sie nur »schwarz« arbeiten. Auch der Fabrikverkauf der Waren macht einen großen Anteil des Umsatzes aus.
Am 18. Dezember 2001 um zehn Uhr morgens - zwei Tage vor dem Sturz des damaligen Präsidenten Fernando De la Rúa - wollte sich eine Delegation von Arbeiterinnen mit den Eigentümern, Jacobo und Mario Brukman, treffen, um wie vereinbart einen Teil (150 Peso) des ausstehenden Lohnes zu kassieren. »Sie hielten uns monatelang zur Zusammenarbeit an«, erzählt Leonor, »das bedeutete, sie zahlten uns nur noch 20, 30 Peso und nicht einmal zu festen Terminen.« Dann verlangten die Besitzer von den Arbeiterinnen, dass sie eine Stunde mehr arbeiteten, um die Firma vor dem Bankrott zu retten.
In der Zeit kurz vor der Besetzung zahlten sie nur noch fünf Peso pro Woche, zuletzt nur noch zwei Peso, womit die Arbeiterinnen unterm Strich fast dafür bezahlten, dass sie arbeiten durften. Allein für die Busfahrt zur Fabrik zahlten die Frauen 1,40 Peso. Immer wieder wurden die Arbeiterinnen vertröstet. Auch zum abgemachten Termin am 18. Dezember erschienen die Eigentümer nicht. Spontan entschlossen sich einige Arbeiterinnen zu bleiben. »Viele von uns hatten nicht einmal das Geld für die Heimreise. In jener Nacht waren wir 21.«
Mit Ketten verschlossen sie die Tür. Am nächsten Tag organisierte eine der Genossinnen die erste Personalversammlung. Ein Ergebnis war es, dass die Werkführer und männlichen Vorarbeiter nicht bleiben durften, weil sie einen Monat zuvor, als die Arbeiterinnen für die Wiedereinstellung entlassener Kolleginnen streikten, sich nicht mit ihnen solidarisiert hatten.
Die Firma selbst befand sich kurz vor dem Konkurs. Seit zwei Jahren führte Brukman schon keine Sozialabgaben mehr ab, die meisten Arbeiterinnen wurden »schwarz« beschäftigt. In der Zeit vor der Besetzung bezahlten die Eigentümer auch keine Überstunden mehr. Ein Jahr vorher war die Fabrik wegen der Forderungen eines Gläubigers zeitweilig geschlossen worden. Auch hatte Brukman Wasser und Strom nicht mehr bezahlt. Nachdem sich die Arbeiterinnen nach einigen Wochen dazu durchgerungen hatten, die Fabrik selbstständig wieder in Betrieb zu nehmen, führten sie einige Aufträge zu Ende, lieferten sie aus und bezahlten damit die offene Stromrechnung. Außerdem blieb noch Geld übrig, um den ersten Lohn auszuzahlen, jede Arbeiterin erhielt 50 Peso.
Nun funktioniert die Fabrik quasi als Kooperative. Aber die Arbeiterinnen fordern weiterhin die Verstaatlichung unter ihrer Kontrolle. Dann würde der Staat die Löhne garantieren, die Leitung der Fabrik bliebe aber bei den Arbeiterinnen. Bislang haben sich die Arbeiterinnen geweigert, auch den rechtlichen Status einer Kooperative anzunehmen, obwohl ihnen die Regierung der Stadt das schon mehrmals angeboten hat. »Um eine Kooperative zu bilden, müsste man nach der heutigen Gesetzeslage zuerst die Enteignung beantragen. Aber die Regierung der Stadt erlässt nur zeitweilige Enteignungen. D.h. nach zwei Jahren müssten wir genug Geld beisammen haben, um die Fabrik den ehemaligen Besitzern abzukaufen.«
Auf mehrere hunderttausend Dollar beläuft sich der Wert von Brukman, denn die importierten Maschinen müssen in Dollar bezahlt werden. Aber auch eine Verstaatlichung erscheint in einem Land, das bisher eine radikale Privatisierungspolitik betrieb, utopisch. Sie ist eine Maximalforderung, die vielleicht dazu führt, dass man in Verhandlungen mit der Stadt irgendwann einen Kompromiss findet. Auch Leonor weist diese Möglichkeit nicht zurück: »Wenn die Stadt eine endgültige Enteignung verfügen würde, dann könnten wir uns doch überlegen, eine Kooperative zu bilden.«
Eine solche Kooperative hätte gute Aussichten, wirtschaftlich zu überleben, trotz der Krise in Argentinien. Eine Piquetero-Gruppe, die organisierten Arbeitslosen der MTR (»Bewegung Teresa Rodríguez«), schlägt die Errichtung eines alternativen Zentralmarktes vor. Dort sollen Produkte, die von den Piqueteros und den besetzten Fabriken hergestellt werden, gehandelt werden. Somit wären sie nicht mehr so stark von der kollabierten argentinischen Wirtschaft abhängig. Viele Piqueteros fabrizieren Baumaterialien und pflanzen in kleinen Gärten Obst und Gemüse an.
Die Bewegung der besetzten und in Kooperativen betriebenen Fabriken Argentiniens fordert vom Staat, dass er die Produkte der schätzungsweise 1 300 bis 1 500 von den ArbeiterInnen in Eigenregie betriebenen Unternehmen vorzugsweise abnimmt. Damit sollen u.a. öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Schulkantinen und Kindergärten versorgt werden. Delegierte der Piqueteros haben dieses Projekt sogar schon Vertretern der Weltbank vorgestellt; diese hörten sich die Vorschläge interessiert an, bis jetzt aber haben sie noch keine Unterstützung signalisiert.
Brukman hätte ohne die Solidarität der Nachbarn, der Volksversammlungen, Piqueteros aller Strömungen, linken Parteien und Studenten nicht bis zum heutigen Tag überleben können. Jene Unterstützer waren es, die in den ersten Monaten Sammlungen für eine Streikkasse durchführten, mit deren Hilfe die Arbeiterinnen von Brukman sich durchschlugen, bis sie die Maschinen wieder in Gang gesetzt hatten, die immer wieder vorbeikamen, um zu helfen und Ersatzteile oder Einrichtungsgegenstände spendeten. Einige Nachbarn haben jetzt sogar angeboten, eine Telefonleitung auf ihren Namen einrichten zu lassen und sie danach den Arbeiterinnen zur Verfügung zu stellen.
Die Unterstützer haben es bisher auch geschafft, zwei Räumungen zu trotzen, einer im März, einer anderen Mitte November. Beide Räumversuche verliefen gewalttätig. Hunderte von Polizeibeamten besetzen nachts die Fabrik. Wenige Stunden, nachdem die Nachricht der Räumung im November verbreitet worden war, versammelten sich ungefähr 500 Menschen vor der Fabrik. Das zuständige Gericht hob die Räumung wegen des entschlossenen Widerstands der Protestierenden wieder auf, die Polizei zog sich zurück. Nicht ohne jedoch vorher einige Nähmaschinen zu zerstören, einen Computer mit wichtigen Daten und einen Teil der bereits produzierten Ware zu beschlagnahmen.
Leonor spricht von der großen Bedeutung der Kommunikation. Täglich empfangen sie Dutzende Besucher, die sich für die Geschichte von Brukman interessieren. Selbst die Ikone der Globalisierungsgegner, Naomi Klein, war schon da. »Das hat zum Teil mit unserer Art des Kampfes zu tun, die wir nach außen tragen wollen. Wir erzählen, was uns passiert, um die Erfahrung weiterzugeben.« Leonor hat erst vor kurzem ihren ersten Artikel veröffentlicht, in einer Zeitung, die von den Arbeiterinnen gemeinsam herausgegeben wird. Das war eine der vielen neuen Erfahrungen, von denen sie jetzt spricht. »Früher ging ich arbeiten«, erzählt sie, »nach halb fünf war ich nur noch Mutter, andere Dinge interessierten mich nicht. Worum ich mich immer gekümmert habe, war mein Sohn. Was ich jetzt mache, hat auch mit ihm zu tun, mit seiner Zukunft. Vorher war ich nie mit dem politischen Aktivismus in Kontakt gekommen.« Und sie fügt hinzu: »Wenn ich mit dem Zug zur Arbeit fuhr und Piqueteros die Gleise sperrten, regte ich mich auf und dachte nur an die verlorenen anderthalb Stunden. Wenn heute jemand zu mir sagt, lass uns die Gleise blockieren, bin ich sofort dabei.«
Jetzt bleibt sie in der Fabrik auch noch lange, nachdem der Arbeitstag zu Ende ist. Die internen Versammlungen, die sich mit den alltäglichen Problemen der Fabrik beschäftigen, finden zweimal wöchentlich statt. Sie ziehen sich oft in die Länge, dazu kommen eine Versammlung der Solidaritätskommission pro Woche und regelmäßige Treffen mit anderen Organisationen, Anwälten, die ihnen im Rechtstreit mit den Eigentümern beistehen. Es gibt neben der Vollversammlung eine interne Kommission, der sechs Arbeiterinnen angehören.
Wenn eine Arbeiterin ein Problem hat oder etwas vorschlagen möchte, dann wendet sie sich an diese interne Kommission und beantragt die Einberufung einer Versammlung. Darüber hinaus gibt es einen Finanzausschuss, der das Geld verwaltet, die Rechnungen bezahlt und ausrechnet, was jeder zusteht. Der Lohn schwankt und ist abhängig vom Gewinn. Nur eines ist sicher: Alle bekommen das Gleiche.
Arbeiterin in einer besetzten Fabrik zu sein, verschafft Leonor einen vollen Terminplan. Was nicht immer mit ihrem Privatleben zu vereinbaren ist, merkt sie an. »Vor der Besetzung fühlte ich mich besser, denn zumindest gehörten die Wochenenden mir. Jetzt spüre ich manchmal, dass mir das Ganze ziemlich viel Zeit raubt. Trotzdem bereue ich nichts.« Auch mit ihrem Ehemann hat sie seither Probleme: »Meinem Mann gefällt es nicht, dass ich hier bin. Er will nicht, dass ich hier übernachte, dass ich auf Demonstrationen gehe. Er ist ein Macho und denkt, Politik sei Männersache.«
Ihr 15jähriger Sohn aber ist stolz auf sie. Als sie mit ihm über seine Zukunft sprach, erzählte er, er wolle Flugzeugmechaniker werden. »Wenn der Staat mir irgendwann kein Geld mehr bezahlt, dann besetze ich einfach das Flugzeug.«
Auch wenn die Repression in den letzten Monaten stärker geworden ist, hat Leonor keine Angst. Nur ihre Familie war anfangs sehr besorgt: »Es gefiel ihnen nicht, dass ich im Fernsehen gezeigt wurde. Sie fürchteten, dass es so gewalttätig werden könnte wie in den siebziger Jahren.« Doch jetzt sei die Situation anders. Sie könne um Mitternacht die Fabrik verlassen und sicher sein, dass ihr niemand folge. Auch wenn sie manchmal nachts Telefonanrufe bekomme, bei denen jemand in den Hörer stöhne. Das erschrecke sie nicht.
Übersetzung aus dem Spanischen: Timo Berger
Arbeitskampf: »Unser Kampf ist Teil des Kampfes aller ArbeiterInnen und der Massen gegen Arbeitslosigkeit, hohe Lebenshaltungskosten, den Raub unserer schmalen Ersparnisse durch die Banken und die Regierung.« (Erklärung der Arbeiter/innen aus den besetzten Fabriken Brukman und Zanon und der Gewerkschaft der Keramikarbeiter vom 13. April 2002)
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