Stellungnahme zum Artikel "Endloses Sterben" in der Jungle-World
IKM
Izolasyon Iskencesine Karsi Mücadele Komitesi
Komitee gegen Isolationshaft
Committee for Struggle against Torture through Isolation
Wir veröffentlichen einen Leserbrief an die Jungle World, zum Artikel „Endloses Sterben“. Am Ende der Orginalartikel. Wir möchten alle dazu aufrufen Protestbriefe an die Jungle World zu schreiben. Bitte schickt uns eine Kopie davon:
Stellungnahme zum Artikel von Deniz Yücel, Überschrift "Endloses Sterben":
Ich heiße Nermin. Ich kenne Gefangene in F Typ-Gefängnissen, kenne auch die DHKP-C. Um es noch genauer zu sagen: Mein Mann ist in solch einem
F-Typ Gefängnis, weswegen die Gefangenen, wie Sie es nennen "endlos sterben".
So viel zu meiner Person. Nun möchte ich meine Stellungnahme zu Ihrem Artikel schreiben.
Zunächst einmal möchte ich mit ein paar Patzern anfangen. Erstens ist das nicht die DHKP/C sondern die DHKP-C.
Und dann heisst es an einer Stelle: " 103 Menschen sind als Märtyrer gefallen sagt Volkan Agirman zu Jungle World....."
Es ist völlig unmöglich, dass Volkan Agirman so etwas gesagt hat. Und ein Tayad-Mitglied war er auch nicht. Er war ein Gefangener im Kandira
F-Typ-Gefängnis. Und weil er die Umstände dort nicht ertragen hat, beging er Selbstmord. Am 15. Juli 2002!!!! Da gab es noch keine 103 Gefallenen.
Also wirklich, wie recherchiert Ihr eigentlich? Was ist das für eine schlampige journalistische Arbeit? Wie soll man denn da noch Euren Artikeln Vertrauen schenken?
Gleich der allererste Satz lautet: " die Geschichte ist gleichermaßen abscheulich, beispiellos und absurd..."
a-Der Leser oder die Leserin dieses Artikels wird also schon im allerersten Satz beeinflußt, und zwar im negativen Sinne, gegen das Todesfasten.
b-Wer sagt eigentlich, dass dies DIE Wahrheit ist. Das ist nur die Meinung Eures Mitarbeiters. Wer sagt, dass er die Weisheit mit Löffeln gefressen hat?
c- Euer Autor besitzt keinerlei Objektivität, ihm fehlt der nötige Abstand, über den ein/e Journalist/in eigentlich verfügen sollte.
Weitere Passage aus dem Artikel: "Zwei Monate später schien zumindest eine vorläufige Lösung möglich, als der damalige Justizminister Hikmet
Sami Türk erklärte die Verlegung von Gefangenen in die neuen Gefängnisse würde vorerst aufgeschoben. Die beteiligten Organisationen, allen voran die DHKP/C, die weitaus größte Organisation der bewaffneten türkischen
Linken, lehnten dieses Angebot ab". Am 19. Dezember 2000 stürmten Einheiten......"
a-Diese Sätze suggerieren dem Leser/der Leserin: Der gute, gerechte,demokratische, gutmütige Staat wollte das Problem ja eigentlich lösen.
Aber diese sturen, dickköpfigen, brutalen, irrationalen Gefangenen haben es auf die Spitze getrieben. Tja, dann blieb dem armen(!) Staat nichts anderes übrig, als die Gefängnisse zu stürmen. Selber Schuld, hätten sie halt brav sein sollen!
Das wird eigentlich in diesen Sätzen, wenn man es mal interpretiert, ausgedrückt.
Leute wisst Ihr eigentlich was das so verniedlicht? Ein Massaker eines Staates, der 28 wehrlose, unbewaffnete Gefangene massakriert hat.
b-Ihr verdreht die Wahrheit. Das war ein Ablenkungsmanöver vom Staat.
Bis kurz vor der Stürmung führte man Verhandlungen mit unterschiedlichsten Volksschichten durch. Dann führte man das Massaker
aus. Danach gaben sämtliche VertreterInnen des Staates eine Stellungnahme ab. Der damalige Innenminister gestand:" Wir bereiten uns
nun seit einem Jahr auf diese Operation vor."
Wenn sich der Staat schon seit dem 19. Dezember 1999 auf ein Massaker vorbereitet hat, und damals hat man von einem Todesfasten noch nicht einmal gesprochen, geschweige denn begonnen, dann konnte zwei Monate später eine vorläufige Lösung nicht möglich scheinen. Weder eine vorläufige, noch eine beständige Lösung war zu keinem Zeitpunkt je in Aussicht! Soll ich Ausschnitte von der damaligen Presse schicken? Hat das Deniz Yücel nicht mitgekriegt? Ich kann nur wiederholen: Wie recherchiert Ihr eigentlich? Wo bleibt Eure Objektivität? Solche Stellungnahmen, solche Geständnisse vom Staat kann man doch nicht einfach ignorieren!
Weitere Passage: "...einzige sinnvolle Konsequenz aus der Niederlage"
a-Was heisst hier Niederlage? Das Todesfasten geht noch weiter. Wie kann da von einer Niederlage gesprochen werden? Wer kämpft, kann verlieren, wer aufgibt, hat schon verloren.
b-Gibt es denn überhaupt keine Errungenschaften, keine deutlichen, fassbaren Ergebnisse? Viele der Ex-Gefangenen, die zwangsernährt und entlassen wurden, waren teilweise zu lebenslänglich verurteilt. Sie hätten unter normalen Umständen nie die Möglichkeit gehabt entlassen zu
werden. Jetzt sind sie frei und versuchen zu genesen. Natürlich gibt es bleibende Schäden. Aber sie versuchen zumindest wieder am sozialen und revolutionären Leben teilzunehmen. Natürlich war das nicht die Intention des Todesfastens. Mehr ein gar nicht mit einkalkulierter Nebeneffekt.
c-Wer ist dieser Deniz Yücel eigentlich? Woher nimmt er sich das Recht zu wissen "was die einzig sinnvolle Konsequenz" zu sein hat? Welch eine
Überheblichkeit, welch eine Arroganz! Ich wiederhole es noch einmal. Deniz Yücel hat mit Sicherheit die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen. Und wenn man so von sich eingenommen ist, wundert es mich nicht, dass man das Todesfasten nicht begreifen kann.
d- Euer Autor besitzt keinerlei Objektivität, ihm fehlt der nötige Abstand, über den ein/e
Journalist/in eigentlich verfügen sollte.
Weiter berichtet Ihr, die Öffentlichkeit hätte das Interesse verloren. Selbst Eurer Artikel beweist, dass dies nicht der Fall ist. Aber auch sonst in der Weltpresse werden Artikel darüber verfasst. Bitte etwas mehr Recherchearbeit!!!
Weitere Passage:" Die DHKP/C(es heißt DHKP-C), aber auch viele andere gauchistische Gruppen, hatten schon in den Jahren zuvor ihre
Märtyrer-Politik betrieben. Auch bei diesem Hungerstreik dürfte eine gewisse Anzahl an Toten nicht nur einkalkuliert, sondern da die
Organisationen ihre Legitimität und ihr Selbstbewusstsein aus ihren Gefallenen ziehen auch erwünscht gewesen sein".
a-Die DHKP-C ist also gauchistisch. Die Katze hat Deniz Yücel ja schon im allerersten Satz aus dem Sack gelassen, aber jetzt wird er so richtig
deutlich. Das hält er also von diesen Menschen, die gegen die Isolationshaft kämpfen.
b-Kann Deniz Yücel bitte einmal erklären, warum die DHKP-C gauchistisch sein soll?
Weil sie außerparlamentarisch ist? Schaut doch mal bitte auf die Massen, wieviele Menschen, und da ist schon von einigen tausenden die Rede, die
DHKP-C mobilisieren kann? Weiß Ihr Autor eigentlich was man unter gauchistisch versteht?
c-Die DHKC und die anderen revolutionären Organisationen wollten also, dass die Menschen sterben. Das ist doch nun wirklich schon zu viel. Wie kann jemand eigentlich so weit gehen, wie kann jemand sich so viel herausnehmen? Da hätte Deniz Yücel doch genauso gut schreiben können:
"das sind alles Mörder". Das geht ja wohl entschieden zu weit. Er kann nicht irgendwelche Leute als Mörder abstempeln.
d-Die "gauchistischen" Organisationen brauchen für ihre Legitimität Opfer und die Gefangenen sterben brav einer nach dem anderen. Für was
haltet ihr die Gefangenen eigentlich? Damit macht Ihr nicht nur den Widerstand nieder, sondern beleidigt auch die Gefangenen. Glaubt Ihr das
sind alles IdiotInnen, die keinen Sinn im Leben haben, die einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, über keine Persönlichkeit verfügen, nicht nachdenken können? Was für eine Arroganz! Was für eine Unverschämtheit! Ist Deniz Yücel der Einzige, der weiß was richtig und was gut ist? Wer gibt Euch das Recht, so herablassend über diese Menschen zu schreiben?
Ich bin zufällig mit so einem Gefangenen verheiratet. Er ist auch einer der Freiwilligen, die sich am Todesfasten beteiligen möchten. Und ich kann aus erster Hand sagen, so ist das nicht. Ganz im Gegenteil. Das sind alle ganz besondere Menschen, alles Persönlichkeiten, mit viel
Verstand, viel Herz, viel Mut, viel Geduld, viel Ausdauer, viel Menschenliebe und einem festen Willen.
e-Der 101. Gefallene, Feridun Yücel Batu war zum Zeitpunkt seines Todes kein Mitglied irgendeiner Organisation. Er hatte sich von der DHKP-C getrennt. Die Entscheidung, das Todesfasten durchzuführen hat er also ganz alleine getroffen.
Dieser Punkt sollte doch bitte unterstrichen werden. Die F Typen sind einfach Orte, in denen ein Mensch nicht leben kann. Man kann nicht anders als Widerstand leisten.
Euer Autor verfügt über keinerlei Objektivität, ihm fehlt der nötige Abstand, den ein/e Journalist/in eigentlich besitzen sollte.
Weitere Passage:" Mit ihrer materialistischen und religiösen Rhetorik und Symbolik ist die DHKP/C(richtig:DHKP-C) inzwischen konsequenterweiser dazu gelangt, im radikalen Islamismus einen
Verbündeten zu sehen".
a-Können Sie einen einzigen Beleg, einen einzigen Beweis dafür aufbringen, dass die DHKP-C sich mit dem radikalen Islam verbündet hat? Das ist doch nun wirklich eine abenteuerliche Behauptung.
b-Ich meine es ist eigentlich auch nicht so wichtig. Islamistische Bewegungen haben ja durchaus einen anti-faschistischen und
anti-imperialistischen Charakter. Von daher könnte man diese Unterstellung sogar mit Wohlwollen betrachten. Wenn... wenn da nicht der
11. September, Usame Bin Laden usw. wäre. Mit so einem Satz suggeriert man den LeserInnen ein: Ob El Kaide oder DHKP-C, ob gauchistisch oder
reaktionär, die sind doch alle gleich. Und das ist eine Unverschämtheit!
c-Wenn ihr Autor damit die Tatsache meint, dass die DHKC auf der Seite des palästinensischen Volkes ist, dann kann ich nur dazu sagen, das hat
mit dem radikalen Islam absolut nichts zu tun. Palästina ist ein besetzes Land, es werden jeden Tag unschuldige Menschen, Frauen und Kinder ermordet. Da ist ein Volk, was in seinem eigenen Land gefangen ist. Es ist doch wohl selbstverständlich, auf der Seite dieses Volkes zu
sein (es sei denn man ist anti-deutsch).
Oder falls Sie die Tatsache meinen, dass man gegen Krieg im Irak ist. Das hat auch nichts damit zu tun, im radikalen Islam einen Verbündeten zu suchen. Jeder einigermaßen denkende Mensch ist doch wohl gegen den Krieg im Irak. Jede/r kann doch wohl die Profitgier des US-Imperialismus sehen. Sie treffen jetzt schon Kriegsvorbereitungen, dabei haben die
Waffeninspektoren ihre Arbeit noch gar nicht beendet oder gar irgendwelche nuklearen Waffen entdeckt. Das hat weder was mit radikalem
Islamismus oder Unterstützung von Saddam Husseyin zu tun.
Oder falls Deniz Yücel damit meint, dass man die Mädchen, die mit Kopfbedeckung in die Schule gehen möchten in dieser Forderung unterstützt, hat das auch nichts mit radikalem Islamismus zu tun. Sondern damit, dass man an den Grundsätzen der Demokratie festhält. In einer wahren Demokratie gibt es nun mal eine Religionsfreiheit. In Deutschland kann man sich doch auch anziehen oder nicht anziehen was man
möchte. Also noch mal. Welche konkreten Beweise haben Sie für diese waghalsigen Behauptungen?
d- Euer Autor verfügt über keinerlei Objektivität, ihm fehlt der nötige Abstand, den ein/e Journalist/in eigentlich besitzen sollte.
Weitere Passage: "103 Menschen sind als Märtyrer gefallen sagt Volkan Agirman von Tayad der Jungle World da kann man nicht einfach aufhören. Ein Argument mit dem man noch einige hundert Menschen opfern könnte, ohne dass dies zu einer Verbesserung der Haftbedingungen in den F Typ-
Gefängnissen führen müsste."
a-Wie in der Einleitung schon erwähnt. Das war mit Sicherheit nicht Volkan Agirman. Sie haben wahrscheinlich mit Niyazi Agirman, dem Vater
des verstorbenen Volkan Agirman gesprochen.
b-Ist das etwa falsch? Sind 103 Menschen etwa
umsonst gestorben?
c-Niyazi Agriman weiß wovon er spricht. Und ich glaube er kann die Situation weitaus besser beurteilen, als jemand der in Deutschland lebt,
aber meint für andere Menschen bestimmen zu müssen, was für sie richtig ist. Niyazi Agirman hat seinen Sohn verloren. Sein Sohn Volkan hat
Selbstmord begangen, weil er es in diesen Isolationsknästen nicht mehr ertragen hat. Solche Orte sind die F-Typen.
Sie, als deutscher Linker müssten doch wohl wissen, was Iso-Knäste sind und wofür sie gebaut wurden und welche Auswirkungen sie haben? Man
bezeichnet die Isolationszellen auch als den weißen Tod. Wer dort über Jahre bleibt, kann sowieso nicht überleben. Und wer überlebt verliert
den Verstand oder kommt als gebrochener Mensch in die Gesellschaft. Was für eine Alternative haben die Gefangenen denn überhaupt?
d-Die RAF-Gefangenen haben auch mal so einen Hungerstreik durchgeführt. Dann haben "sie eingesehen" dass es sinnlos ist und deswegen aufgehört. Und danach? Was passierte danach? Wir sehen heute was aus der RAF geworden ist. Irgendwann haben sie sich selbst aufgelöst. Das passiert mit Menschen, die sich der Tyrannei beugen. Was würde es den Gefangenen in der Türkei also bringen, die Isolationszellen zu akzeptieren? Welche Vorteile hätte das?
e-Und was würde es Deniz Yücel bringen? Was hätte er eigentlich davon wenn die Gefangenen aufgeben?
f- Euer Autor verfügt über keinerlei Objektivität, ihm fehlt der nötige Abstand, den ein/e Journalist/in eigentlich besitzen sollte.
Das Traurige an diesem Artikel ist, dass die Isolation und Isolationshaft völlig untergeht. Der tut so, als würden die Gefangenen und die Angehörigen sich aus Lust und Laune umbringen. Wieso kommt eigentlich der Kernpunkt, der hauptsächliche Grund für das Todesfasten so kurz?
Es geht hier hauptsächlich um die Abschaffung der Isolationszellen. Und was Isolation ist, was das bedeutet, müsste die deutsche Linke ja wohl am besten wissen.
Die Linken in Deutschland dürfen niemals vergessen, dass auch sie eine gewisse Mitverantwortung am Sterben der Gefangenen in den
F-Typ-Gefängnissen haben. Die F-Typen sind ein Importgut aus der EU, aber allen voran aus
Deutschland. Die Justizminister waren dutzende Male in Stammheim und haben diese Gefängnismodelle genauestens untersucht. Die
F-Typ-Gefängnisse sind nahezu eine eins zu eins Kopie vom Stammheimer Hochsicherheitsgefängnis.
Unsere Gefangenen müssen also in Orten sterben, die aus Eurem Land exportiert wurden. Und anstatt die Gefangenen in ihren berechtigten Forderungen zu unterstützen, stellt ihr solche Barrikaden auf.
Was sich heute in der Türkei abspielt, hat sich vor einem Viertel Jahrzehnt in Deutschland abgespielt. Ihr müsstet doch wohl am besten
wissen, wie unmenschlich Isolationshaft ist?
Dass diese hauptsächlich gebaut wurden, um Menschen verrückt zu machen und welche Schäden sie bei Menschen hervorrufen..
Vonwegen es gibt keine Unterstützung für die Gefangenen:
-Am 19.-21. Dezember gab es ein Symposium gegen die Isolationshaft. Es nahmen 55 verschiedene Organisationen teil.
-Ich schicke Euch Briefe von Gefangenen, die sich im Soli-Hungerstreik befinden. Fast in ganz Europa gibt es Solidaritätsaktionen aus den
Gefängnissen. Wenn man mal von Rainer Dittrich absieht, der wirklich vorbildlich vormacht, was wahre Solidarität ist, gibt es einzig und
alleine keine Unterstützung von den deutschen Gefangenen. Dabei müssten doch die am besten wissen, wie berechtigt der Kampf gegen Isolationshaft ist?
-Zur Zeit führen sämtliche linke Organisationen in der Türkei einen unbefristeten Solidaritätshungerstreik durch. Das wird seltsamerweise überhaupt nicht erwähnt in Eurem Artikel.
Auch Jungle World sollte die Gefangenen in ihrem Kampf gegen die Isolationshaft unterstützen. Denn Isolation ist Folter. Und Folter ist ein Verbrechen an der Menschheit.
IKM
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"Endloses Sterben" Jungle World 27.12.2002
Unbemerkt von der Öffentlichkeit dauert der Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen an und geht ins dritte Jahr. von deniz yücel
Die Geschichte ist gleichermaßen abscheulich, beispiellos und absurd: "Die 100. Märtyrerin des Todesfastens" meldete die Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP/C) am 30. November. An diesem Tag war die 24jährige Zeliha Ertürk in einem Krankenhaus in Istanbul an den Folgen ihres seit Anfang Juni geführten Hungerstreiks gestorben.
Am selben Tag wurde eine mit "Gefangenenkomitee der DHKP/C" unterzeichnete Erklärung verbreitet. "Die neunte Todesfastengruppe",
hieß es darin, "hat sich dem Widerstand angeschlossen. Schon vor Monaten haben wir gesagt, dass die Zahl unserer Märtyrer noch weiter steigen kann. (...) Wir leisten weiter Widerstand. Wir wissen sehr genau, dass wir siegen werden." Seit mehr als zwei Jahren geht das nun so, und ein Ende ist nicht in Sicht, ein "Sieg" noch weniger.
Im Oktober des Jahres 2000 begannen Mitglieder der DHKP/C sowie zweier weiterer illegaler linker Organisationen einen Hungerstreik, um die
geplante Einführung der "F-Typ" genannten Isolationsknäste zu verhindern. Zwei Monate später schien zumindest eine vorläufige Lösung
möglich, als der damalige Justizminister Hikmet Sami Türk erklärte, die Verlegung von Gefangenen in die neuen Gefängnisse würde vorerst
aufgeschoben. Die beteiligten Organisationen, allen voran die DHKP/C, die weitaus größte Organisation der bewaffneten türkischen Linken,
lehnten dieses Angebot ab.
Am 19. Dezember 2000 stürmten Einheiten des Militärs und der Polizei die Gemeinschaftszellen (Jungle World, 2/01). 29 Gefangene starben bei der
"Operation Rückkehr ins Leben". Selbstmord oder von Mitgefangenen erschossen, lautete die offizielle Version. Der Menschenrechtsverein
(IHD) bestätigte hingegen nur zwei Selbstverbrennungen. Die anderen 27 Menschen starben nach Angaben des IHD dadurch, dass sich die riesigen Mengen des Tränen- und Reizgases entzündeten, die die Sicherheitskräfte
zusammen mit Schock- und Blendgranaten in die Zellen gefeuert hatten. Manche seien auch von den Sicherheitskräften erschossen oder erschlagen
worden.
Nach diesem Angriff wurden die Gemeinschaftszellen geräumt und die
Inhaftierten in die F-Typ-Gefängnisse überführt. Die Aktion war also gescheitert. Doch der Hungerstreik wurde nicht abgebrochen, stattdessen
schlossen sich ihm andere Organisationen an. Gleichzeitig begannen Sympathisanten und Familienangehörige mit Solidaritätshungerstreiks.
In der folgenden Zeit stieg die Zahl der Toten weiter an, während die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, der türkischen wie der ausländischen, völlig erlahmte.
Im Mai dieses Jahres brachen acht Organisationen die Aktion ab. "Wir haben mit unserem Widerstand die Pläne des Faschismus durchkreuzt", hieß
es in ihrer gemeinsamen Erklärung. "Ideologisch und moralisch haben wir gesiegt. (...) In der jetzigen Situation hat unser Todesfasten in
unserem Kampf gegen die Isolationshaft der F-Typ-Zellen seine revolutionäre Rolle erfüllt."
Zwar konnte tatsächlich von einem Sieg keine Rede sein, da das erklärte Ziel, die Einführung der Isolationsknäste zu verhindern, gescheitert
war. Dennoch war diese Erklärung, lässt man ihren pathetischen Ton beiseite, die zu diesem Zeitpunkt längst überfällige, einzige sinnvolle
Konsequenz aus der Niederlage. Auch die Angehörigen beendeten ihre Solidaritätshungerstreiks, die DHKP/C sowie eine weitere kleinere Gruppe aber machten weiter.
Inzwischen ist die Zahl der Toten auf 103 gestiegen. Nach einer Auskunft der Angehörigenorganisation Tayad befinden sich derzeit 20 Personen im Hungerstreik. Rund 500 Gefangene seien in der Folge des Hungerstreiks
oder der Zwangsernährung schwer erkrankt, viele leiden unter dem Wernicke-Korsakow-Syndrom, das unter anderem einen völligen oder partiellen Gedächtnisverlust bewirkt.
Zum Schweigen der türkischen Öffentlichkeit hat sicher beigetragen, dass im Dezember des Jahres 2000 ein Sende- und Veröffentlichungsverbot über
die F-Typ-Gefängnisse und die Hungerstreiks verhängt wurde. Dieses Verbot wurde im letzten Sommer aufgehoben. Das repressive Totschweigen
war überflüssig geworden. "Es gibt keine Aufmerksamkeit oder Unterstützung der Öffentlichkeit", sagte der Redakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Oral Üalislar, der Jungle World. Er gehört einer Gruppe von
Intellektuellen, Künstlern und Menschenrechtsaktivisten an, die bereits
vor der Erstürmung der Knäste versuchte, in diesem Konflikt zu vermitteln. Seither aber scheiterten alle Kompromissvorschläge an der
Unnachgiebigkeit der Regierung.
Die DHKP/C, aber auch viele andere gauchistische Gruppen, hatten schon in den Jahren zuvor ihre "Märtyrer"-Politik betrieben. Auch bei diesem
Hungerstreik dürfte eine gewisse Anzahl an Toten nicht nur einkalkuliert, sondern, da die Organisationen ihre Legitimität und ihr
Selbstbewusstsein aus ihren "Gefallenen" ziehen, auch erwünscht gewesen sein.
Die Lösung, die im Dezember 2000 möglich erschien, wäre vielleicht keine
dauerhafte gewesen, aber sie hätte einen Etappensieg bedeutet. Dass sie abgelehnt wurde, dürfte in erster Linie auch daran gelegen haben, dass damals noch niemand gestorben war. Mit ihrer martialischen und religiösen Rhetorik und Symbolik ist die DHKP/C inzwischen
konsequenterweise dazu gelangt, im radikalen Islamismus einen Verbündeten zu sehen. Dass diese Aktion aber in einem solchen Desaster enden würde, hatte wohl auch sie nicht vermutet.
„103 Menschen sind als Märtyrer gefallen“, sagt Volkan Agirman von Tayad der Jungle World, "da kann man nicht einfach aufhören." Ein Argument,
mit dem man noch einige hundert Menschen opfern könnte, ohne dass dies zu einer Verbesserung der Haftbedingungen in den F-Typ-Gefängnissen
führen müsste. Von einer Abschaffung dieser Haftanstalten redet inzwischen niemand mehr.
Allerdings sind auch die anderen Segmente der Linken, von der Sozialdemokratie über die legalen kommunistischen Parteien bis zu den Kurden, in einer ebenso unerfreulichen Situation. Nach den Wahlen im November mussten sie eine historische Niederlage verbuchen. Mit zehn Jahren Verspätung erlebt die türkischen Linke ihren Untergang.
Von dem Epochenbruch der Jahre 1989/90 war sie weitgehend verschont geblieben. Ihr Kollaps war bereits mit dem Militärputsch von 1980
eingetreten, während in den neunziger Jahren der Krieg in Kurdistan für eine neue Politisierung und Polarisierung der Gesellschaft sorgte.
Angesichts der schweren Wirtschaftskrise und der drohenden islamistischen Krisenverwaltung wird heute eine aufgeklärte Linke vielleicht mehr denn je gebraucht. Die türkische Linke aber ist tot, und einige derer, die noch übrig sind, bringen sich vorsätzlich selbst um.
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