Berlin: Der 11. Tag im Weinrich-Prozess
Eine Bombe im Zug
Am 11. Verhandlungstag im Berliner Weinrich-Prozeß wurden zwei französische Polizeibeamte zum Bombenanschlag auf den Hochgeschwindigkeitszug Marseille-Paris vom 31. 12. 1983 in der Nähe der Ortschaft Tain l'hernitage vernommen.
Die Verteidigung beantragte die Verschiebung der Vernehmung, da nur etwa 10% der französischen Ermittlungsakten übersetzt seien und so keine faire Verteidigung möglich sei, zumal die nicht übersetzten Teile wichtige Details zu enthalten scheinen.
Auch der vorsitzenden Richter machte auf die merkwürdige Aktenlage aufmerksam, indem er feststellte, daß diverse Teile doppelt und dreifach vorhanden seien, während insgesamt eine gewisse Unordnung in den staatsanwaltlichen Akten herrsche.
Nach kurzer Pause wurde der Beschluß verkündet, die Zeugen bis zur vollständigen Übersetzung der Akten lediglich zu ihren Eindrücken vor Ort unmittelbar nach der Explosion zu befragen und sie eventuell zu einem späteren Zeitpunkt zur Entwicklung der Ermittlungen noch einmal zu laden.
Der Hauptermittlungsbeamte zum Tatkomplex Tain l'hernitage von der Kriminalpolizei Lyon sprach von einem 10kg-Semtex-Sprengsatz im Gepäckabteil von Waggon Nr. 3 des Zuges. Dieser hätte eine erhebliche Wucht gehabt, Türen aus ihren Verankerungen gerissen und Teile des Daches weggesprengt. Insgesamt gab es nach seinen Schilderungen drei Tote und elf Verletzte. Der Kripo-Beamte hatte vor seiner Reise nach Berlin noch einmal die französischen Akten gesichtet und danach eine Erklärung abgegeben. Ansonsten konnte er sich nach 20 Jahren an nichts mehr erinnern, was er nicht nachgelesen hatte. Nach seinen Akten waren die beiden wichtigsten Zeugen zwei Angestellte der französischen Eisenbahn, die einen Mann dunklerer Hautfarbe gesehen hätten, der seinerzeit auf dem Bahnhof Marseille den Waggon Nr. 3 mit einer weiße Plastiktüte betreten und kurze Zeit darauf den Waggon ohne die Tüte wieder verlassen hätte. Da am Tatort Reste einer weißen Plastiktüte gefunden wurden, war dies nach seinen Aussagen die heißeste Spur.
Auf die Frage des Vorsitzenden, welches Resümee sein Abschlußbericht hatte und ob in Frankreich jemals ein Verfahren in dieser Angelegenheit eröffnet wurde, beantwortete der Zeuge mit der Feststellung, daß die französischen Ermittlungen "keine sicheren Beweise" ergeben hätten und deshalb nach seinem Wissen auch nie Anklage erhoben wurde.
Die Verteidigung war über die Nennung der beiden Augenzeugen etwas verwundert, denn diese tauchen in der Anklageschrift der Berliner Staatsanwaltschaft gar nicht auf. Dazu konnte der Oberstaatsanwalt keine Stellung nehmen, denn er war am dritten Tag in Folge nicht erschienen.
Auf die Nachfrage an den Kripo-Beamten, ob er etwas über einen Bombenanschlag Mitte 1983 auf den Pariser Flughafen Orly, ausgeführt mit Semtex-Sprengstoff in der Verantwortung der armenischen Befreiungsfront (ASALA) wisse, mußte der Zeuge passen.
Der zweite Zeuge war Chef der Gendarmerie in Tain l'hernitage und konnte sowieso nur von den Eindrücken vor Ort berichten. Er sagte aus, den Hauptermittlungsbeamten dort nie gesehen zu haben und ihn hier das erste mal getroffen zu haben. Nach der Tatortsicherung und der Versorgung der Verletzten hätten die Gendarmen eine erste Spurensicherung vorgenommen. Nach Abschluß dieser Arbeiten sei der Vorgang an den Ermittlungsrichter abgegeben worden.
Widersprüchlich waren diese Zeugen in der Anzahl der Verletzten und der Geschwindigkeit des Zuges.
Zum Abschluß des Verhandlungstages baten Richter und Verteidigung die Zeugen um Ratschläge, wie man in Frankreich an unbekannt verzogene Zeugen herankommen könne, die eigentlich zu diesem Prozeß geladen seien. Der Kriminalbeamte empfahl, es doch einmal auf diplomatischem Wege über das Außenministerium zu versuchen.
Nächster Termin: 14. 05., 10.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500
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