Berlin: Der 13. Tag im Weinrich-Prozess
Wie viel Sprengstoff passt in eine Plastiktüte?
Im Mittelpunkt des 13ten Verhandlungstages im Berliner Weinrich-Prozess stand die mehrstündige Vernehmung des Sprengstoff-Sachverständigen Monsieur Calisti. Der heute 65-jährige hat in 35 Dienstjahren als Chefingenieur und Leiter des Zentrallabors der Pariser Polizei annähernd 1500 Anschläge untersucht, davon 200 bis 300 mit einer Sprenglast von über 5 kg.
Befragt wurde er zu seinen Gutachten über die Anschläge in der Rue Marboef in Paris (22.4.1982), im Gare St. Charles in Marseille (31.12.1983) und im Hochgeschwindigkeitszug TGV in Tain L’Hermitage (1.1.1984). Monsieur Calisti erläutert ausführlich die von ihm mitentwickelte Methode der Dünnschicht-Chromatographie zur erfolgreichen Bestimmung von Sprengstoff nach einer Explosion. Es stellt sich heraus, dass unter technischen Gesichtspunkten keine Entsprechungen und Zusammenhänge zwischen den drei zur Verhandlung stehenden Anschlägen festgestellt werden können. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden in der Rue Marboef 20 kg TNT in einem Opel Kadett, im Gare St. Charles 10 kg Pentrit in einem Gepäckschließfach und in dem TGV 10 kg des Plastiksprengstoffs Semtex in der Gepäckablage verwandt. Die Suche nach der benutzten Zündvorrichtung war in allen Fällen erfolglos. Allenfalls lässt sich spekulieren, dass elektronisch gesteuerte Zeitzündungen zum Einsatz kamen.
Die im Gerichtssaal Anwesenden lernen, dass der Brisanz- oder Faustschlag-Effekt neben dem thermischen „Feuerball“ von bis zu 4000 Grad den Hauptparameter einer Explosion ausmacht. Explodierte Metallteile bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von 2 km pro Sekunde. Was passiert angesichts dieser Tatsachen mit einer Plastiktüte? Am 11ten Verhandlungstag hatte der Hauptermittlungsbeamte zum Tatkomplex „Tain L’Hermitage“ von zwei Zeugen berichtet. Sie hatten einen Mann dunklerer Hautfarbe gesehen, der auf dem Bahnhof Marseille den Waggon Nr. 3 mit einer weiße Plastiktüte betreten und kurze Zeit darauf ohne die Tüte wieder verlassen haben soll. Der am Tatort gefundene Rest einer weißen Plastiktüte mit der Aufschrift „made in W-Germany“ war nach seinen Aussagen die heißeste Spur der Kriminalpolizei Lyon. Dazu befragt, will Monsieur Calisti die Wichtigkeit der Arbeit seiner Kollegen nicht durch technische Erläuterungen beeinträchtigen. Nichtsdestotrotz steht für ihn fest: Wären in der Plastiktüte 10 kg Sprengstoff gewesen, hätte sie nach der Explosion nicht ausgesehen wie das am Tatort gefundene Tütenteil.
Die Schöffin möchte wissen, wie viel Platz 10 kg Sprengstoff in Anspruch nehmen. Monsieur Calisti erklärt, dass 1,5 kg Sprengstoff ungefähr 1 Liter entsprechen. Eine handelsübliche Plastiktüte ist also mit fast 7 Literflaschen mehr als prall gefüllt.
Verteidiger Elfferding ist an der Klärung der Frage interessiert, ob es Sprengstoffe gibt, die nach der Explosion keinerlei auffindbare Spuren hinterlassen. Monsieur Calisti möchte die Frage unter Hinweis auf das damit verbundene Sicherheitsproblem in dieser Form nicht beantworten. Nicht ohne Stolz berichtet er dann, dass es ihm in ca. 1500 Fällen nur ein einziges Mal nicht gelungen ist, einen Sprengstoff zu identifizieren. Damals hatte heftiger Regen bei einem Gewitter sämtliche Spuren restlos weggewaschen. Diese Aussage von Monsieur Calisti lässt berechtigte Zweifel an der eines anderen Sprengstoffexperten aufkommen, der im „Maison de France“-Prozess kundgetan hatte, es sei der Regelfall, dass keine Sprengstoffspuren gefunden würden. Der Inhalt seiner Stellungnahme war seinerzeit für die Verurteilung des Angeklagten Weinrich nicht unerheblich gewesen.
Die neue Erkenntnis veranlasste Oberstaatsanwalt Mehlis zu der Bemerkung: „Dass Ihr Mandant unschuldig ist, wissen wir mittlerweile.“ Dieser bemerkenswerten Feststellung folgte jedoch nicht der Freispruch oder eine Verfahrenseinstellung.
Nächster Termin: 26. Mai., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500
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