Gipfelinfo: Kongress in Berlin/ Antirepressionsarbeit
Gipfelinfo - Meldungen über globalisierte Solidarität
und die Proteste gegen unsolidarische Globalisierung
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- Die (Re-) Organisation der Inneren Sicherheit in Europa - EDA/RAV-Kongress
- Neue Wege europäischer Anti-Repressionsarbeit
- Europas Polizei - Gefahr für Grundrechte und Demokratie
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"Europa, Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht?"
Die (Re-) Organisation der Inneren Sicherheit in Europa
EDA/RAV-Kongresse am Freitag, den 27.Juni 2003
Im Berliner Abgeordnetenhaus/ Preussischer Landtag
Veranstalter: EDA, RAV und Holtfortstiftung. Unterstützt durch die
Rechtsanwaltskammer Berlin und von der Zeitschrift CILIP
Übersetzung: deutsch, englisch und französisch
Seit Jahren beschäftigt sich die Europäische Anwaltsorganisation EDA
(Europäische Demokratische Anwälte) mit der Entwicklung der polizeilichen und
justiziellen Zusammenarbeit in Europa. Die Errichtung der Europäischen
Polizeibehörde Europol wurde ebenso stark kritisiert wie jüngst die zunehmende
Repression gegen Globalisierungskritiker und die Antiterrorismusgesetzgebung.
Massnahmen innerhalb der justiziellen Zusammenarbeit wurden kontrovers
diskutiert. Insbesondere der geplante Corpus Juris, ein europäisches
Strafgesetz- und Strafprozessrecht zur Verteidigung der finanzielllen Interessen
der EU oder Eurojust wurden von einem Teil der EDA kritisiert. Der Aufbau des
Europäischen Straf-und Strafprozessrecht ohne eine sichere Fundierung auf Grund-
und Verfahrensrechten mache die Exekutive zu stark. Andere begrüßten den
Versuch, gemeinsame Standards zu kodifizieren und gerichtliche Kontrollen zu
installieren .
Nach dem Wegfall des äußeren Feindes und der äußeren Bedrohung wurde in der
neuen NATO-Doktrin von 1999 ein neuerer umfassender Sicherheitsbegriff
verankert, wonach bereits soziale und ökonomische Krisen (Migrationsbewegungen
oder Rohstoffverknappung) zur Intervention auch ausserhalb des Bündnisgebietes
berechtigt. Seit dem 11. September 2001 hat sich die sicherheitspolitische
Situation in Europa noch einmal verändert , die Grenzen zwischen Militärs und
Polizei, zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit verschwimmen, die Bedeutung der
Geheimdienste hat zugenommen. Diese Entwicklung wird besonders anschaulich in
dem Begriff ‚Krieg gegen den Terrorismus': Die Verantwortlichen der Inneren und
Äußeren Sicherheit stellen eine diffuse Bedrohungssituation wird fest, die
Szenarien wechseln nach freiem Belieben. Die Eingriffsvorausetzungen für Polizei
und Militärs sind jedenfalls demokratisch und gerichtlich kaum noch
kontrollierbar. Die Grösse der behaupteten Gefahr rechtfertigt dann (fast) jeden
Eingriff von Militärs und Polizei in Grund- und Verfahrensrechte der Betroffenen.
Damit gerät der Strafprozess als Veranstaltung mit zumindest theoretisch
gleichen Waffen für alle Verfahrensbeteiligten in Gefahr. Die ersten Betroffenen
der europäischen Innen- und Justizpolitik sind seit 2001 die
Globalisierungskritiker, die bei der Ausübung der politischen Teilhaberechte der
Versammlungs- und Meinungsfreiheit die Beschädigung fast aller ihrer Rechte
befürchten müssen. Noch dramatischer ist die Situation der Flüchtlinge und
Nicht- EU- Ausländer, die einem harten Kontrollregime unterworfen sind bis hin
zur Rechtloserklärung in den neuen Ausreiselagern.
Diese Entwicklung soll im ersten, eher theoretischen Teil der Konferenz durch
Vorträge illustriert werden. Danach soll in Arbeitsgruppen vor allem aus
anwaltlicher Perspektive Handlungsperspektiven und rechtspolitische Initiativen
diskutiert werden.
TAGESORDNUNG
8.30 Uhr
Anmeldung
9.00 Uhr
Begrüßung durch den Präsidenten der Berliner Anwaltskammer, Rechtsanwalt und
Notar Kay-Thomas Pohl
Begrüßung durch EDA-Präsidenten und RAV- Vorsitzenden
9.30 Uhr
Vortrag Prof. Dr. Hans-Jörg Albrecht, Direktor am Max-Planck-Institut für
ausländisches und internationales Strafrecht
"Der erweiterte Sicherheitsbegriff und seine Folgen für Innen- und
Rechtspolitik" anschließend Diskussion
10.15 bis 10.30 Uhr
Kaffeepause
10.30 Uhr
"Die Dominanz der Exekutive bei der polizeilichen und justiziellen
Zusammenarbeit in Europa"
Alain Krivine, Paris, Mitglied des Europaparlaments (angefragt)
11.15 Uhr
"Demokratische Defizite bei der Schaffung sekundären Rechts"
Rechtsanwalt Bernd Häusler, Berlin, Vizepräsident und Menschenrechtsbeauftragter
der Berliner Rechtsanwaltskammer
11.40 Uhr
"Fairer Strafprozess in Europa"
Rechtsanwalt Stephen Jakobi, London, Fair Trials Abroad
Anschließend Diskussion
13.00 bis 14.30 Uhr
Mittagspause
14.30 bis 17.00 Uhr
Arbeitsgruppen
Arbeitsgruppe 1:
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Europa, insbesondere der
europäische Haftbefehl. Anwaltliche Handlungsperspektiven.
Leitung RA Wolfgang Kaleck (RAV), Berlin
Einführungsreferat RA Wolfgang Bendler (EDA und Strafverteidigervereinigungen),
München, Co-Referat Heiner Busch(CILIP), Basel/Schweiz
Arbeitsgruppe 2:
Repression gegen Globalisierungsgegner
Leitung Rechtsanwältin (EDA und RAV), Berlin
Einführungsreferat Anne Maeschalk (EDA und Kommission zur Beobachtung der
Grundrechte im Prozeß der Globalisierung), Brüssel,
Co-Referat Gilberto Pagani(EDA und Kommission zur Beobachtung der Grundrechte im
Prozeß der Globalisierung), Mailand
Arbeitsgruppe 3: Europäisches Ausländer- und Asylrecht
Leitung Rechtsanwältin Andrea Würdinger(RAV), Berlin
Referat: "Zur Situation in Südspanien"
Rechtsanwalt Jose Luis Rodriguez Candela, Malaga
"Zur europäischen Ausländer- und Asylpolitik"
Karl Kopp (Europareferent Pro Asyl), Frankfurt (angefragt)
17.00 Uhr bis 18.00 Uhr
Abschlussdiskussion
anschließend Sektempfang
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Die Macht der Straße - Neue Wege europäischer Anti-Repressionsarbeit
Silke Studzinsky
In der Anti-Repressionsarbeit konnten auf nationaler Ebene seit vielen Jahren in
den verschiedenen Staaten wertvolle Erfahrungen gesammelt und ein hohes Niveau
erreicht werden. Inzwischen sind die Grenzen der nationalen Arbeit deutlich und
eine neue Struktur ist notwendig.
Die Ausgangslage:
Der Druck von oben steigt Denn mit dem rasanten Voranschreiten der
Globalisierung organisiert sich seit einigen Jahren auch der Widerstand dagegen
international - und damit natürlich auch die Repression grenzübergreifend.
Permanent werden neue repressive Eingriffe entwickelt und fortgeschrieben,
teilweise unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus oder auch
ausdrücklich gegen soziale Bewegungen und GipfelgegnerInnen gerichtet, um den
Widerstand zu behindern oder sogar ganz auszuschalten. Zu dem Arsenal gehören
Ausreiseverbote, Vorverlagerungen von Grenzkontrollen, die Außerkraftsetzung des
Art. 2 Abs. 2 des Schengener Durchführungsabkommens, also die Wiedereinführung
von Grenzkontrollen in dem "Europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts." Aber auch weitgehend unkontrollierte zentrale Datensammlungen im
Schengener Informationssystem (SIS), die Planung von SIS II, in dem sich der
Datenaustausch bis zu den Geheimdiensten erstreckt und eine eigene Datei von
troublemakers aufgenommen werden soll. SIS II (1) ist nicht nur im Hinblick auf
die Datenmenge eine quantitative Erweiterung, sondern bedeutet auch eine
qualitative Veränderung. So ist z.B. geplant, die personenbezogenen Datensätze
um Fotos, Fingerabdrücke, DNA und weitere biometrische Daten zu ergänzen. In
Verbindung mit Gesichts- und Iriserkennungssystemen ließe sich damit die
Identifizierung der überprüften Personen perfektionieren. Dazu soll der Kreis
der Zugriffsberechtigten erheblich erweitert werden, nämlich u.a. auf
Nachrichten- und Geheimdienste, Sozial-, Ausländer- und Finanzbehörden. Aber
bereits das jetzige SIS wird in Richtung auf ungezügelten und unkontrollierten
Datenaustausch erweitert. In einem internen Papier der Schengen-Arbeitsgruppe
heißt es: "Über die Verwendung der SIS Datenbestände für anfänglich nicht
vorgesehene Absichten, insbesondere für polizeiliche Informationszwecke im
weitesten Sinn, herrscht ein breiter Konsens, der mit den Schlussfolgerungen des
Rates aus den Ereignissen des 11.9. übereinstimmt." (2)
Der "breite Konsens", von dem die europäischen Polizeibeamten hier sprechen, ist
selbstverständlich nicht das Ergebnis einer öffentlichen Diskussion und eines
demokratischen Prozesses, sondern das Produkt geheimer Verhandlungen.
Auch der europäische Haftbefehl, der die bisherige Auslieferung durch ein
vereinfachtes Verfahren ersetzt und davon ausgeht, dass "in gegenseitigem
Vertrauen Entscheidungen wechselseitig anerkannt werden", greift massiv in die
Rechte der Beschuldigten ein. Eine "europäische Verteidigung" ist nicht
vorgesehen, insoweit funktioniert alles auf nationaler Grundlage, während sich
die Justiz europäisch organisiert und kooperiert. Die künftige angestrebte
europäische Staatsanwaltschaft EUROJUST ist seit Dezember 2002 in Den Haag
ansässig und hat nach dem Umzug aus dem Provisorium in Brüssel nun mit voller
Kraft ihre Arbeit aufgenommen. Ihre Zuständigkeit wird über den Schutz der
EU-Finanzen hinaus erweitert werden, so dass etwa Terrorismus, organisierte
Kriminalität und "grenzüberschreitende Delikte" hinzukommen. Der deutscher
Vertreter bei EUROJUST, von Langsdorff, forderte auf dem Strafverteidigertag in
Dresden im März 2003 die anwesenden Verteidigerinnen und Verteidiger auf, sich
doch ein eben solches Netz wie EUROJUST, EUROPOL und das Europäische Justizielle
Netz aufzubauen - was angesichts des bestens ausgestatteten europäischen
Apparates nichts als zynisch ist.
Aber auch die Effektivierung von EUROPOL sowie die Umsetzung des europäischen
Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 in nationales Recht schreiten voran. In der
Bundesrepublik liegt der entsprechende Entwurf zur Verschärfung des §129a StGB -
terroristische Vereinigung - bereits vor. (3) Er enthält eine erhebliche
Erhöhung des Strafrahmens, "definiert" den Begriff "Terrorismus" analog zum
EU-Rahmenbeschluss und ermöglicht die Kriminalisierung sozialer Bewegungen.
Über die innerhalb der EU entwickelten Maßnahmen hinaus, übrigens ohne
parlamentarische Kontrolle, gibt es zahlreiche bilaterale Abkommen mit
Nicht-EU-Mitgliedern, die teilweise sogar weit über die Kompetenzen innerhalb
der EU hinausgehen. Zum Beispiel den Zusammenarbeitsvertrag zwischen der Schweiz
und der Bundesrepublik (4), in dem u.a. die Zwecke für grenzüberschreitende
Einsätze erweitert worden sind und auch das Verfahren der Kooperation erheblich
vereinfacht wird. Sowohl Verdächtige als auch Kontaktpersonen können observiert
werden, aber auch zur Sicherstellung der Strafvollstreckung sind Observationen
möglich.
Darüber hinaus existiert ein Heer von Verbindungsbeamten weltweit. Erst am 21.
Januar 2003 (5) sind deren Befugnisse und Arbeitsweisen vom Rat der EU geregelt
worden, wobei zugleich auch der unmittelbare Datenaustausch mit EUROPOL
erleichtert wird. Die Verbindungsbeamten arbeiten weitgehend unbürokratisch und
damit vor allem unkontrolliert und stellen so eine wertvolle Hilfe im
Gesamtsystem dar. Aber auch mit paramilitärischen Sondereinheiten (6),
vorgeschlagen im Jahre 2001 nach den Gipfeln in Göteborg und Genua von
Bundesinnenminister Otto Schily, soll potenzieller Widerstand auf der Straße
bekämpft werden. In Belgien ist erst kürzlich der Einsatz des Militärs in
möglichen sozialen Auseinandersetzungen beschlossen worden. Gleichzeitig ist
eine Verschärfung des materiellen Strafrechts in den einzelnen EU-Staaten zu
beobachten, gerade unter dem Aspekt der Kriminalisierung sozialer Bewegungen. So
wird in Italien ein "Black Bloc" anhand von Äußerungen im Internet konstruiert
und schwarze Kleidung zum Verdachtsmoment. Aber auch die "Geheimbündelei"
(Conspiracy), ein z.B. in Italien existierender Straftatbestand aus der
Mussolini-Zeit, dient dazu, Personen aus sozialen Bewegungen zu kriminalisieren,
wenn ihnen ein konkreter Tatvorwurf nicht gemacht werden kann. Dies haben
zahlreiche Fälle in Italien zuletzt erst im November 2002 nach dem Europäischen
Sozialforum gezeigt.
Teilweise werden die Strafprozesse, die sich gegen ausländische AktivistInnen
richten, jedoch auch an die Herkunftsstaaten abgegeben. So werden weiterhin
Verfahren gegen Deutsche in der Nachfolge des Gipfels in Göteborg in der
Bundesrepublik verhandelt und die Beschuldigten in Deutschland angeklagt. Die
Verteidigung ist in solchen Verfahren erheblich behindert: Ohne konkrete
Kenntnisse der polizeilichen Strukturen, Arbeitsweisen, örtlichen Verhältnisse
und der konkreten Belastungszeugen ist ein solches Verfahren hier kaum zu führen.
Wie Gegenmacht entsteht
So stellt sich die Frage, wie eine Gegenmacht im Bereich der Anti-
Repressionsarbeit aufgebaut und organisiert werden kann. Die verschiedenen
Gipfelereignisse der letzten Jahre zeigen teilweise unterschiedliche
Organisationsformen und vor allem Zielrichtungen der Legal Teams. Einige Beispiele:
September 2000 in Prag
Anlässlich der Tagung des Weltwährungsfonds und der Weltbank hatte sich unter
"Anleitung" der amerikanischen Organisation National Lawyers Guild ein Legal
Team gebildet, bestehend vor allem aus JurastudentInnen und interessierten
Einzelpersonen. Einsatzfeld war der erste Rechtsschutz für die tschechischen und
ausländischen DemonstrantInnen bei Festnahmen vor und während der Demonstration
und an den Grenzen bei der Einreise. Es wurden besonders gekennzeichnete
BeobachterInnengruppen gebildet, die während der Demonstration auf der Straße
waren. Ihnen ging es darum, eine "unparteiische" Beobachtung und Dokumentation
der Ereignisse - also Übergriffe der Polizei sowie Tränengaseinsätze und
Einkesselungen - zu gewährleisten. Gleichzeitig ging es aber auch darum, vor Ort
zwischen DemonstrantInnen und Sicherheitskräften zu vermitteln und Eskalationen
zu vermeiden.
Dezember 2000 in Nizza
Die seit 1995 aus AktivistInnen bestehende Gruppe Collectif d'Aide aux
Manifestant(e)s Interpellé(e)s (CAMI) bietet im Internet einen juristischen
Leitfaden für die festgenommenen DemonstrantInnen und klärt über die
verschiedenen Polizeieinheiten und deren Taktiken und Techniken auf. (7) Die
Gruppe ist eingebunden in die sozialen Bewegungen und Teil von ihnen. Die
Struktur ist informell und arbeitet mit AnwältInnen zusammen, die nicht der
Gruppe angehören.
Dezember 2001 in Laeken
Nach den Ereignissen von Genua im Juli 2001 bildeten eine Gruppe von Anwältinnen
und eine Gruppe von Jurastudentinnen bzw. anderen, die entsprechend juristisch
fortgebildet wurden, das Legal Team. Die Aufgaben bestanden darin, an der
Landesgrenze gegen die Behinderungen der DemonstrantInnen bei ihrer Einreise
bzw. bei Zurückweisungen juristisch dagegen vorzugehen; dazu wurden Eilanträge
zur Intervention bei den Verwaltungsgerichten vorbereitet. Während der
verschiedenen Demonstrationen wurde durchgehend die unentgeltliche juristische
Unterstützung der Festgenommenen gewährleistet. Gleichzeitig waren
Beobachtergruppen auf der Straße präsent, die u.a. auch eine Vermittlerrolle
zwischen den OrganisatorInnen und den Sicherheitskräften übernahmen.
März 2002 in Barcelona
Das Legal Team war hier von einer Gruppe von AnwältInnen organisiert, die
durchgehend in den Räumlichkeiten der Anwaltskammer präsent waren und die dort
vorhandene Infrastruktur nutzten. Die Gruppe war aus katalanischen, belgischen,
holländischen und deutschen AnwältInnen zusammengesetzt, die eng mit einer
Gruppe von AktivistInnen zusammenarbeitete. Auch eine Präsenz an den
Grenzübergängen war gewährleistet.
Juli 2002 in Straßburg
Das Legal Team bei diesem no-border- camp bestand ausschließlich aus
AktivistInnen, die juristisch vorbereitet waren und alle Aufgaben übernahmen.
Erst nach Inhaftierungen, wenn den AktivistInnen der Zutritt verweigert war,
wurden vorher ausgewählte AnwältInnen eingeschaltet, die bei den richterlichen
Vorführungen die Verteidigung übernahmen und die Festgenommenen im Gewahrsam
aufsuchten. Ein Leitfaden in verschiedenen Sprachen wurde im Internet zur
Verfügung gestellt, in dem bezogen auf das Verhalten bei Aktionen und
Demonstrationen, aber auch im Hinblick auf die spezifische Situation der
ausländischen und der "illegalisierten" TeilnehmerInnen des Camps Informationen
zur Verfügung gestellt wurden.
Fragestellungen für ein internationales Netzwerk von Legal Teams
* Die Schaffung eines europäischen Legal-Team-Netzwerks ist ein wesentlicher
Schritt, um der Europäisierung der Repression nicht mehr nur auf nationaler
Ebene entgegen zu treten. Allerdings zeigen die obigen Beispiele bereits ein
sehr unterschiedliches Selbstverständnis. Die bisherigen Aufgabenbereiche lassen
sich folgendermaßen zusammenfassen:
* Recherche und Dokumentation der aktuellen Entwicklungen von Richtlinien,
Rahmenbeschlüssen etc. auf europäischer Ebene,
* Intensivierung des Austauschs der AnwältInnen und AktivistInnen in Europa über
die jeweiligen nationalen Gesetze und Entwicklungen eines effektiven
Rechtsschutzes gegen Repressionsmaßnahmen, wie z.B. Anträge beim Europäischen
Gerichtshof gegen die Be- und Verhinderung der Teilnahme an Demonstrationen,
* Koordinierung der Demonstrationsbeobachtung,
* Unterstützung/Aufbau der Legal Teams vor Ort und Entwicklung der Kooperation
der Legal Teams untereinander,
* Erstellung einer zentralen Internetseite mit allen notwendigen mehrsprachigen
Informationen über die jeweilige Situation in dem jeweiligen Staat, in dem der
Gegengipfel statt findet.
Für die zukünftige Arbeit und den Aufbau effektiver Legal Teams ist jedoch eine
grundsätzliche Debatte über die verschiedenen Ansätze zu führen, und ich möchte
an dieser Stelle einige der Fragestellungen skizzieren:
* Ist die "unabhängige" Beobachtung von Demonstrationen eine Aufgabe der Legal
Teams, insbesondere der AnwältInnen, und soll eine Vermittlerrolle zwischen
OrganisatorInnen und Sicherheitskräften übernommen werden, oder dient eine
solche scheinbar "unparteiische" Mediatorenrolle der Rechtfertigung von
Polizeieinsätzen, wenn sie sich z.B. gegen "Gewalttäter" richtet?
* Ist die Anwaltschaft aus standesrechtlichen Gründen an einem Einsatz auf der
Straße gehindert, und ist qua Selbstdefinition der Platz der Anwaltschaft nicht
auf der Straße, sondern im Büro?
* Bezieht das Legal Team eine inhaltliche Position zu den verschiedenen
Veranstaltern bzw. verschiedenen Aktionsformen oder ist das Legal Team für alle
linken Aktionen und Demonstrationen zuständig, unabhängig von den Vorwürfen und
den politischen Standorten der AktivistInnen?
* Welche Rolle sollen die AnwältInnen in den Legal Teams übernehmen, und wie ist
das Verhältnis zu den AktivistInnen?
* Sollen die Legal Teams sich mit den permanenten neuen Entwürfen und
Entwicklungen von Richtlinien, Ramenbeschlüssen und Verschärfungen des
Repressionsapparates beschäftigen, oder ist es verlorene Zeit, insbesondere wenn
bereits existierende Gruppen wie z.B. Statewatch daran arbeiten?
* Arbeiten die AnwältInnen nicht nur im Moment des ersten Zugriffs, sondern auch
bei der Übernahme der Verteidigung unbezahlt, oder gehört zur
Anti-Repressionsarbeit der sozialen Bewegungen auch, dass die Kosten für die
anwaltliche Arbeit gemeinsam getragen werden?
* Sollen die Möglichkeiten, die das Recht bietet, im Interesse der sozialen
Widerstandsbewegungen genutzt werden? Oder handelt es sich letztlich um das
Recht und die Repressionsinstrumente der Herrschenden, und begibt man sich
systemimmanent auf eine Ebene, die gleichzeitig immer dazu dient, die sozialen
Widerstandsbewegungen in ihren Handlungsspielräumen zu beschränken? Oder bewegt
man sich so in einem ständigen Kompromiss?
Vorläufiges Ergebnis
Die Organisierung von effektiv arbeitenden Legal Teams auf europäischer Ebene
hat gerade erst begonnen und wirft in der praktischen Umsetzung, der
Aufgabenbestimmung und des Selbstverständnisses noch viele Fragen auf. Das
Kolloquium in Berlin soll dem Austausch anhand der verschiedenen Erfahrungen der
bisherigen Legal Teams dienen und der Weiterentwicklung einer wirksamen
Anti-Repressionsarbeit in Europa.
1) Vgl. Europäischer Rat 2002: "New Functions of the SIS II" (Document 5968/02
Limite, 5. Februar), Brussels.
2) Vgl. Council of the European Union; 15525/02 sowie Jelle van Buuren
"Überwachen und Schengen". In: Le Monde Diplomatique (Nr. 7004), 14.3.2003
(unter: http://www.no-racism.net/migration/sis_ueberwachung270303.htm).
3) Vgl. Bundestagsdrucksache 15/813.
4) Vgl. Bundestagsdrucksache 14/5735.
5) Vgl. Council of the European Union; 15525/02.
6) Vgl. http://www.statewatch.org/news/2001/oct/01paramilitary.htm.
7) Vgl. http://www.vertsmp.free.fr/presse/guide_du_manifestant.htm.
Literaturauswahl
- Beschluss des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von EUROJUST
(ABlEG L 63/1, 2002/187/JI, 6. März 2002).
- Bürgerrechte & Polizei/CILIP (unter: http://www.cilip.de), insbesondere die
Hefte 2/2001, 2/2002, 3/2002, die online verfügbar sind.
- Der Strafverteidiger (Sonderbeilage 2003, Heft 2).
- Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), hier insbesondere die Aufsätze: "Der
europäische Staatsanwalt" (2002), 393ff; "EUROPOL" (2001), 623ff; "Europäische
Kooperation im Bereich der Strafrechtspflege" (2001), 617ff; "Nationale
Strafverfolgung und Europäische Beweisführung" (2003), 113ff sowie das
Schwerpunktheft (2002, Nr. 12) "Internationales Strafrecht".
- Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den europäischen Haftbefehl
(ABlEG L 190/1, 2002/584/JI vom 18. Juli 2002).
- Statewatch (unter: http://www.statewatch.org); Statewatch verfügt zudem über
ein teilweise kostenpflichtiges Datenbankportal (SEMDOC) mit hilfreichen
Informationen (unter: http://www.statewatch.org/semdocfree/fulllist.html).
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Europas Polizei - Gefahr für Grundrechte und Demokratie
Heiner Busch/Wolfgang Kaleck
In weniger als 20 Jahren ist es der europäischen Exekutive oder besser gesagt
den heute im Rat der Innenund Justizminister vereinigten Exekutiven der
Mitgliedstaaten gelungen, in der EU einen Komplex von polizeilichen
Institutionen aufzubauen. Dieser besteht aus einer ständig wachsenden Zahl von
polizei-politischen Arbeitsgruppen und operativen Gremien. Dazu kommt eine
Zentralstelle, nämlich EUROPOL mit seinen Arbeitsdateien und seinem
Registersystem, das Schengener Informationssystem (SIS) mit seiner Zentrale in
Strasbourg und das Fingerabdrucksystem EURODAC. Ein gemeinsames
Grenzpolizeikorps ist im Aufbau. Über ein Visumsdatensystem wird gerade
verhandelt. Vorschläge für eine gemeinsame Polizeieinheit bei Demonstrationen
gab es auch schon. EUROPOL hat zwar noch keine direkten Eingriffskompetenzen.
Allerdings wird über die Verleihung "operativer" Befugnisse ebenso emsig
diskutiert wie über einen weiteren Ausbau des SIS.
Entwicklung einer gefährlichen Struktur: Polizeiliche Zusammenarbeit in der EU
Anfang der 1990er Jahre war es für einige Mitgliedstaaten kaum vorstellbar, eine
nationale Polizeizentrale zu haben. Heute erleben wir die Konstruktion eines
immer vollständigeren Polizeiapparates auf europäischer Ebene.
Die Anfänge der polizeilichen Kooperation in der damaligen EG liegen in der
Mitte der 1970er Jahre. Die für die Polizei verantwortlichen Minister der
Mitgliedstaaten beschlossen 1975 die Einrichtung eines Gremiums mit Namen TREVI
(Abkürzung für Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence Internationale).
Unter diesem Label wurden im folgenden Jahr zunächst zwei Arbeitsgruppen
gebildet: TREVI 1, in der sich Vertreter der politischen Polizeien und
Inlandsgeheimdienste zusammenfanden. Im Rahmen dieser Arbeitsgruppe wurde ein
Netz von Verbindungsbüros aufgebaut. TREVI 2 befasste sich mit Fragen der
Polizeiausbildung und Polizeitechnik. Da die EG zu diesem Zeitpunkt keine
Zuständigkeit für Fragen der Innenund Rechtspolitik hatte, befand sich TREVI in
einem völlig unkontrollierten Raum informeller exekutiver und polizeilicher
Kooperation neben den eigentlichen Strukturen der EG. Das Europäische Parlament
war für die Minister und ihre Arbeitsgruppen ein Nullgröße. Die Informationen
über die diversen Treffen beschränkten sich - wenn überhaupt - auf dürre
Presseerklärungen.
TREVI erhielt ab Mitte der 1980er Jahre eine erhebliche Aufwertung durch die
Planungen für den EG-Binnenmarkt. Aus dem weitgehend informellen Gremium, dessen
einzige (wenn auch nicht zu unterschätzende) Funktion die Zusammenarbeit der
politischen Polizeien war, wurde nun ein politisches Planungsgremium für die
künftige polizeiliche und innen- bzw. justizpolitische Landschaft der EU.
Trotzdem blieb das Gremium weiterhin außerhalb der EG-Strukturen und konnte auch
von den nationalen Parlamenten nicht kontrolliert werden. Neue Arbeitsgruppen
entstanden - u.a. TREVI III für den Bereich Drogen und organisierte Kriminalität
- sowie eine Arbeitsgruppe TREVI 92, die die Vorbereitungen für den
polizeilichen Binnenmarkt treffen sollte. Im Maastrichter Vertrag, der 1993 in
Kraft trat, wurde die informelle TREVI-Kooperation umstandslos zur formellen
Dritten Säule der EU (Recht und Inneres innerhalb der europäischen Union)
erhoben. Bei dieser intergouvernementalen Zusammenarbeit hatte das Europäische
Parlament weiterhin nichts zu melden, es wurde lediglich informiert. Ergebnis
dieser Dritten Säule der EU war u.a. der Aufbau von EUROPOL.
Ebenfalls mit der Perspektive des Binnenmarktes, der Aufhebung der Kontrollen an
den gemeinsamen Grenzen, wurde 1985 das erste Schengener Abkommen zwischen fünf
EG-Staaten geschlossen. Projektiert wurde nicht nur der schrittweise Abbau der
Binnengrenzkontrollen, sondern auch die Verhandlung über im wesentlichen
polizeiliche "Ausgleichsmaßnahmen".
Ergebnis dieser Verhandlungen war das Schengener Durchführungsübereinkommen von
1990 - mit dem SIS als Kern. Das SIS ist das erste von mehreren Staaten
gemeinsam betriebene polizeiliche Datenverarbeitungssystem, in das die Polizei
eines Staates Daten zum automatischen Abruf durch die Polizei eines anderen
Staates einspeichern kann. Es handelt sich um ein polizeiliches Fahndungssystem
für Personen und Sachen. Rund 80% der gespeicherten Personen sind
Nicht-EUBürgerInnen, die aus der EU abgeschoben oder an ihren Grenzen
zurückgewiesen werden sollen. Das SIS ist also zu einem großen Teil ein
polizeiliches Instrument zur Durchsetzung der restriktiven Asyl- und
Migrationspolitik der EU. Der Anteil der Ausschreibungen zur Festnahme und
Auslieferung von mit Haftbefehl gesuchten Personen an den Personendaten liegt
bei ca. 1-2%. Darüber hinaus enthält das System auch Daten zur polizeilichen
Beobachtung von Personen (und Fahrzeugen), die keiner Straftat beschuldigt
werden, sondern gegen die nur Gefährlichkeitsvermutungen u.a. aus Gründen der
"nationalen Sicherheit" und "öffentlichen Ordnung" vorliegen. Das SIS ging 1995
ans Netz. Mit dem jetzt geplanten Ausbau ist u.a. vorgesehen eine neue
Datenkategorie der violent troublemakers zu schaffen. Nach der Unterzeichnung
des Schengener Durchführungsabkommens 1990 entwickelte sich der darin
vorgesehene Exekutivausschuss mit seinen diversen Untergruppen zu einem
veritablen Laboratorium der Polizeikooperation. Dies wurde möglich, weil er
praktisch von jeder - auch nur minimalen Kontrolle - verschont war. Das
Europäische Parlament hatte hier kein Sagen, weil Schengen eine ausschließlich
multilaterale Kooperation darstellte, die allerdings am Ende 13
EU-Mitgliedstaaten sowie zwei Assoziierte (Norwegen und Island) umfasste. Die
nationalen Parlamente waren nur bei der Ratifikation des
Durchführungsübereinkommens gefragt. Die weitere Zusammenarbeit verlief
unterhalb der Ebene völkerrechtlicher Verträge und damit ohne jegliches Zutun
der Parlamente. In den Schengen- Arbeitsgruppen wurden Handbücher erstellt, die
die polizeiliche und grenzpolizeiliche Tätigkeit standardisieren sollten. Neue
Methoden wurden getestet. Man evaluierte sich gegenseitig. Bis Mai 1999 nahm der
Exekutivausschuss rund 200 Beschlüsse an, die zusammen mit den Abkommen rund 480
Seiten im Amtsblatt der EG füllen. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer
Vertrages wurde dieser gesamte Schengen- Acquis (Besitzstand) - ohne jeglichen
Abstrich - in die EU-Strukturen überführt. Der Amsterdamer Vertrag überführte
zwar einen Teil der justiz- und innenpolitischen Kooperation - Fragen der Asyl-
und Migrationspolitik sowie die Außengrenzen - in die so genannte Erste Säule,
also in die Strukturen der EG. Formell sind die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit
nun Richtlinien und Verordnungen. Allerdings wird zumindest bis 2004 auch in
diesen Fragen das Europäische Parlament nur konsultiert. Es konnte sich so z.B.
zu EURODAC äußern. Seine Beschlüsse haben aber nur den Charakter einer
Empfehlung für die im Rat vereinigten Minister. In der Dritten Säule bleibt
alles beim alten. Auch hier bleiben die Parlamente von einer wirklichen
Entscheidungsbefugnis ausgeschlossen.
Der Amsterdamer Vertrag sieht u.a. die Ausweitung der Kompetenzen von EUROPOL
vor. Es lohnt sich auf dieses zentrale Element der polizeilichen Kooperation in
der EU noch einmal genauer einzugehen: Die ersten Planungen für dieses Amt, das
seinen Sitz in Den Haag hat, fallen noch in die Zeit der TREVI-Kooperation.
Schon Ende der 1980er Jahre diskutierte man hier über den Aufbau einer European
Drug Intelligence Unit mit einem Komplex von Verbindungsbeamten, die den
Austausch von Informationen und die Koordination der Polizeien bei
Drogenermittlungen verbessern sollten. Der EG-Gipfel in Luxemburg im Juni 1991
gab grünes Licht für einen Aufbau bereits unter dem Namen EUROPOL. Die Innen-
und Justizminister der EG-Staaten beschlossen 1992 - der Maastrichter Vertrag
war zwar unterschrieben aber noch nicht in Kraft - den Aufbau einer
EUROPOLVorläufer- Institution namens EUROPOL- Drogen-Einheit, die aber keine
eigenen Datensysteme haben sollte.
Diese Einheit nahm im Januar 1994 ihre Arbeit auf. Finanzen wurden bereit
gestellt, Verbindungsbeamte entsandt, die mit ihren nationalen Polizeibehörden
in ständiger Kommunikation standen und Zugriff auf die jeweiligen nationalen
Datensysteme hatten. Man begann sehr schnell mit einem umfangreichen
Datenaustausch auf dem kurzen Dienstweg und auf der Basis des jeweiligen
nationalen Rechts und der von den Mitgliedstaaten ratifizierten
Rechtshilfeverträge. Die Drogeneinheit koordinierte bereits grenzüberschreitende
Observationen und kontrollierte Lieferungen - und das mit wachsender
Begeisterung. Im Juli 1995 wurde die EUROPOL-Konvention, die rechtliche
Grundlage der neuen Behörde unterzeichnet. Sie wurde allerdings von zahlreichen
Bürgerrechts- und Juristenorganisationen in Europa kritisiert - wegen der kaum
eingegrenzten Befugnisse zur Datenspeicherung und Weitergabe, wegen der völligen
strafrechtlichen Immunität, die den Beamten der neuen Behörde zugesichert wurde,
wegen der bloß rhetorischen Datenschutzbestimmungen etc. Die Konvention trat im
Oktober 1999 in Kraft, damit wurde auch das Startsignal für das bereits
aufgebaute System der "Arbeitsdateien" förmlich in Gang gesetzt. Bereits im
Amsterdamer Vertrag, der 1997 unterzeichnet wurde und im Mai 1999 in Kraft trat,
hatten sich die Regierungen der Mitgliedstaaten jedoch darauf geeinigt, die
EUROPOL-Kompetenzen auszubauen und auszudehnen auf den "operativen" Bereich.
EUROPOL erhält zwar keine eigenen exekutiven Befugnisse, soll aber die
nationalen Polizeien zu Ermittlungen bewegen können, an gemeinsamen
Ermittlungsgruppen in führender Rolle beteiligt werden, seine Kenntnisse und
Daten gezielt einbringen. Es wird geplant, die Konvention zu einem bloßen
Beschluss des Rates, also der Minister umzubauen, um die langwierige
Ratifikation in den Parlamenten der Mitgliedstaaten zu umgehen. Gegebenenfalls
könnte auch eine Verordnung erstellt werden. Man wartet hier noch die Ergebnisse
des Konvents ab, der die neue EU-Verfassung produzieren soll. Wichtig ist, dass
die Veränderung des Rechts schnell von statten zu gehen hat - ohne lange
parlamentarische Beratungen. Die Geschichte EUROPOLS ist also in der Tat ein
Lehrstück dafür, wie wenig die Regierungen der EU vom Recht und von den
ordentlichen demokratischen Rechtssetzungsprozessen halten. Festzuhalten bleibt,
dass innerhalb der Dritten Säule die europäische Exekutive und insbesondere die
europäischen Polizeibehörden die Initiative ergriffen haben. Sie begannen lange
vor den Maastrichter und Amsterdamer Vertrag mit der teilweise rechtlich nicht
normierten Kooperation und bauten diese dann über die verschiedenen
Arbeitsgruppen und informelle Zusammenarbeit bis zum heutigen Stand aus. Die so
entstandene Dominanz der Exekutive geht zu Lasten der Grundrechte. In
Ermangelung einer europäischen Verfassung, die den Namen verdient, mit einem
gerichtlich durchsetzbaren Grundrechtekatalog und in Ermangelung eines
europäischen Strafverfahrens nutzt die Polizei das Vakuum, um Fakten zu
schaffen. Es entstehen riesige kaum kontrollierbare Datensammlungen. Durch
Analysedateien und die Produktion eigener, polizeilicher Analysen wird die
Kriminalitätspolitik der europäischen Union stark beeinflusst und es werden
Feindbilder (dazu weiter unten) produziert. Durch die Gewinnung von Beweisen auf
nicht immer nachvollziehbare Weise (zum Beispiel überwachte Drogenlieferungen)
hebelt die Polizei das Strafverfahren als Veranstaltung mit gleichen Mitteln und
Rechten ausgestatteten Beteiligten aus. Ein europäisches faires Verfahren (fair
trial) droht somit im Ansatz zu ersticken. Weder das europäische noch die
nationalen Parlamente haben ausreichende Entscheidungskompetenzen. Die
nationalen Justizbehörden haben zwar mit Schaffung der Verbindungsstelle
EUROJUST versucht nachzuziehen. Den Ton gibt aber die Polizei an.
Polizeiliche Praxis in der EU
Die Europäisierung der Polizei beschränkt sich nicht nur auf den Aufbau
polizeilicher Zentralstellen oder EU-weiter Datensysteme, sie betrifft auch die
Methoden, selbst wenn es sich dabei "nur" um die Kooperation nationaler
Polizeien handelt. Daraus ergibt sich ein für die Grundrechte in der EU
gefährliches Spannungsverhältnis von nationalen und europäischen Ebenen der
polizeilichen Tätigkeit, das wir im folgenden an einer Reihe von Beispielen
zeigen wollen:
Von der Grenzpolizei zum EU-Grenzschutzkorps
Im Schengener Durchführungsübereinkommen wurde erstmals festgelegt, dass die
Mitgliedstaaten die Überwachung der Außengrenzen nach gemeinsamen Standards zu
vollziehen haben. Diese Standards sind im Abkommen selbst nur sehr allgemein
gehalten. Sie wurden vielmehr durch die Exekutive, genauer gesagt: durch die
entsprechende Arbeitsgruppe - früher des Schengener Exekutivausschusses und
heute des Rates - näher definiert. Die Ausführung obliegt den jeweiligen
nationalen Grenzbehörden. Europäisch ist daran u.a. der Datenbestand des SIS,
das bei der Kontrolle zum Einsatz kommt. Die nationale Grenzpolizei des einen
Mitgliedstaates führt damit Beschlüsse zur Abweisung an den Grenzen aus, die ein
anderer Mitgliedstaat getroffen hat.
Gemeinsam wird evaluiert, ob ein Staat die notwendigen Voraussetzungen für die
Umsetzung der Kontrollstandards erfüllt. Solche gemeinsamen Evaluationen gab es
zunächst 1994 vor der Inkraftsetzung des Abkommens und dann wieder 1997.
1998 wurde dann eine ständige Arbeitsgruppe Evaluation gebildet, die diese
Prüfung übernimmt. Faktisch bedeutet das, dass die Mechanismen der Kontrolle und
Überwachung der Grenzen ständig hochgeschraubt werden. So hat die Evaluation
1997 zwar ergeben, dass eine vollständige Abdichtung der Grenzen nicht möglich
sei. Daraus wurde aber nicht der Schluss gezogen, eine liberalere
Einwanderungspolitik zu empfehlen und vor allem den Sans-papiers - jenen also,
die es über die Mauern der Festung geschafft haben, in deren Innern aber
rechtlos sind - Rechte zu geben. Im Gegenteil die zuständige Arbeitsgruppe
forderte mehr Personal und mehr Technik einzusetzen, damit man sich den
unhaltbaren Standards möglichst annähert.
Im März 2001 verkündete der deutsche Innenminister Otto Schily seine Forderung
nach einem EU Grenzschutzkorps. Dieser Plan wächst und gedeiht, was u.a. an dem
Grenzschutzplan sichtbar ist, den der Rat nach dem Gipfeltreffen in Sevilla
erstellt hat. Vorerst werden alle Maßnahmen in diese Richtung unterhalb der
Ebene gehalten, die die Schaffung eines europäischen Rechtsaktes erfordern
würde. So sollen gemeinsame grenzpolizeiliche Ermittlungsgruppen entstehen,
grenzpolizeiliche Verbindungsbeamte in Drittstaaten entsandt, gemeinsame groß
angelegte gezielte Kontrollaktionen auf bestimmten Einwanderungsrouten
durchgeführt, eine grenzpolizeiliche schnelle Eingreiftruppe aufgebaut werden
etc. Das Grenzschutzkorps wird also in einzelnen multilateralen Bestandteilen
aufgebaut und anschließend zu einem ganzen zusammengefasst.
Eine parlamentarische Diskussion und damit eine öffentliche Debatte dazu wird
systematisch vermieden. Am Ende wird das ganze rechtlich in Form eines
europäischen Rechtsaktes gegossen.
Grenzenloser Datenaustausch
Zweites Beispiel: Das Handeln der Polizei in Fragen der "öffentlichen Ordnung"
scheint sich kaum zu europäisieren. Demonstrationen oder andere Massenereignisse
wie etwa Fußballspiele finden an einem festgelegten Ort statt. Eine
grenzüberschreitende Zusammenarbeit scheint hier nur dann eine Rolle zu spielen,
wenn der Ort in Grenznähe liegt. Spätestens die Erfahrungen mit den
Demonstrationen in Göteborg und Genua haben uns eines besseren belehrt.
Die europäische Kooperation auf diesem Gebiet begann aber bereits in den späten
1980er Jahren. Schon zur Fußball-Europameisterschaft 1988 in Deutschland
entsandten Polizeibehörden aus den TREVI-Mitgliedstaaten ihre Verbindungsbeamten
und Szenekenner, die die Polizei vor Ort mit Rat und Tat und Daten über
eventuelle Hooligans unterstützen sollte. 1996 wurden die Formen der
Zusammenarbeit im Schengener Rahmen durch ein "Handbuch" für Fragen der
"öffentlichen Ordnung" zusammengefasst, 1997 folgte auf EU-Ebene eine
"gemeinsame Maßnahme", die den Inhalt des Schengener Handbuchs fast wörtlich
wiedergab. Danach sollten in jedem Mitgliedstaat nationale Kontaktstellen
eingerichtet werden. Deren Aufgabe ist es, im nationalen Rahmen Informationen
und Einschätzungen über die Gruppen zusammenzutragen, die zu einem bestimmten
Ereignis reisen. Es soll über Zahl der Personen, Reisewege und Zwischenstopps,
Fahrzeuge, vermutete Gefährlichkeit der Personen etc. informiert werden Die
Daten sind an die Kontaktstelle jenes Staates weiterzugeben, in dem das Ereignis
stattfindet. Die Präsenz von Verbindungsbeamten der Polizeien oder
"Sicherheitsdienste" vor Ort ergänzt das ganze. Nach den Protesten in Göteborg
hat der Rat diese Maßnahme noch einmal bestätigt. Derzeit sitzt eine
Arbeitsgruppe daran, für den speziellen Fall der Gipfeltreffen eine
detailliertere Konzeption auszuarbeiten. Der Austausch von Daten findet bisher
zum großen Teil über Listen statt. National haben die Polizeien ihre Daten
zusammengestellt, um "gefährlichen" Personen die Ausreise zu verbieten.
Demnächst werden wir Listen und eventuell zusätzlich Einträge im SIS über
violent troublemakers, im nicht-polizeilichen Jargon Globalisierungskritiker,
haben. Faktisch sind die solchen Listen zu Grunde liegenden
Gefährlichkeitsvermutungen der Polizei kaum gerichtlich zu widerlegen.
Sie reichen aber, um den betroffenen Personen das Recht auf Versammlungsfreiheit
und natürlich auch die Bewegungsfreiheit in der EU zu entziehen. Die
Arbeitsgruppe plant, in Zukunft auch EUROPOL eine Funktion in diesem Spiel zu geben.
Dies war bisher nicht möglich, da EUROPOL nur eine Zuständigkeit hat, wenn eine
kriminelle oder terroristische Organisationsstruktur vermutet wurde. Jetzt soll
das Europäische Polizeiamt insbesondere bei der Nachbereitung und Auswertung der
Ereignisse mithelfen. Dies dürfte wohl auch implizieren, dass entsprechende
Datensammlungen angelegt werden.
Grenzüberschreitende verdeckte Ermittlungen
Was Europäisierung bedeutet, lässt sich drittens an der Praxis der
"kontrollierten Lieferung" vor allem von illegalen Drogen zeigen. Diese Methode
der verdeckten Ermittlung ist sehr jung. Sie wurde von den westeuropäischen
Polizeien und Zollbehörden erst ab Mitte der 1980er Jahre angewandt und zeigt
deutlich die Veränderung der Kriterien polizeilicher Arbeit. Bis zu diesem
Zeitpunkt bestand der Erfolg polizeilichen Handelns vor allem in der
Realisierung einer möglichst großen Sicherstellung. Die jeweilige Behörde konnte
sich x Kilo Kokain auf die Fahnen oder in die Presseerklärung schreiben. Sowohl
der Erfolg als auch die vorangehende Ermittlungsarbeit inkl. des eingesetzten
Scheinaufkäufers oder Informanten waren national begrenzt. Die kontrollierte
Lieferung dagegen ist nur möglich bei grenzüberschreitender Kooperation. Sie
besteht darin, dass ein Drogentransport eben nicht sofort beschlagnahmt und die
betreffenden Personen festgenommen werden. Vielmehr lässt die Polizei den
Transport unter Observation auch über Grenzen hinweg weiterlaufen bis zum
Bestimmungsort und wartet auch dann zu, bis sich Käufer finden oder weitere
Personen der vermuteten Organisation auftauchen. Das Ziel ist also nicht ein
nationales, man teilt den Erfolg.
Auf der Strecke bleibt dagegen der rechtsstaatliche und faire Strafprozess. In
der Ermittlungsakte taucht dann bestenfalls ein Hinweis darauf auf, dass eine
ausländische Polizeibehörde oder eben EUROPOL einen Tipp gegeben hatte, dass am
bestimmten Tag an einem bestimmten Ort eine Person mit einer bestimmten Menge
illegaler Drogen auftaucht. Für niemanden ist im Nachhinein nachvollziehbar, ob
die Beschlagnahme, die am Ende eines längeren Lebensachverhaltes stand, Produkt
einer über mehreren Grenzen hinweg erfolgten kontrollierten Lieferung war. Den
Ermittlungsakten wird man ebenfalls nicht ansehen, wie die Polizei in dem Land,
von dem die Lieferung ihren Ausgang nahm, zu ihrem Verdacht kam, ob ein
verdeckter Ermittler in die Tätergruppe eingeschleust wurde oder ob gar eine
Schein- Nachfrage - klarer gesagt: eine Tatprovokation - am Anfang des
Transportes stand. Letzteres hätte nach der Rechtsprechung des Europäischen
Menschengerichtshofes in Straßburg nämlich zu Folge, dass der staatliche
Strafverfolgungsanspruch erlischt. Durch mangelhaft dokumentierte und
intransparente Zusammenarbeit der Polizei über Grenzen hinweg werden gegen eine
Vielzahl von Personen Beweise für Strafverfahren gewonnen und produziert, ohne
dass dies später von den Beschuldigten und Angeklagten oder ihren Verteidigern
oder den Gerichten als solches erkannt und mindestens bei der Strafzumessung
berücksichtigt werden kann. Die Rolle von EUROPOL war von Anfang an darauf
ausgelegt, in derartigen grenzüberschreitenden verdeckten Operationen eine
koordinierende Rolle zu spielen. Dies ist der Sinn der Stationierung von
Verbindungsbeamten unter einem Dach. Sie sollen schnell einen Draht zwischen den
zu beteiligenden Stellen der Mitgliedstaaten herstellen und erhalten dadurch
nicht nur eine koordinierende sondern dirigierende Rolle - bis hin u.U. zur
Auswahl des Zielortes einer Drogenlieferung, zu dem, was man Forum-Shopping
nennen kann. Die Polizei sucht den Ort als Festnahme und damit voraussichtlichen
Gerichtsort aus, in dem die strafprozessualen Standards für sie möglichst
günstig sind. Die Justiz wird damit zu einem Anhängsel der Polizei.
Dasselbe gilt für die "bloße" Erhebung und Weitergabe von Daten. Besonders fatal
ist dabei, dass die EUROPOL-Konvention das Datensammeln in sehr vielfältiger
Weise (auch von Betroffenen, Zeugen etc.) erlaubt, ohne dass ein wirksames
Kontroll- und Datenschutzinstrumentarium geschaffen wurde. Die Daten, die im
Zuge einer "operativen Analyse" von EUROPOL gesammelt werden, sind
EUROPOL-Daten, d.h. nur für die an einer Analysegruppe beteiligten EUROPOL- und
nationalen Beamten zugänglich. Sie beeinflussen Strafverfahren, können aber
selbst nicht gerichtlich kontrolliert werden. In der EUROPOL-Konvention hat man
sich dazu eines Taschenspielertricks bedient: Das Erheben und die Weitergabe von
Daten gilt dort nicht als Grundrechteingriff. EUROPOL ist also als Datenzentrale
längst "operativ" tätig, auch wenn es noch nicht unmittelbar in sichtbare
Ermittlungshandlungen - in Festnahmen, Durchsuchungen, Vernehmungen etc. -
eingreift.
Das Amt ist mit seiner intransparenten Tätigkeit gefährlich für die
gesellschaftliche Entwicklung in den EU-Staaten. Dies gilt nicht nur dort, wo
EUROPOL mit personenbezogenen Daten arbeitet, sondern auch wo es nur Berichte
und "Strategische Analysen" zur Kriminalitätslage erstellt. Denn warum mit
welchen Mitteln eine Gesellschaft oder ein Verbund von Gesellschaften gegen
welche Form von unterschiedlich zu definierender Kriminalität vorgeht, ist eine
grundlegende demokratisch zu entscheidende Frage. Im Zeitalter von polizeilichen
Zentralbehörden in Europa und in den Nationalstaaten wird diese Diskussion immer
weniger öffentlich und demokratisch geführt. Vielmehr gibt die Exekutive mittels
ihrer Analysen und Lagebilder Vorgaben, die in der späteren Diskussion nur
schwer zu entkräften sind.
Exkurs: Neue Qualität in der Zusammenarbeit mit den USA
Als wenn dies alles noch nicht genug Bedrohung für demokratische und
rechtstaatliche Standards in Europa wäre, droht durch die verstärkte
Zusammenarbeit und Rechtshilfe zwischen Europäischer Union und den USA nach dem
11. September 2001 neues Unheil. Die Kooperation reicht - wie schon bei den
Anti-Terror-Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene - weit in den
Bereich "normaler" Kriminalität. Der Datenaustausch, in der Regel eine aus
Europa hinausführende Einbahnstraße, soll intensiviert werden. Der Datenschutz
geht auf dem Weg über den Atlantik vollends verloren. Denn die USA praktizieren
kaum Datenschutz und eine wirksame Kontrolle ist gegen die übermächtigen
Sicherheitsapparate dort nicht durchsetzbar. Die polizeiliche Zusammenarbeit mit
EUROPOL soll ausgebaut werden. Schließlich soll die Rechtshilfe vereinfacht
werden. Die Folgen werden nicht nur für die Betroffenen, sondern für die
Rechtskultur in Europa fatal sein. In den USA werden Bürger- und
Beschuldigtenrechte derzeit auf breiter Front abgebaut. Es droht daher ein
Absinken auch der europäischen Standards. Last but not least: Die europäischen
Staaten haben die Todesstrafe aus guten Gründen abgeschafft. Rechtshilfe mit den
USA, vor allem im Terrorismusbereich, wird zukünftig immer die Gefahr mit sich
bringen, Beihilfe zum staatlichen Morden zu leisten.
Feindbildproduktion
Feindbilder und Bedrohungsszenarien haben für staatliche Gewaltapparate - für
Militär, Polizei und natürlich auch für die Geheimdienste - von jeher eine
zentrale Bedeutung gehabt. Sie legitimieren nicht nur ihre Existenz schlechthin,
sondern auch die Aufrechterhaltung einer besonderen Wachsamkeit und
Abwehrbereitschaft, selbst in Zeiten der Normalität.
Staatliche Gewaltapparate leben einerseits von Feindbildern, andererseits
reproduzieren sie diese durch ihr Handeln.
Feindbild Organisierte Kriminalität
Zentraler Bezugspunkt der Politik Innerer Sicherheit - sowohl im nationalen als
auch im europäischen Rahmen - war seit Mitte der 1980er Jahre die Bekämpfung des
Drogenhandels und der so genannten organisierten Kriminalität. Die US-Regierung
unter Ronald Reagan erklärte erstmals 1986 und wiederholt 1989 den "War on
Drugs", den sie in Panama und Kolumbien auch tatsächlich mit militärischen
Mitteln führte. Wie so oft strahlte der Diskurs der US-Sicherheitsbehörden nach
Westeuropa aus. Der europäische Binnenmarkt und damit die Aufhebung der
Kontrollen an den Binnengrenzen - so konnte man es hunderte von Malen in
ministeriellen und polizeilichen Publikationen lesen - würden aus Europa ein
"Mekka der organisierten Kriminalität" machen, ein Raum, in dem Drogen frei und
unkontrolliert über die Grenzen schwappen würden.
Drogen und organisierte Kriminalität sollten nicht nur den Aufbau von EUROPOL
rechtfertigen, sondern spielten auch im Zusammenhang der Schengen-Kooperation
eine bedeutende Rolle. Die Schengener Floskel - keine Aufhebung der Grenzen ohne
Ausgleichsmaßnahmen für den "Sicherheitsverlust" - wirkt bis heute wie ein
perpetuum mobile und ist darüber hinaus im Schengen-Protokoll des Amsterdamer
Vertrages auch rechtlich verankert.
Der Hinweis auf angebliche oder wirkliche kriminelle Organisationsstrukturen,
der in der Aufgabennorm der EUROPOL-Konvention festgeschrieben ist, ist so platt
wie unkonkret: Jede Form des illegalen Handels ist per Definition organisiert.
Aus diesem Grunde lässt sich das Konstrukt der organisierten Kriminalität auch
ständig auf neue Bereiche ausdehnen. Bereits 1995 und 1996 erhielt die
EUROPOL-Drogen-Einheit Zuständigkeiten für Fragen der Kraftfahrzeugverschiebung,
des Menschenhandels (trate de blancas), des Handels mit radioaktiven Substanzen
und der Einschleusung von Migranten. Der Name der Einheit blieb absurderweise
bis 1999 erhalten. Die Warnung vor Schleuserbanden rechtfertigte darüber hinaus
auch die restriktive Einwanderungs- und Asylpolitik sowie den Versuch, die
Grenzen abzuschotten. Die Kriminalisierungsspirale nahm der Politik die Aufgabe
ab, für die zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Probleme tatsächlich
politische Konzepte zu suchen.
Feindbild Terrorismus
Seit dem 11. September 2001 ist das Thema Terrorismus definitiv zurück auf der
Bühne der EU-Politik der Inneren Sicherheit. Schon eine Woche nach den
Anschlägen in den USA präsentierte die EU-Kommission die Vorschläge von
Rahmenbeschlüssen für eine gemeinsame Terrorismus- Definition und den
EU-Haftbefehl. Am 20. September trafen sich die Innen- und Justizminister der
EU. Als Ergebnis dieser Sitzung entstand ein "Anti-Terror-Fahrplan" (terrorism
roadmap) von 64 Projekten, die seither Stück für Stück abgearbeitet werden.
Ständig kommen neue Einzelvorschläge hinzu, die - wie die Schaffung einer
Visumsdatei, der Europäische Haftbefehl u.ä. - mit der Terrorismus- Bekämpfung
im eigentlichen Sinne definitiv nichts zu tun haben, sich aber mit dem Hinweis
auf die Gefahr des Terrorismus ohne viel Widerstände durchsetzen lassen. Der im
Juni 2002 in Kraft getretene Rahmenbeschluss für eine EU-Terrorismus- Definition
ist auch nach den Korrekturen, die die Minister nach Protesten von
Bürgerrechtsorganisationen einfügten, so ausgestaltet, dass damit nicht nur
Anschläge, Entführungen oder ähnliche Handlungen betroffen sind, die im
allgemeinen als "terroristische Straftaten" verstanden werden.
Tatbestandsmerkmale wie "Einschüchterung der Bevölkerung" oder das rechtswidrige
Nötigen "öffentlicher Stellen oder internationaler Organisationen", etwas zu tun
oder zu unterlassen, können problemlos auch bei Streiks oder militanten
Straßenprotesten erfüllt sein. Zum Deliktkatalog gehören denn auch
"schwerwiegende Beschädigungen ... an öffentlichen Plätzen ..., die
Menschenleben gefährden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen
können".
Auch an anderen Maßnahmen ist zu erkennen, dass der Terrorismusbegriff in der EU
nach dem 11. September einmal mehr zu einem Instrument der Kriminalisierung
sozialer Proteste geworden ist. Der Einflussbereich der Geheimdienste im Rahmen
der Arbeitsgruppen der Dritten Säule der EU wurde massiv ausgedehnt. Neue
Gremien ohne jegliche rechtliche Grundlage wie die Task Force der Geheimdienste
entstanden, andere wie die Task Force der Polizeichefs sollen durch die
Terrorismusbekämpfung einen nachträglichen rechtlichen Segen erhalten. Die EU
trägt nicht nur die rein administrative Stempelung von Organisationen und
Einzelpersonen als terroristisch mit erheblichen Konsequenzen (Einziehung des
Vermögens, kein Asyl ...), wenn sie auf Grund der UNOListe oder besser gesagt:
auf USDruck erfolgt. Sie produziert auch eigene Listen. Während die von den
Mitgliedstaaten verabschiedeten neuen Terrorismusgesetze immerhin auf einen wenn
auch noch so schwachen Protest in der nationalen Öffentlichkeit stießen, wurden
die Maßnahmen und Beschlüsse auf EU-Ebene oftmals gar nicht zur Kenntnis
genommen. Zwischenfazit: Die permanente Produktion von überzogenen Feindbildern
und Bedrohungsvorstellungen schafft Angst und immunisiert Gesellschaft und
Politik gegen politische Veränderungen. Polizei- und Sicherheitspolitiker
erteilten sich selbst den Auftrag zur permanenten Verteidigung des Status quo.
Die neuen Eingriffskompetenzen führen zu einer von tatsächlichen Voraussetzungen
und tatsächlichen nachweisbaren konkreten unmittelbaren Gefahren unabhängigen
permanenten Ausübung von polizeilicher und geheimdienstlicher Macht.
Und alles wird besser?
Im Rahmen der Diskussionen innerhalb des europäischen Konventes zeigte sich,
dass es im Gesetzgebungsverfahren innerhalb der so genannten Dritte Säule neben
der bisherigen zwischenstaatliche Zusammenarbeit andere Formen geben wird, die
in Richtung einer Vergemeinschaftung zielen. Allerdings sind die Diskussionen
noch nicht abgeschlossen, ein endgültiger Entwurf liegt noch nicht vor. In der
zu schaffenden europäischen Verfassung wird es einen Grundrechtekatalog und
möglicherweise auch einen entsprechenden Rechtsweg geben. Die Frage ist, ob das
Recht, hier das Verfassungsrecht, die laufenden Entwicklungen und die zunehmende
Dominanz der Exekutive zügeln kann.
Auf den ersten Blick scheint die Zukunft ein größeres Gewicht für das
Europäische Parlament zu bringen. Bei der strafrechtlichen Zusammenarbeit soll
es teilweise ein so genantes Mitentscheidungsverfahren geben. Entsprechende
Beschlüsse könnten dann in Zukunft nicht mehr vom Rat alleine getroffen werden.
Das würde sich gut anhören, wenn man nicht das "Kleingedruckte" berücksichtigt.
Operative Fragen, d.h. alles was mit der tatsächlichen Aktivität der
europäischen Polizeien zu tun hat, werden von den allgemeinen politischen Fragen
getrennt. Anders ausgedrückt: Das Europäische Parlament hatte bisher nichts zu
sagen, wenn es um den Aufbau der entsprechenden Institutionen ging. Auch in
Zukunft wird das Parlament über die Praxis dieser Polizeibehörden nicht zu
entscheiden haben. Selbst wenn die Rechte des Parlamentes größer werden, ist es
fraglich, ob das Europäische Parlament eine tatsächliche Kontrollfunktion
wahrnehmen könnte. Den Exekutiven geht es heute vor allem darum, langatmige
Entscheidungs- und Ratifizierungsprozesse zu verkürzen, völkerrechtliche
Verträge durch schnell änderbare Verordnungen und Richtlinien zu ersetzen und so
auch bei demnächst 25 Mitgliedstaaten eine schnelle Entwicklung zu ermöglichen.
Das Europäische Parlament wird bei der erwartbaren Masse von Entscheidungen
überfordert sein, die Qualität seiner Äußerungen lässt bereits heute viel zu
wünschen übrig. Die nationalen Parlamente spielen auch jetzt kaum mehr eine
wirkliche Rolle. Ob die Gerichte den zunehmenden Einfluss von Geheimdiensten und
Polizeien und den zunehmenden Einsatz geheimdienstlicher Mittel im
Strafverfahren kontrollieren können, ist angesichts der einschlägigen Erfahrung
in nationalen Strafverfahren äußerst fraglich. Angesichts dieser recht düsteren
Aussichten kommt der europäischen Öffentlichkeit eine ungeheuer bedeutende Rolle
zu. Es wäre daher zu wünschen, wenn aus dem losen Netzwerk von Bürgerrechts- und
Juristenorganisationen in den einzelnen Nationalstaaten und den vorsichtigen
Ansätzen einer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene in den nächsten Jahren
tatsächlich eine europäische Teilöffentlichkeit geschaffen würde.
Diese müsste das Treiben der europäischen Exekutive kritisch beleuchten und
anprangern. Nur die stetige Aufklärung der Öffentlichkeit über die Arbeit von
Polizei und Geheimdiensten wird dann wiederum die nationalen und europäischen
Parlamente und die Gerichte dazu bringen, ihrerseits parlamentarische und
justizielle Kontrolle wirksamer auszuüben.
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gipfelsoli infogruppe
Die AutorInnen der Beiträge, so sie nicht von uns verfasst sind, sind
mit eckigen Klammern versehen. Wir können leider keine Verantwortung
für die Richtigkeit der Beiträge übernehmen. Auch geben die Beiträge
nicht zwangsläufig unsere Meinung wieder.
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