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Berlin: 133. Prozesstag | Amnesie und Aphasie - in Sachen Sprengstoff

Das ärztliche Attest über den Gesundheitszustand eines ehemaligen Richterkollegen des 2. Strafsenats
des Kammergerichts Berlin, das am 132. Verhandlungstag zur Verlesung kam, hätte durchaus als
zusammenfassendes Motto dieses Hauptverhandlungstermins, wie überhaupt des ganzen Verfahrens
dienen können. In diesem Fall kam es einmal quasi amtlich: Der Richter, der zu den Aussagen des
Kronzeugen Mousli in dessen Prozess im Dezember 2000 hätte befragt werden sollen, kann zur
Wahrheitsfindung nichts mehr beitragen, da er an Altersamnesie (Gedächtnisschwund) und Aphasie
(Verlust des Sprachvermögens bzw. -verständnisses) leide. Amnesie und Aphasie herrschen - so
zumindest der Eindruck nach über zwei Jahren Prozessdauer - nicht nur bei diesem Richter a.D.,
sondern auch bei vielen Vertretern und Vertreterinnen der Ermittlungsbehörden - vor allem, aber nicht
nur, in allen Dingen, die mit Sprengstoff in Verbindung stehen.


Konkretes Anschauungsmaterial für den Erkenntnisgewinn
Und genau diese Vorgänge standen dann auch im Zentrum von fünf Beweisanträgen, die von der
Verteidigung der Angeklagten Matthias B. und Harald G. gestellt wurden. In vier der fünf Anträge ging
es um den Sprengstoff der Marke Gelamon 40, der laut Anklage 1987 aus einem Steinbruch in
Salzhemmendorf entwendet wurde und danach bei zahlreichen Anschlägen der RZ zur Verwendung
kam. Teile des Diebesguts sollen dann 1995 aus dem Keller des Kronzeugen Tarek Mousli in Berlin-
Prenzlauer Berg gestohlen worden sein und wurden kurz darauf bei dem Berliner Kleinkriminellen
Daniel S. sichergestellt. Erst 1997 will man dann im Bundeskriminalamt (BKA) festgestellt haben, dass
der bei Daniel S. gefundene Sprengstoff "RZ-Relevanz" habe, woraufhin Ermittlungen begannen, die
später zu Mousli führten. Der wiederum will bereits im Frühjahr 1995 Reste des Sprengstoffs in einem
Seegraben im Norden Berlin entsorgt haben, die dann - nach mehrmaliger erfolgloser Suche, etwa 70
Meter von der angeblichen Einwurfstelle entfernt, entgegensetzt der Fliesrichtung des Gewässers, hinter
einem Wehr - kurz nach seiner Haftentlassung im Juli 1999 dort gefunden wurden.
Mousli behauptet, das Paket sei sofort untergegangen. Danach will er bei mehreren Besuchen den in
einem blauen Müllsäcke wasserdicht verpackten Sprengstoff am Grund liegen gesehen haben. Das
Auftriebsvolumen dieses Pakets aus 24 Stangen Gelamon 40 mit einem Gewicht von rund fünf
Kilogramm war bereits mehrere Male Gegenstand in diesem Verfahren; bislang konnte sich das Gericht
allerdings nicht der Auffassung anschließen, dass dieses Paket in unbeschädigtem Zustand nicht gleich
gesunken sein kann. Deshalb beantragte die Verteidigung von Matthias B. nun, dass der BKA-
Gutachter Dr. Kolla, der bereits mit mehren Gutachten in dieser Sache in Erscheinung getreten ist, mit
dem Nachbau dieses Sprengstoffpaket beauftragt werden soll, um zu überprüfen, ob und wann es sinkt.
Nach Auffassung der Verteidigung werde sich dabei herausstellen, dass das "Paket, wenn es nicht
eingerissen ist, mindestens mehrere Wochen an der Oberfläche schwimmt". Vor dem Hintergrund
anderer Gutachten, die im Lauf des Verfahrens eingebracht wurden, wäre damit allerdings bewiesen,
dass Mousli das Paket erst unmittelbar nach seiner Haftentlassung im Juli 1999 im Seegraben versenkt
haben kann - und nicht, wie von ihm behauptet, bereits 1995. Der Zustand des geborgenen
Sprengstoffs ("nass, aber weitgehend erhalten"; Nachweis von chemischen Inhaltsstoffen, die laut
Gutachten innerhalb eines Zeitraums von ca. 25-47 Tagen durch das eindringende Wasser aufgelöst
wären ...) passt nämlich unter diesen Umständen auf keinen Fall zu einer Liegezeit von mehr als vier
Jahren oder in den Worten der Verteidigung: "ist mit dem bisherigen Beweisergebnis allein der
Sachverhalt vereinbar, dass der Zeuge Mousli das Sprengstoffpaket relativ kurze Zeit vor dem
24.8.1999 unter Aufreißen der Verpackung im Seegraben versenkt hat."


Was wusste das Bundesamt für den Verfassungsschutz?
Von der Zeugenladung des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) erwarten sich die
AnwältInnen von Matthias B. darüber hinaus Aufklärung, wie es dazu gekommen ist, dass das 1995 bei
Daniel S. gefundene Gelamon 40 erst im Herbst 1997 als Sprengstoff eingeordnet wurde, der im
Zusammenhang mit den RZ steht. Angeblich hat es 1995 einen Abgleich mit entsprechenden BKA-
Erkenntnissen gegeben, die aber keine Auskunft darüber gaben, dass Gelamon 40 immer wieder bei
Anschlägen benutzt und in Depots der RZ gefunden worden war. Erst in Vorbereitung auf den Prozess
gegen die angebliche RZ-Militante Corinna Krawaters sei dieser Zusammenhang bekannt geworden.
Die Verteidigung erwartet von BfV-Chef Auskunft darüber, dass 1994/95 von seinem Dienst
Anstrengungen unternommen wurde, mit Haftbefehl gesuchten angebliche RZ-Militante
Rückkehrangebote zu unterbreiten. In Zusammenhang mit diesen Rückkehrangeboten sei auch Mousli in
operative Maßnahmen des BfV eingebunden gewesen. Um diese Maßnahmen nicht zu gefährden habe
der BfV Einfluss auf die polizeilichen Ermittlungen nach dem Sprengstofffund bei Daniel S. genommen,
mit dem Ergebnis, dass die Ermittlungen erst nach Abschluss dieser operativen Maßnahmen wieder
aufgenommen werden konnten.
Auskunft erwartet die Verteidigung von dem Zeugen auch über einen Informanten des
Verfassungsschutzes, der mindestens in der Zeit von 1983 und 1995 Informationen über die RZ
gesammelt und an den Geheimdienst weitergeleitet hat. Die Verteidigung geht davon aus, dass es sich
bei diesem Spitzel um den Mann handelt, der laut "The Times" vom 8.1.2001 als "Officer of the German
Intelligence Service, The Bundesamt für Verfassungsschutz" zwischen 1994 und 1996 in die nordirische
Guerilla "Irish National Liberation Army" (INLA) eingeschleust worden war. Über diesen Informanten
sei, so die Verteidigung, der BfV in Kenntnis gesetzt worden, dass Gerd Albartus zu keiner Zeit
Mitglied der Berliner RZ gewesen sei, dass Barbara W. die Schüsse auf die Beine von Harald
Hollenberg abgegeben habe und dass Mousli selbst das Motorrad beim Knieschussanschlag auf
Günther Korbmacher gefahren habe. Insofern würde der Zeuge bestätigen, dass Mouslis "nach den
Erkenntnissen des BfV weder gegenüber den Ermittlungsbehörden noch gegenüber den Diensten
umfassend und wahrheitsgemäß ausgesagt hat".


Woher kam und wo überall war Gelamon 40?
In ihrem dritten Antrag verlangte die Verteidigung von Matthias B. die Ladung eines ehemaligen
Polizisten, der 1995 im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Daniel S. Erkundigungen zu dem bei
ihm gefunden Sprengstoff bei der Herstellerfirma des Gelamon 40 anstellte, und zweier Mitarbeiter
dieser Firma. Durch die Befragung dieser Zeugen wird sich nach Auffassung der Verteidigung ergeben,
dass der bei Daniel S. sichergestellte Sprengstoff nie nach Salzhemmendorf geliefert wurde, wo 1987
Sprengstoff der Marke Gelamon 40 entwendet worden war, sondern an so genannte
Sonderbedarfsträger (Nationale Volksarmee der DDR bzw. Ministerium für Staatsicherheit) gegangen
ist, "demnach plausibel ist, dass der Zeuge Mousli Kontakte zu solcher Art Dienste hatte", die von ihm
bislang bestritten wurden.
Um Gelamon 40 ging es auch bei den zwei Anträgen der Verteidigung von Harald G., die erneut einem
akuten Fall von Amnesie und Aphasie bei den leitenden Ermittlungsbeamten des BKA in Sachen RZ auf
die Spur gekommen war. In VS-Unterlagen hatten die Anwältinnen den Hinweis auf einen Gelamon-40-
Fund entdeckt, der den Prozessbeteiligten bislang vorenthalten wurde. In den Akten, aber auch in der
Hauptverhandlung wusste das BKA über Gelamon 40, das den RZ zugeordnet wurde, bislang immer
nur in Verbindung mit dem Diebstahl in Salzhemmendorf (1987), mit Anschlägen in Braunschweig
(1988), Düsseldorf (1991), Berlin (1991) und den Depots in Bielefeld (1988), Duisburg (1992) zu
berichten. Laut VS allerdings gab es noch einen weiteren Sprengstofffund in Kempen (NRW) 1998:
Quelle BKA, ST 13 - also die Abteilung, in der die bereits mehrfach vernommenen BKA-Beamten
Schulzke und Trede arbeiten. Das alles war für die Verteidigung Anlass genug, die erneute
Zeugenladung der beiden BKA-Beamten und die Beiordnung aller BKA-Unterlagen sowie der
ungeschwärzter Akten der Verfassungsschutzämter, die Erkenntnisse zu Mousli beinhalten, zu verlangen.


Unerheblich und bereits bewiesen
Während die Verteidigung wie gewohnt alles versucht, um Licht ins Dunkle zu bringen, gab der Senat
erneut beredetes Beispiel, was er davon hält. Als "völlig ungeeignetes Beweismittel", da aus "sicherer
Lebenserfahrung sich der Beweis nicht erbringen" ließe oder weil "die in das Wissen der Zeugen
gestellten Tatsachen bereits beweisen" seien, wurde eine Beweisantrag im Zusammenhang mit der
angeblichen konspirativen Wohnung in der Oranienstraße 7 oder 9 abgewiesen. Zudem gab sich der
Senat sicher: Mousli "ist einer Verwechslung unterlegen". Der langjährige Bewohner der Oranienstraße
45 habe einfach, so das Gericht, eine Wohnung am Oranienplatz mit den Objekten am südöstlichen
Ende der Oranienstraße verwechselt. Auch hier ein Fall von Amnesie? Fragt sich nur bei wem.
Der vorletzte Verhandlungstag vor der Sommerpause findet am Freitag, 4. Juli zur gewohnten Zeit -
9.15 Uhr - statt.


 

01.07.2003
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