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Berlin: Weinrich-Prozess: 22. Verhandlungstag

Bundesinnenministerium, BKA und Verfassungsschutz: Schwarze Löcher für Stasi-Akten

Ehemaliger MfS-Major sagt im Weinrich-Prozeß aus

Helmut Voigt, heute als Ingenieur tätig, war Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre Leiter der Abteilung XXII/8 ("Terrorismusabwehr") des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR.

Mitglieder der "Organisation Internationaler Revolutionäre", besser bekannt als Carlos-Gruppe (MfS-Deckname "Separat") hielten sich zwischen 1979 und 1984 zeitweise in Ost-Berlin auf.

Kontakte zwischen der Gruppe und dem MfS liefen hauptsächlich über Weinrich ("Weil er deutsch sprach").

Voigt wurde, ebenso wie Weinrich, wegen angeblicher Beteiligung am Anschlag 1983 auf das Maison de France, rechtskräftig verurteilt. Weinrich zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld, Voigt zu vier Jahren Haft.

Am heutigen 22. Verhandlungstag war Voigt als Zeuge geladen. Er bekundete, daß die ersten Kontakte über palästinensische Gruppen wie die Fatah Jassir Arafats zustande gekommen seien und Mitglieder der Carlos-Gruppe auch mit syrischen Diplomatenpässen in die DDR eingereist seien. Da die DDR seinerzeit gute Beziehungen zu Syrien unterhielt, war man beim MfS darauf bedacht, diese Beziehungen nicht zu stören. Dies sei ein Grund gewesen, mit der Carlos-Gruppe vorsichtig umzugehen. Interesse bestand auch in der "Abschöpfung" von Informationen über den "internationalen Terrorismus". In erster Linie jedoch war man bereit, der Gruppe zeitweise Aufenthalt zu gewähren, um sicherzustellen, daß sie keine "Aktivitäten" gegen die DDR oder befreundete Staaten unternehmen. Bedingungen hierfür waren, daß vom Territorium der DDR aus keine Aktionen gegen andere Staaten gestartet wurden und ein unauffälliges Verhalten während der Aufenthalte. Den Mitgliedern der Carlos-Gruppe wären Zimmer in großen Ost-Berliner Hotels zugewiesen worden, Treffen hätten jedoch meist in konspirativen MfS-Wohnungen stattgefunden. Haupttätigkeitsfeld Weinrichs sei die Herstellung von Kontakten zwischen militanten Organisation bzw. die Weitergabe von Waffen an diese gewesen. So habe es beispielsweise Waffenlieferungen der Gruppe an die spanische ETA und die salvadorianische Befreiungsbewegung FMLN ("Waffen für El Salvador") gegeben. Der Sprengstofftransport 1983, der laut Urteil im Maison de France-Verfahren in West-Berlin geendet haben soll, war nach Voigts Angaben eine Verlagerung von "Logistik" der Gruppe von Bukarest über Ost-Berlin nach Damaskus, dem späteren Sitz der Gruppe.

Geändert habe sich das Verhältnis zur Gruppe 1982, als zwei Mitglieder in Frankreich inhaftiert wurden und die Gruppe eine Kampagne zu deren Befreiung startete. Entscheidendes Indiz sei ein Brief von Carlos an das französische Innenministerium gewesen, indem die Gruppe die französische Regierung aufforderte, die beiden Gefangenen freizulassen "da man nichts gegen Frankreich habe". Nachdem dieses Schreiben durch eine gezielte Indiskretion an die französische Presse gelangt sei, wurden die "Verhandlungen" abgebrochen. Konkrete Hinweise auf durchgeführte Anschläge der Gruppe habe es beim MfS nicht gegeben, Weinrich hätte allerdings Gewalt gegen französische Einrichtungen politisch verteidigt. Da unter diesen Voraussetzungen die Bedingungen des "Abkommens" mit der Carlos-Gruppe verletzt wurden, versuchte das MfS in Abstimmung mit dem ungarischen Staatssicherheitsdienst die Gruppe "Separat" rauszudrängen. Sie müssen außerdem die damalige Großwetterlage berücksichtigen. Die DDR war international nicht mehr so isoliert und wir sahen eine Gefährdung, wenn bekannt geworden wäre, wer da bei uns war", sagte Voigt.

Auf Nachfragen der Verteidigung fügte der Zeuge dann noch hinzu, daß "ein nicht unwesentlicher Aspekt" der Entscheidung, Gruppenmitglieder nicht mehr einreisen zu lassen ein abgehörtes Telefonat zwischen dem Berliner Verfassungsschutz und dem Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz war. Danach gab es einen Doppelagenten, der Weinrich in Ost-Berlin gesehen haben wollte.

Hochinteressant wurde es, als Voigt auf die Aktenlage zu sprechen kam. Hauptbelastungsmaterial in diesem Verfahren sind MfS-Aktenbände zum sogenannten "Vorgang Separat". Dort wurden alle Erkenntnisse des MfS über die Carlos-Gruppe zusammengetragen. "Das Innenministerium der DDR hat nach 1989 dem Bundesinnenministerium 15 bis 20 Bände dieses Vorgangs übergeben", so Voigt.. Die Staatsanwaltschaft hat im Maison de France-Verfahren und im jetzigen Prozeß vier Bände "Separat" vorgewiesen. Ergo sind auf dem Weg zwischen Bundesinnenministerium, BKA und Verfassungsschutz, denn überall dorthin wanderten die Akten, dreiviertel bis vierfünftel dieses brisanten Vorganges "verlorengegangen". Niemand im Gerichtssaal stellte die Frage danach, wo der Großteil dieses Materials ist oder warum es "verschwand".

Die Verteidigung machte noch einmal darauf aufmerksam, daß das vorliegende Material zum "Vorgang Separat" nicht auf rechtsstaatlichem Wege zustande gekommen sei und deshalb auch eigentlich nicht Gegenstand einer Beweiserhebung sein dürfe. "Der zunehmenden Aufhebung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten in deutschen Gerichtssälen muß entgegengetreten werden", so Verteidiger Elfferding. Es dürfe nicht dazu kommen, daß "Erkenntnisse", die juristisch nicht verwertbar seien, Grundlage für Urteile sind. Das "Erkenntnisse, die mit operativen Mitteln" (Abhören, heimliche Durchsuchungen etc.) erlangt wurden eigentlich nicht gerichtsverwertbar sind, bestätigte auch der Zeuge.

Die Frage, ob Weinrich denn wußte, daß er überwacht wurde, bejahte Voigt. Weinrich habe sich bei ihm sogar einmal darüber beschwert. Und wieso Weinrich dann belastendes Material "quasi bereit gelegt" habe, wollte die Verteidigung wissen. Da er Weinrich nicht für dumm hielte, könne er sich nur Nachlässigkeit als Erklärung vorstellen war Voigts Antwort. Genau wisse er das aber auch nicht.

Am Nachmittag wurde die Zeugenvernehmung unterbrochen und auf einen späteren Verhandlungstag zur Fortsetzung verschoben.

Nächster Termin: 07. 07., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500

 

02.07.2003
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  [Schwerpunkt: Weinrich-Prozess]  Zurück zur Übersicht

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