Gipfelinfo: Zwei Jahre Schwedisches Modell
Gipfelinfo - Meldungen über globalisierte Solidarität
und die Proteste gegen unsolidarische Globalisierung
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Repressionen går vidare - Zwei Jahre Schwedisches Modell
Am 14. Juni jährt sich zum zweiten Mal das EU-Gipfeltreffen und der
zeitgleiche Besuch des US-Präsidenten Bush im schwedischen Göteborg.
Blickt man auf den Gipfel im Juni 2001 zurück, so verblast die
Momentaufnahme des vielseitigen globalisierungskritischen Protestes
hinter dem brutalen Vorgehen der schwedischen Polizei und der
nachfolgenden Repressionswelle gegen AktivistInnen in Schweden und dem
benachbarten Ausland. Was seitens der sozialdemokratischen
Gastgeberregierung als schwedisches Modell angedacht war, nämlich ein
Deeskalationskonzept, das einen "störungsfreien" Ablauf des
Gipfeltreffens garantieren und trotzdem Platz für Proteste lassen
sollte, endete mit über 250 Verletzte und mehr als 600 Verhaftungen bzw.
Ingewahrsamnahmen, mit Schüssen auf DemonstrantInnen und mit in einer in
Schweden nie da gewesenen Repressionswelle. Auch umfasst das schwedische
Modell die Kriminalisierung der so genannten globalisierungskritischen
Bewegung bzw. die Spaltung dieser in "Gut" und "Böse" und lässt ahnen,
wie gut die Zusammenarbeit der Ermittlungs- und Strafinstitutionen auf
EU-Ebene funktioniert.
Prozesse in Schweden
Bisher sind in Schweden sechzig Urteile im Zusammenhang mit den so
genannten "Göteborg-Krawallen" gefällt worden. Die meisten Prozesse
endeten mit langen Haftstrafen bei der die durchschnittliche Haftdauer
mittlerweile bei knapp einem Jahr liegt. Nur wenige Verfahren endeten
mit Freispruch oder Einstellung.
Die ersten Prozesse gegen AktivistInnen fanden in Göteborg unmittelbar
nach dem Gipfeltreffen statt. Betroffen waren Personen, die während des
Gipfels verhaftet worden waren und zum Teil seitdem in Untersuchungshaft
saßen. Das erste Urteil wurde am 16. Juli 2001 gefällt und brachte dem
Deutschen Sebastian S. ein Jahr und acht Monate Gefängnis inklusive
einem Einreiseverbot für zehn Jahre.
Die Prozesse wurden - wie in Schweden in erster Instanz üblich - vor
Schöffengerichten verhandelt. Die harschen Urteile standen stark unter
dem Einfluss der Diffamierungen durch Medien und Regierungsstellen. Oft
nutzte die Staatsanwaltschaft die Gelegenheit und sorgte mit
Videovorführungen, die Bilder von den Krawallen zeigten, aber in keinem
Zusammenhang mit den gerade verhandelten Fällen standen, für die nötige
Stimmung. Auch machten RichterInnen keinen Hehl aus dem
Verurteilungswillen, sahen über Verfahrensfehler und Unstimmigkeiten
bei Zeugenaussagen und Beweismaterial hinweg und ließen dem
manipulativen Spiel der Staatsanwaltschaft seinen Raum.
Immer wieder tauchten in den Urteilsbegründungen politisierende Einlagen
über die vermeintliche Gesinnung der Angeklagten auf, die meist auch
eine härtere Strafe zur Folge hatten. Nicht nur deshalb sprechen
schwedische ProzessbeobachterInnen von politisch motivierten Urteilen.
Die Göteborg-Urteile stellen einen Bruch in der schwedischen
Rechtspraxis dar. War es seit Mitte der neunziger Jahre gang und gäbe,
dass Urteile für den eher seltenen "våldsamt upplopp" (gewalttätiger
Aufruhr), der schwedischen Variante des schweren Landfriedensbruchs, auf
eine Bewährungsstrafe hinausliefen, so rechtfertigt dieser Paragraph nun
langjährige Haftstrafen. Nur wenige der Anklagen im Zusammenhang mit den
Ausschreitungen hatten nicht den "våldsamt upplopp" zum Gegenstand.
Traurige Berühmtheit erlangte der Prozess gegen acht Jugendliche, die am
ersten Tag der Gipfels verhaftet und drei Monate lang in
Untersuchungshaft gesteckt wurden. Ihnen wurde vorgeworfen die
Ausschreitungen als "Verbindungszentrale" gesteuert zu haben. Die
einzigen Beweise waren zwei SMS-Nachrichten, in denen aufgerufen wurde,
den in der Hvitfeldska eingeschlossenen GenossInnen zur Hilfe zu eilen.
Ein Göteborger Schöffengericht genügte dies für eine Verurteilung zu bis
zu vier Jahren Haft. Ein einziger Empfänger einer dieser SMS-Nachrichten
konnte ermittelt werden. Er erhielt letztendlich eine Verurteilung wegen
Rädelsführerschaft, weil er durch bloßes Winken 500 AktivistInnen (!)
befehligt haben soll. Zur Zeit sitzt er immer noch seine Haftstrafe von
zwei Jahren und vier Monaten ab.
Im Januar 2002 kam es zu einer Wenden bei den Göteborg-Urteilen. Das in
Stockholm angesiedelte schwedische Oberste Gericht überprüfte erstmalig
ein im Zusammenhang mit dem EU-Gipfel gefälltes Urteil. Das Gericht
beschränkte sich darauf das Strafmaß zu überprüfen, nicht jedoch die
Beweislage und die Urteilsbegründung. In Folge dessen kam es zu mehreren
Revisionsverfahren, die damit endeten, dass viele Haftstrafen erheblich
gekürzt wurden. Gleichzeitig wurden aber auch die Urteilsbegründungen,
die stellenweise auf Falschaussagen und auf manipulierten
Beweismaterialien basieren, von höchster Instanz legitimiert. Auch kam
dieser Schwenk in der Strafbemessung für viele Verurteilte zu spät, da
er keinen Einfluss auf bereits rechtskräftig gewordene Urteile mehr
hatte.
Während die ersten Prozesse anliefen, waren Polizei und
Staatsanwaltschaft damit beschäftigt das umfangreiche Foto- und
Filmmaterial, das zum größten Teil von der Polizei aufgenommen wurde,
aber auch von JournalistInnen und Privatpersonen stammte, auszuwerten.
Hierbei kam Software zum Einsatz, die für Ermittlungen im Bereich
Kinderpornographie entwickelt wurde. So konnten Einzelpersonen trotz
Vermummung in Aufnahmen von Menschenmengen ausfindig gemacht werden.
Anhaltspunkte, nach denen die Software die Bilder absuchte, waren
Auffälligkeiten der Bekleidung, wie z.B. Schuhe, Aufnäher, auffäliger
Schmuck, aber auch eher kleinere Details wie Knöpfe, Reißverschlüsse und
Etiketten an der Kleidung oder auch das Umkrempeln der Hose.
Als Folge der Ermittlungen kam es zu einer erneuten Repressionswelle mit
mehreren Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in Schweden. Auch kam ein
weiteres Werkzeug aus dem Arsenal der EU-Strafverfolgung zum Einsatz: Im
Mai 2002, nachdem die schwedischen Ermittlungsbehörden bekannt gab, dass
die Auswertung des Filmaterials von Göteborg beendet sei, trat der
Göteborg Staatsanwalt Thomas Ahlstrand an die Öffentlichkeit und
erklärte, dass sieben Deutsche identifiziert worden seien, die nun mit
einer Anklageerhebung in ihrem Herkunftsland zu rechnen hätten. Später
kamen zu den sieben Deutschen noch Personen aus Norwegen, Finnland,
Dänemark und den Niederlanden hinzu, so dass es nun insgesamt achtzehn
Anklageerhebungen außerhalb Schwedens geben sollte. Im Sommer/Herbst
2002 kam es dann zu den ersten Hausdurchsuchungen und Vorladungen in
Deutschland.
Europäischer "Verfahrensexport"
In Berlin gab es bereits zwei Verurteilungen in Folge dieser
deutsch-schwedischen Amtshilfe. So wurde Timm E. am 27. März diesen
Jahres wegen schweren Landfriedensbruchs vom Landesgericht Moabit zu
zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Anschließend zu einer
Hausdurchsuchung in seiner Wohnung wurde Timm im Februar aufgrund
angeblicher Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen und musste dort
34 Tage verbringen. Wäre Timm von einem schwedischen Gericht verurteilt
worden, so kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass es härter
ausgefallen wäre. Vergleichbare Fälle in Schweden resultierten dort in
zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Dennoch ist dieses Urteil für Berliner
Verhältnisse hart ausgefallen. Laut Angaben von ProzessbeobachterInnen
und Timms Verteidiger sei bei dem Richter ein Verurteilungswille
erkennbar gewesen. Darüber, ob das in dem Amtshilfegesuch seitens der
schwedischen an die deutschen Ermittlungsbehörden angedeutete
öffentliche Interesse an einer Verurteilung Einfluss auf den Prozess
hatte, kann nur spekuliert werden. Fakt ist aber, dass Staatsanwalt
Ahlstrand den Deutschen die schwedische Rechtspraxis übertrieben hart
dargestellt hat. Dies musste er gegenüber schwedischen Medien einräumen.
Der zweite Prozess fand am 20. Mai wieder vor dem Landesgericht Moabit
statt. Das Urteil endete recht glimpflich: Der zur Tatzeit
siebzehnjährige Angeklagte wurde wegen Sachbeschädigung zur Teilnahme an
einem Erste-Hilfe-Kurs verurteilt. Angeklagt war er aber wegen schweren
Landfriedensbruch. Bemerkenswert bei diesem Fall ist, dass der
Verurteilte weder in Göteborg selbst noch auf der Hin- oder Rückfahrt
kontrolliert, geschweige denn in Gewahrsam genommen wurde.
In Bremen kam es im August 2001 auch zu einer Hausdurchsuchung und
Anklageerhebung, die diesen Mai mit einem Strafbefehl endete. Der
Beschuldigte wurde wegen schweren Landfriedensbruch und Körperverletzung
zu einem Jahr Haft auf drei Jahre Bewährung verurteilt.
In Deutschland kamen zu den sieben Ermittlungsverfahren bzw.
Anklageerhebungen als unmittelbare Folge der schwedischen Untersuchungen
noch weitere Verfahren hinzu. Mittlerweile sind mindestens zwölf
Personen ins Visier deutscher Ermittlungsbehörden geraten. Die
zusätzlichen Verfahren lassen sich auf Ermittlungen des
Landeskriminalamts (LKA) Berlin zurückführen, dass eigenständig die
Ermittlungen wegen Göteborg weiterführt(e). Einerseits setzten die
Ermittler bei den in Göteborg selbst Verhafteten an. So wurden
Verbindungsnachweise von deutschen Mobiltelefonunternehmen herangezogen,
um die "Reisegruppe" der Betroffenen zu ermitteln. Anderseits scheint
das LKA Berlin schwedisches Beweismaterial mit eigenen Datensätzen
abgeglichen zu haben.
Der "Export" von Anklagen setzt unter anderem voraus, dass die
vermeintliche Straftat in beiden Ländern gleichwertig strafbar sein
muss. In einem Fall misslang dieser Transfer. Der Aktivist T. aus
Frankfurt a.M. wird verdächtigt an einem Ausbruchsversuch aus der
Hvitfeldska-Schule, die als Unterkunft diente und bereits am ersten Tag
des Gipfeltreffens von Polizei umstellt und später gestürmt wurde,
teilgenommen zu haben. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft beantragte
eine Hausdurchsuchung, was aber über zwei richterliche Instanzen
abgelehnt wurde. Die Untersuchungsrichter sahen in dem schwedischen
Beweismaterial keine individuelle Beteiligung von T. an einem schweren
Landfriedensbruch.
Diese Nichtübertragbarkeit kann aber auch zum Bumerang werden. Gegen den
niederländischen Aktivisten Maarten B. aus Amsterdam liegt ein
Auslieferungsantrag der schwedischen Justiz vor. Maarten soll in
Göteborg einen Polizeibeamten angegriffen haben und an einen schweren
Landfriedensbruch beteiligt gewesen sein. Einen dem Landfriendensbruch
vergleichbaren Straftatbestand gibt es in den Niederlanden aber nicht.
Wahrscheinlich aus diesem Grund strebt die schwedische Justiz eine
Auslieferung nach Schweden an, die dazu führte, dass Maarten am 4. Juni
einen Tag in Untersuchungshaft genommen wurde. Eine Haftprüfung
konstatierte, dass keine Fluchtgefahr vorliege, so dass Maarten unter
Meldeauflagen auf freien Fuß auf ein Verhör durch die schwedische
Staatsanwaltschaft in den Niederlanden warten kann. Eine Auslieferung
Maartens nach Schweden würde vor dem Hintergrund der bisherigen
schwedischen Rechtssprechung trotz hinlänglichen Entlastungsmaterials
einer Verurteilung gleichkommen.
Dass die Göteborg-Repression über die schwedischen Staatsgrenzen hinweg
geschwappt ist, bedeutet nicht, dass das juristische Nachspiel in
Schweden vorbei wäre. Noch immer beschäftigt das Kapitel Göteborg die
schwedischen Gerichte. Ebenso sind die Ermittlung in Schweden noch nicht
abgeschlossen. Laut schwedischen Berichten sind Polizei und
Staatsanwaltschaft in Göteborg wieder damit beschäftigt, weitere
Personen zu identifizieren und Anklagen anzustreben.
Den massenhaften Verurteilungen von AktivistInnen steht die so gut wie
nicht erfolgte juristische Aufarbeitung des Polizeieinsatzes gegenüber.
Bis dato sind keine Urteile gegen Polizeibeamte gefällt worden. Es gab
mehrere Versuche sowohl einzelne Beamte als auch spezielle Einsätze
juristisch anzugehen. Insgesamt wurden nach dem Gipfel 170 Anzeigen
gegen PolizistInnen eingereicht. Nur ein Verfahren kam bisher über das
Stadium der Voruntersuchung hinaus. Angeklagt waren vier Einsatzleiter,
die vor Ort die Stürmung der Schillerska Schule, leiteten. Die
Schillerska war eine weitere Schule, die von der Gemeinde als Unterkunft
zur Verfügung gestellt wurde und am Ende des Gipfels von einer mit
Maschinengewehren bewaffnete Antiterror-Einheit der Polizei gestürmt
wurde, da die Polizei Hinweise erhalten haben soll, dass sich dort ein
mit "mehreren Handfeuerwaffen" bewaffneter "deutscher Terrorist"
aufhalten sollte. Waffen oder Terroristen konnten nicht ausfindig
gemacht werden. Vorgeworfen wurde den Einsatzleitern Freiheitsberaubung,
da sie während des Einsatzes 48 schwedische StaatsbürgerInnen länger als
nötig festgehalten haben sollen. Das Verfahren endete mit Freispruch.
Die Ermitllungen betreffend der Schüsse auf DemonstrantInnen verliefen
ebenfalls im Sande. Zwar wurde in den Vorermittlungen konstatiert, dass
die Polizisten, die die Schüsse abfeuerten, nicht in Notwehr handelten,
trotzdem wurde am 28. Mai 2003 die Vorermittlung gegen die Schützen zum
dritten Mal eingestellt.
Internationale Solidarität vs. Internationale Amtshilfe
Auf EU-Ebene betrachtet gibt Göteborg einen Vorgeschmack, wie in Zukunft
die Zusammenarbeit zwischen den Ermittlungsbehörden aussehen wird. Hier
gilt es dieser neuen Form der Repression etwas entgegen zusetzen. Es hat
sich gezeigt, das es nicht mehr ausreicht international zu einschlägigen
'Events' wie Gipfeltreffen zu mobilisieren und bestenfalls ein
mehrsprachig besetztes Rechtshilfe-Notfalltelefon vor Ort einzurichten.
Während es für staatlichen Institutionen fast schon nur eines
Telefonates bedarf, um ihre Repression zu globalisieren, scheitert es
bei uns oft an grundlegend Sachen, wie sprachliche Barrieren oder
Unkenntnis von AnsprechpartnerInnen. Ein erster Schritt könnte die
Verbesserung der Vernetzung von Antirepressionsstrukturen und des
Informationenaustausch über nationalstaatliche Grenzen hinaus sein.
Spendenkonto für die in Deutschland Betroffenen:
Rote Hilfe e.V., Berliner Bank, K.-Nr.: 718 959 9699, BLZ 100 200 00,
Stichwort "Göteborg"
Spendenkonto in Schweden:
K.-Inh.: "Nisse Lätts Minnesfond", Bank: PostGirot, SE-105 00 Stockholm,
K.-Nr.: 276 02-2
SWIFT-Code: PGS ISESS
Stichwort: "Gothenburg Solidarity"
(Dieser Artikel erschien im Bremer Kassiber Nr.53/Juli 2003 -
Stadtzeitung für Politik, Alltag, Revolution.)
[Ermittlungsausschuss Bremen, eabremen(ät)nadir.org,
c/o Infoladen, St. Pauli-Str. 10/12, 28203 Bremen]
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