Berlin: 141. Prozesstag | Reiche Ernte - Aussetzungsantrag abgelehnt
Anscheinend kann es im Berliner RZ-Prozess derzeit nur noch darum gehen, "in den Genuss revisionsrechtlicher Früchte zu gelangen", wie es Rechtsanwalt Johnny Eisenberg heute in seiner unnachahmlichen Art ausdrückte. Dass dem Senat an einer "richtigen" Verhandlung nicht mehr gelegen ist – trotz gegenteiliger Bekundung -, zeigt heute nicht nur die Prozessdauer von nicht einmal dreißig Minuten. Deutlich wurde dies auch an der Nonchalance, mit der der 1. Strafsenat den Aussetzungsantrag der Verteidigung von Harald G. vom 28. August ablehnte.
Nachdem eine so genannte Sperrerklärung des Bundesinnenministeriums (BMI) über die geschwärzten Passagen der Gesprächsprotokolle zwischen dem Verfassungsschutz und dem Kronzeugen Tarek Mousli vom Verwaltungsgericht (VG) als rechtswidrig aufgehoben worden war (vgl. Extra-Meldung vom 18.8.2003), hatte die Verteidigung beantragt, das Verfahren bis zur Übermittlung der ungeschwärzten Protokolle auszusetzen. (vgl. 140. Prozesstag) Der Senat allerdings konnte keine "maßgeblich veränderte" Sachlage erkennen, die eine Revision seines Beschlusses vom 4. Juli notwendig machen würde, in dem er bereits das erste Mal eine Aussetzung in diesem Zusammenhang abgelehnt hatte.
Als habe man damals nicht das Gegenteil behauptet, tat man heute so, als hätten am "Ausgang des Hauptverfahrens (vor dem Verwaltungsgericht) kaum Zweifel" bestehen können. (vgl. 134. Prozessbericht) Gleichzeitig verwies der Senat darauf, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei, und es deshalb weder den Senat noch andere Behörden binden würde. Zudem sei das BMI sowieso nur dazu verpflichtet, eine neue Sperrerklärung zu formulieren, die dann allerdings den vom VG benannten Kriterien entsprechen müsste, wenn es weiterhin auf eine lediglich zensierte Weitergabe der Gesprächsprotokolle bestehe. Aber ohnehin habe man mit dem Beschluss vom 4. Juli bereits eine ausreichende Abwägung zwischen den Belangen "der Wahrheitsermittlung und der Verfahrensbeschleunigung" vorgenommen, die auch nicht nach der Entscheidung des VG zu revidieren sei. Gleiches gelte für die vom Senat unterstellte geringe Beweisbedeutung der Gesprächsprotokolle. Insofern lehnte der Senat es auch ab, beim Bundesamt für Verfassungsschutz erneut auf Herausgabe der ungeschwärzten Protokolle vorstellig zu werden.
Die Angeklagten und die Verteidigung nahmen – Kummer gewohnt?– die Beschlussverkündung kommentarlos hin. Lediglich die Mikrophonanlage im Saal 500 des Kriminalgerichts Moabit hob zu einem minutenwährende Protestpfeifen an - so könnte man zumindest den Ausfall der Technik interpretieren, wäre man nicht frei von metaphysischen Anwandlungen.
Die in der Folge abgeschaltete Verstärkeranlage hinderte Rechtsanwalt Eisenberg ("Bei mir geht’s auch ohne Mikrophon bekanntlich!") nicht daran, einen Brief von Mouslis Zeugenbeistand an das Gericht zum Thema zu machen. Mit diesem Brief informiert Rechtsanwalt Birkhoff den Senat, dass sein Mandanten sich jetzt sicher sei, dass alle Einzahlungen für einen später abgesagten Kinderlehrgang in Oberoderwitz an die Eltern zurückgezahlt wurden.
Nicht alleine der Inhalt des Schreibens, vor allem die Art und Weise seines Zustandekommens war Anlass für Rechtsanwalt Eisenberg zur Frage, "ob der Inhalt der Hauptverhandlung Tarek Mousli oder seinem Zeugenbeistand von der Bundesanwaltschaft oder den Senat kommuniziert wird". Der Senat wies dies natürlich weit von sich. Und auch die BAW gab sich wie die Unschuld vom Land: "Es ist eine Frechheit, das gefragt zu werden", so Bundesanwalt Wallenta. Der dann allerdings nicht einmal Manns genug war, zu seiner Aussage zu stehen, sondern seinen Adlatus mit der Bemerkung vorschickte, nicht die Frage als solche, der Unterton sei eine Frechheit.
Keine gute Figur machte Wallenta auch bei der anschließenden Stellungnahme der Bundesanwaltschaft (BAW) zu dem Beweisantrag der Verteidigung von Harald G. in Sachen Kinderlehrgang Oberoderwitz, mit dem Mousli eine weitere Falschaussage nachgewiesen werden soll. (vgl. 140. Prozesstag) Die Stellungnahme war offensichtlich noch in Unkenntnis des Briefes von Birkhoff verfasst worden. Die Angaben Mouslis in der Hauptverhandlung seien alle unter "Erinnerungsvorbehalt" gemacht worden, behauptete Wallenta ahnungslos, also keinen Pfifferling wert. Außerdem seien "die unter Beweis gestellten Tatsachen für die Entscheidung ohne Bedeutung". Und selbst wenn sich erweisen würde, dass Mousli vor Gericht gelogen habe, gab sich die BAW überzeugt: Der Senat wird daraus nicht den Schluss ziehen, "dass der Zeuge generell unglaubwürdig ist". So einfach geht das.
Vor dem Hintergrund des sich aus dem Schreiben von Mouslis Zeugenbeistands neu ergebenden Sachverhalts, tauchte die Frage auf, ob das Gericht eine erneute Zeugenladung Mouslis vorsehe. "Bisher nicht", so die knappe Antwort der Vorsitzenden Richterin. Und trotz ihrer Ankündigung, man werde über Beweisanträge noch am selben Tag entscheiden, gab sie trotz einwöchiger Verspätung bekannt, dass heute kein Beschluss über den Antrag vom 28. August gefällt werde. "Wir haben zwar einen gefertigt, wollen ihn aber noc=
h einmal überdenken", bekannte die Vorsitzende Richterin. Ob dadurch der Genuss weiterer revisionsrechtlicher Früchte verhindert werden sollte, wird sich also erst an den nächsten Verhandlungstagen zeigen.
Auch wenn die BAW erneut gezeigt hat, dass für sie die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen nur von untergeordneter Bedeutung ist, lässt die Verteidigung an diesem Punkt nicht locker. Dieses Mal war es Rechtsanwalt Dr. König der im Namen seines Kollegen Euler mit einem Beweisantrag am Ball bleib. Gefordert wurde die Ladung und Befragung des Richters am Kammergericht Scharf gefordert, der bestätigen wird, dass Mousli in seinem Prozess im Dezember 2000 ausgesagt hat, er habe während seines Studiums in Kiel von Gelegenheitsarbeiten und einem Erbe von 10.000 bis 15.000 DM gelebt. Drei Jahre später, im August 2003, stellt sich die Sache allerdings anders dar: So hat die Zeugin H. am 7. August ausgesagt, Mousli habe in dieser Zeit ein Erbe von rund 100.000 DM angetreten. Mit dieser Aussage konfrontiert, hatte Mousli in der Hauptverhandlung am 15. August diese bis dahin nicht erwähnte Erbschaft bestätigt und sogar von "etwas mehr als 100.000 Mark" gesprochen. Laut Mouslis Mutter in einer Vernehmung vom 10.8.1999 hat das Erbe rund 180.000 Mark betragen - also "tatsächlich etwas mehr", wie es Euler charmant formulierte. Die Verteidigung will mit diesem Antrag beweisen, wie taktisch und auf den eigenen Vorteil bedacht der Kronzeuge mit der Wahrheit um geht, wie er es "mit der Wahrheit nicht nur nicht genau nimmt, sondern 'seine' Wahrheit" den Umständen entsprechende "variiert".
Ob die Verteidigung mit diesem Beweisgegenstnd beim Senat Erfolg hat, oder ob es wieder nur reicht, um die Genusssucht in Sachen Revision zu befriedigen, blieb heute offen – und auch morgen ist keine Antwort auf diese Frage zu erwarten. Die Hauptverhandlung am Freitag wurde aufgehoben. Weiter geht’s am 11. September um 9.15 Uhr. Ein ausführlicher Bericht entfällt.
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