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Berlin: 3. Okt. 2003 Deutschland verraten. Kapitalismus abschaffen.

Aufruf von Kritik & Praxis [KP Berlin] zur Demonstration am 03.
Oktober 2003

Am 3. Oktober feiert die deutsche Nation. Als »Tag der Einheit« wird
hier auch das Ende des »realen Sozialismus« der DDR gefeiert. In
diesem Jahr ist besonders deutlich, dass gleichzeitig die Befreiung
von Ansprüchen auf soziale Sicherheit gefeiert wird. Der Feiertag
fällt in die Phase der Umgestaltung der deutschen Nation, die sich
fit macht für den neoliberalen Kapitalismus.

Neoliberale Globalisierung
nach innen

Der Kapitalismus befindet sich in einem grundlegenden
Wandlungsprozess. Die Krise des Fordismus in den 70er Jahren ist
überwunden worden durch eine Verabschiedung des klassischen
Keynesianismus und der Vorstellung von Massenintegration, von
gesellschaftlicher Reproduktion durch Massenkonsum und der
Notwendigkeit der Ausstattung der gesellschaftlichen Arbeiter mit den
Mitteln zu diesem Massenkonsum.
Die Arbeitskraft tritt in der globalisierten hochtechnologischen
Produktion in Konkurrenz, was die Möglichkeiten von »Streikbruch im
Weltmaßstab« eröffnet und damit den Druck auf den Preis der
Arbeitskraft erhöht. Die Klasse der gesellschaftlichen Arbeiter (an
sich) ist sowohl durch die immensen Lohndifferenzen als auch durch
rassistische, ethnische, sexistische Diskriminierung zersplittert.
Letztere macht sich der ökonomische Prozess zu nutze, während die
neue Ethnisierung zugleich als politische Reaktion auf den
gegenwärtigen kapitalistischen Vergesellschaftungsprozess zu
begreifen ist, suchen die in ihm freien und gleichen Warenbesitzer
ihren Halt in der ethnischen und religiösen Gemeinschaft. Dass die
Arbeitenden sich nicht als geschichtsmächtige Klasse wahrnehmen und
es demnach auch nicht sind, ist offensichtlich.
Die Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensverhältnissen ist im
linksradikalen Weltbild bisher vor allem unter dem Gesichtspunkt der
Zurückweisung fordistischer Zumutungen der Lebensgestaltung, von
Repression und Überwachung diskutiert worden. Der Auseinandersetzung
mit Arbeitsverhältnissen oder Sozialpolitik haftete in der von der
Arbeit befreiten new-media-society jenseits der Systemkonkurrenz der
Geruch von Traditionalismus oder Reformismus an.
Gewerkschaften und Sozialdemokratie (und die kleinen Gruppen der
Traditionskommunisten) hatten das Feld erfolgreich für sich
reklamiert. Durch die reformistische Politik waren die Vertreter »der
Arbeiterbewegung« gesellschaftlich integriert und standen nicht für
ein Projekt jenseits von autoritären Strukturen. Ihre Politik wurde
von der radikalen Linken kritisiert als Verfangenheit in Ökonomismus
und Hauptwiderspruchsdenken.
Gegen die sozialdemokratische Illusion, dass der Kapitalismus von
selber gut werde oder zu Tode reformiert werden könnte, haben
Linksradikale und Kommunisten immer zu recht angekämpft. Doch das
Feld der Auseinandersetzungen hat sich gründlich umstrukturiert: Seit
Mitte der 90er Jahre steht das Wort »Reform« im herrschenden Diskurs nicht mehr für eine schrittweise solidarischen Verbesserung der
Lebensverhältnisse mit dem impliziten Anspruch der
Gesellschaftsveränderung. Der Mensch schneidet sich dem Schneider
zurecht; der einzelne ist reformierbar, das Ganze
unveränderlich. »Reform« steht für die schrittweise Verschlechterun= g
der realen Lebensverhältnisse, den Abbau sozialer Sicherungs- und
Leistungssysteme – der traditionelle, reformistische Kampf gegen
solche Politik ist nicht zuletzt durch die Reklamierung des
Reformbegriffs von herrschender Seite still gestellt.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stellt der Kapitalismus
weltweit die Rahmenbedingungen für Politik, die sich entsprechend als
die eine oder andere Version des Neoliberalismus
darstellt. »Gestaltung« innerhalb dieser engen Grenzen wird als
Politik definiert; dass das rot-grüne Reformprojekt in neoliberaler
Sozialabbau- und Großmachts-Politik mündete, hat gezeigt, wie wenig
alternativ die Alternativen sind. Entsprechend findet sich in
postmodernen Zeitdiagnosen das »Ende der Politik« als
sozialwissenschaftlicher Reflex auf diese Entwicklung.
Dagegen gilt es, die stillschweigenden Voraussetzungen wieder in
Frage zu stellen: Politik von links heißt, die Verwertungsbedingungen
selbst zur Disposition zu stellen und nicht ihre Durchsetzung als
Sachzwang zu organisieren.

Mit vollem Bauch
auf die Barrikaden

Falsch verstandene internationale Solidarität hat in linksradikalen
Zusammenhängen dazu geführt, dass eine Verteidigung der
vergleichsweise hohen sozialen Standards der 1.-Welt-Staaten als
Besitzstandswahrung gegenüber der »3.Welt« gewertet wurde, auf deren =
Ausbeutung der gesellschaftliche Reichtum der »1.Welt« schließlich beruhe. Bei näherer Betrachtung ist das nur eine auf links getrimmte
Fassung der elterlichen Forderung, man solle seine Suppe auslöffeln,
weil die Kinder in Afrika keine hätten. Mitnichten kommt irgendein
Teil eingesparter »Lohnnebenkosten« den Menschen in der »3.Welt« zugute. Vielmehr gehen sie ein in die veränderten
Reproduktionsbedingungen des Kapitalismus und die private Aneignung
des erwirtschafteten Reichtums. Die Denunziation von Ansprüchen auf
ein besseres Leben spielt immer dem Kapital in die Hände und
verleugnet den emanzipatorischen Kampf der Politik, dessen
Radikalisierung notwendig bleibt.
Mit dem Fordismus wurde auch das gesellschaftliche Leitbild des
Taylorismus – geistlos wiederholende Tätigkeiten werden von einem
Heer gut abgerichteter Arbeiter verrichtet – überholt. Kreativität und Eigeninitiative, die angeblich flachen Hierarchien der new
economy wurden zunächst feierlich verkündet und bildlich berauscht,
schließlich mit abgeklärter Miene der Notwendigkeit halber
durchgepeitscht. Unter diesen Leitbildern sind die traditionellen
Gegenwehrkonzepte der Arbeiterbewegung in die Krise geraten und mit
ihnen die Vertreter der Arbeiterbewegung in Form der Gewerkschaften.
Da der Keynesianismus auf dem konsumstarken Massenarbeiter beruhte,
konnten die Gewerkschaften lange Zeit ohne Infragestellung der
kapitalistischen Grundlagen die reale Lage der Arbeitenden
verbessern – auch weil die Abhängigkeit der Unternehmen von den
Massenarbeitern die Kampfmöglichkeiten der Arbeiterbewegung
verbesserte. In Verteidigung der fordistischen Leitbilder erscheinen
die Gewerkschaften teils zu recht als Vertreter einer vergangenen
Zeit; heute drohen die Unternehmen mit Investitionsstreik und die
liberale Zeit fordert die Abschaffung des Streikrechtes.
Wer sich in seiner Arbeit zunächst einmal selbst zu verwirklichen
glaubt und sich mit seinem Betrieb identifiziert, hat nicht das
Gefühl, dass zwischen ihm und dem Betrieb eine Interessensvertretung
Platz hat. Und real hat der Neoliberalismus wie jede Form des
Kapitalismus spezifische Integrationsangebote: sie beruhen nicht wie
im Fordismus auf der Massenbasis, sondern auf einer Angestellten-
Elite, die frei von Stechuhr und autoritären Vorgaben ihre Interessen
in der Arbeit realisieren können – zwar bei erhöhter Ausbeutungsrate,=
immer im Bewusstsein der Konkurrenz gegen andere, aber eben nicht
geistlos-wiederholend. Den Kämpfen gegen althergebrachte Formen der
Unterdrückungen (Sexualunterdrückung, Frauendiskriminierung, Familie, <= BR> Zwansgsheterosexualität usw.) ist damit die Tür in den marktförmigen =
Status Quo geöffnet. Dem Hochglanzbild des Neoliberalismus, das für
wenige Realität wird, stehen die neuen Massenarbeiter gegenüber: das Heer der Sweat-Shop-ArbeiterInnen, Beschäftigte in den
Freihandelszonen mit miesen Löhnen, ohne Absicherungen, geistlose
Tätigkeiten, sexuell und rassistisch diskriminiert.
Mit der Antiglobalisierungsbewegung ist das Thema des neoliberalen
Kapitalismus auch für linksradikale Bewegungen interessant geworden.
Das Feindbild ist hier vor allem ein äußerliches
oder »international«: das Finanzkapital, die WTO, die Weltbank. Nur
selten wurde die neue Produktionsweise verstanden als eine, die jede
Gesellschaft bis in die privaten Beziehungen hinein umarbeitet und
auf deren Umarbeitung basiert. Sie produziert den flexiblen,
selbstaktivierenden Single und bedarf schon des veränderten Denkens
über sich selbst im Verhältnis zur Gesellschaft.
Die derzeitige Politik um die Agenda 2010, die Hartz-Vorschläge, die
Gesundheits- und Renten»reform« macht genau dies. Die
Verschlechterungen der sozialen Absicherung und der Organisation von
Armut werden in diesem Zusammenhang oft kritisiert; sie bedeuten aber
mehr, eine Privatisierung des Existenzrisikos. Wie sich der Fordismus
seinen zuverlässigen Massenarbeiter geschaffen hat, der die
Produktionsnotwendigkeiten weitgehend verinnerlicht hat, so muss nun
die neoliberale Arbeitskraft, der neoliberale Mensch geformt
werden: »Rennen, rackern, rasen« und »fit, flexibel, fantastisch« <= BR> sind die Anforderungen der »Jobrevolution« von
Hartz. »Beschäftigungsfähigkeit« und »Zumutbarkeit« sind die zentralen Begriffe, mit denen ausgedrückt wird, dass die Menschen auf
eigenes finanzielles und existenzielles Risiko dafür zuständig sind, dass sie vom Kapital benötigt werden und fit für die Arbeit sind – sollten sie es nicht sein, bedeutet »Zumutbarkeit«, dass sie
niemandem zur Last fallen. Das impliziert: da der Massenarbeiter
nicht mehr gebraucht wird, wird an der Akzeptanz seiner Nicht-
Finanzierung gearbeitet. Die Arbeitsfähigkeit wird rigoroser als im
klassenkompromisslerischen Fordismus zur Grundlage der
Existenzberechtigung oder eben Nichtberechtigung gesehen. Das neue
Konzept ist das Diktat, sein Leben so auszurichten, dass man jeder
Zeit und an jedem Ort, auf jede Dauer im Sinne kapitalistischer
Verwertung einsetzbar wird.
Gleichzeitig wird die Vorstellung von kollektiver
Interessenvertretung, von politischer Meinungsäußerung erledigt:
Hartz denunziert den Gedanken einer »Solidargemeinschaft«
als »Nibelungentreue«, was Solidarität wohl mit völkischem
Nationalismus in Verbindung bringen soll. Auf unheimliche Weise ist
damit schon die Antwort der Nazis vorweggenommen: die JN und andere
Nazigruppierungen propagieren als Antwort auf die Zumutungen
neoliberaler Globalisierung völkische Konzepte und artikulieren sich
antikapitalistisch. Im Kampf gegen Obdachlose, Behinderte,
Flüchtlinge greifen sie den Gedanken auf, dass nur lebensberechtigt
ist, wer verwertbar ist. Gleichzeitig agieren sie die verschärfte
Konkurrenz gegen »Ausländer« aus und versprechen den »Volksgenossen= «
eine privilegierten Zugang zu sozialen Sicherungssystemen. Wer für
die Nazis keine Sympathien hegt, wird also von Hartz vor die Wahl
gestellt, die eine Frage des Lebensstils ist: lieber fit, flexibel,
fantastisch oder nibelungentreu?

Nation, Europa, Identität

Als ideologischer Kitt, der die so fragmentierte,
auseinandertreibende Gesellschaft zusammenhalten soll, dient die
gemeinsame Bezugnahme auf die Nation – gerade am 3. Oktober. Staat
und Nation sind einerseits materielle Herrschaftsapparate, die
konstitutiv eine bestimmte Gruppe von Personen als Staatsbürger und
alle anderen als Nichtbürger – als Ausländer – definieren.
Andererseits sind sie gleichzeitig Teil einer symbolischen Ordnung,
die sich durch die Subjekte erzeugt und in die sich jene einordnen.
Das heißt, die Identifikation mit der Nation ist nicht allein als ein
Projekt zu verstehen, welches der Staat von oben herab organisiert
und ständig neu erzeugen muss, sondern auch als ein ideologischer
Vorgang, in dem sich die Subjekte »freiwillig« in antagonistische
Verhältnisse integrieren. Der Nationale Konsens muss nicht erst neu
durchgesetzt werden, sondern bildet jeweils ständigen Bezugspunkt.
Die postfordistische Formierung der Gesellschaft vollzieht sich in
Deutschland dabei in enger Wechselbeziehung zu Diskursen um
Nationalbewusstsein und Geschichtspolitik. Dass in der »Berliner
Republik« Bekenntnisse zur Nation und Bekenntnisse zur »historischen Schuld« nicht mehr als Widerspruch empfunden werden, sondern noch das
plakative Schuldbekenntnis zur Neudefinition nationaler Identität
dient, ist zynischer Ausdruck einer deutschen Normalisierung. Nach
dem Vergessen und Verdrängen der Nachkriegsjahre und der
Verwissenschaftlichung und Historisierung des Nationalsozialismus der
70er und 80er Jahre – inklusive der »Vergangenheitsbewältigung« von=
links –, stellt sich angesichts der Indienstnahme von Auschwitz für
die neue »deutsche Verantwortung« durch Rot/Grün die Frage, wie ein <= BR> kritischer Bezug auf Geschichte noch aussehen kann, ohne die
Geschichte der Sieger zu verlängern. Ob Goldhagen- oder Walser-Bubis
Debatte – die öffentlich ausgetragene Kontroverse dient
der »selbstbewussten Nation« zur Selbstversicherung des gelungenen
Demokratisierungsprozesses und wird sinnstiftend in Szene gesetzt.
Gegen die Erfahrung des sozialen Widerspruches und der zunehmenden
eigenen Überflüssigkeit wird eine Identität mobilisiert: Die Nation. =
Eine Identität, die zum Einsatz im Sinne des Standortnationalismus
bereit macht. Die europäische Freihandelszone läßt das »Alten
Europas« wiederauferstehen. So bedeutet der Versuch, Europa in
Stellung gegen die USA zu bringen, indem der dortige »Wildwest-
Kapitalismus« angeprangert wird, die Rechtfertigung für die
neoliberale Umgestaltung des deutschen Staates (und anderer
europäischer) nach Maßgabe der gleichen neoliberalen
Verwertungsbedingungen, die in den USA weitgehender durchgesetzt sind.

Kapitalismus abschaffen

Die Linke kann ihren Kampf nicht an die Gewerkschaften delegieren.
Jetzt, wo das Kapital wieder deutlicher als ein Part im Klassenkampf
wahrzunehmen ist, scheint es besonders nahe zu liegen, an die
organisierte Arbeiterbewegung die Erlösungserwartungen und die
Vorwürfe bei Nichterfüllung zu richten. Der Kampf gegen Kapitalismus aber kann nur ein gemeinsamer sein. Statt neuerlich identitäre
Konzepte zu bedienen und sich als Vertreter seiner gesellschaftlichen
Stellung (Arbeiter, Frau etc.) zu verstehen, von der aus die Form und
das Ziel gesellschaftlicher Auseinandersetzung schon definiert ist,
rufen wir auf zu einem Kampf gegen die Grundlagen des Kapitalismus
als solche – das soll unser Bezugspunkt sein und (soweit das denkbar
ist) eine nicht-identitäre Definition des politischen Projekts: Die
Verweigerung nationaler Eingemeindung, die Zurückweisung
rassistischer und sexistischer Fragmentierung, für eine Solidarität
jenseits von Nation und Volk, für ein Leben jenseits von Verwertung,
von »rennen, rackern, rasen«. Also für den Kommunismus.


Klassenkampf statt Nation
Deutschland verraten
Kapitalismus abschaffen

Freitag 3.10.03
16 Uhr, Demo
Deutschland verraten
Kapitalismus abschaffen
mit Superpunk live
Hackescher Markt
S-Bahn Hackescher Markt

Kritik & Praxis und
Eintracht Berlin präsentieren:
Club-Nacht u.a. mit
»Das Bierbeben« (Shitkatapult)
»Strobocob« (Karaoke Kalk)
Achtet auf Ankündigungen!

Außerdem
Freitag 26.9.03
23 Uhr, Soli-Party
»Cry me a riot –
delete germany in all styles.«
Villa Felix, Schreinerstrasse 47
U5 Samariterstrasse

Donnerstag 2.10.03
22 Uhr, Bündnis-Soli-Party
SFE im Mehringhof
Gneisenaustrasse 2a
U6 Mehringdamm

Kritik & Praxis Berlin, c/o Iskra e.V.
Lausitzerstrasse 10, 10999 Berlin
mail@kp-berlin.de, http://www.kp-berlin.de

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15.09.2003
Kritik & Praxis Berlin   [Aktuelles zum Thema: Soziale Kämpfe]  Zurück zur Übersicht

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