Berlin: Weinrich-Prozeß - 34 . Verhandlungstag
Richtungsweisende Beschlüsse
34. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß
Niemand außer die Kammer selbst hatte wohl für den heutigen Verhandlungstag etwas Besonderes erwartet. Am letzten Verhandlungstag hatte der Vorsitzende angekündigt, lediglich "ein paar Beschlüsse" zu verlesen, um den heutigen Tag zu füllen.
Die deshalb relativ entspannte Atmosphäre im Gerichtssaal veränderte sich während der Verlesung eben jener Beschlüsse in eine angespannte Totenstille.
Insgesamt drei Beschlüsse wurden verkündet: Der erste zur Verlesung der Protokolle von Vernehmungen ungarischer Geheimdienstler, der zweite zur Befragung des DST-Mannes Riou in bezug auf die "Aussage" Ali Al Issawis und der dritte zur Zulässigkeit von Fotokopien als Grundlage von Gutachten.
Vor allem die ersten beiden bergen eine Brisanz, die für den weiteren Prozeßverlauf entscheidend sein dürften.
Der Reihe nach:
Die ungarischen Ex-Mitarbeiter des dortigen Staatssicherheitsdienstes, Varga, Szesci und Szabo, waren in den 80er Jahren für die "Betreuung" der Mitglieder der ,Carlos-Gruppe' in Budapest zuständig. Sie sind 1999 von einem ungarischen Staatsanwalt in dieser Angelegenheit vernommen worden. Da die Drei für die Kammer in Berlin "nicht erreichbar" sind, beziehungsweise die gerichtlichen Möglichkeiten einer Vernehmung in Ungarn nicht der deutschen Strafprozeßordnung entsprächen, seien die Protokolle jener Vernehmungen von 1999 hier zu verlesen.
Zur Begründung führte die Kammer u. a. aus, daß es sich bei den Zeugen "nicht um Zeugen handelt, die zum unmittelbaren Tatgeschehen Aussagen machen könnten" und zudem erklärtermaßen "Probleme mit der Erinnerung" nach so langer Zeit hätten. Trotzdem sollen diese "belastenden Aussagen auch ohne den persönlichen Eindruck des Gerichts einen hinreichenden Beweiswert haben".
Diese offenkundige Widersprüchlichkeit erklärt sich am Schluß dieser Begründung, wenn es dort heißt: "Der Verlesung der Vernehmungsniederschriften der Zeugen steht auch nicht die wiederholt vorgetragenen Bedenken der Verteidigung zur Frage der Einführung und Verwertbarkeit von Unterlagen und Erkenntnissen ausländischer Geheimdienste entgegen."
Dies zielt ganz offensichtlich auf das bis dato noch nicht in diesen Prozeß eingeführte MfS-Material, daß zu den zentralen Stützen der Anklage zählt.
Hätte das Gericht das ungarische Material abgelehnt, hätte es das konsequenterweise auch mit den MfS-Unterlagen tun müssen.
Dabei scheut die Kammer scheinbar auch Konstruktionen nicht. So enthält die Begründung u. a. die falsche Behauptung, daß die BKA-Beamtin Bauer, die seinerzeit bei den Vernehmungen in Ungarn anwesend war, eine rechtsstaatliche Zeugenbelehrung bestätigt hätte. Trotz mehrfachen Nachfragens hat sie sich in Wahrheit am 31. Verhandlungstag dazu nicht definitiv geäußert. Für die Kammer ist das nichtsdestotrotz jetzt zur Tatsachenbehauptung geworden.
Die Anklage stützt sich auf drei zentrale Punkte: Unterlagen des MfS und zwei "Aussagen" von ehemaligen Mitgliedern der ,Carlos-Gruppe'. Die erste Kronzeugin, Magdalena Kopp ist durch einen Fehler der Staatsanwaltschaft bereits aus dem Verfahren ausgeschieden. Der zweite Kronzeuge, Ali Al Issaawi, soll sich bis vor einigen Jahren noch in einem Gefängnis des jordanischen Geheimdienstes GID befunden haben. Dort sei er von Mitarbeitern des französischen Inlands-Geheimdienstes DST durch Vermittlung der jordanischen Kollegen "vernommen" worden, ohne daß die Franzosen persönlich mit Issawi sprechen konnten oder ihn auch nur zu Gesicht bekommen haben (siehe hierzu ausführlich: Prozeßbericht 14. Verhandlungstag "Ein ganz normaler Polizist in einem ganz normalen Verfahren").
Dem zweiten Beschluß zufolge, darf der DST-Mann Riou nun auch zu Inhalten dieser "Aussage" Issawis befragt werden. Dem hatte die Verteidigung seinerzeit widersprochen und dabei u. a. argumentiert, daß die Aussage dieses "Phantomzeugen" den Anforderungen der deutschen Strafprozeßordnung nicht standhalte. Es sei nicht klar, ob Issawi jemals in der Hand des GID gewesen sei und wenn dem so sei, ob seine "Aussage" nicht durch Folter erpresst wurde. Letztendlich könne auch nicht ausgeschlossen werden, daß der GID selbst die Antworten gab. Somit dürfe diese "Aussage" auch nicht via Riou in den Prozeß eingeführt werden.
Zur Begründung führte die Kammer u. a. aus, daß "die Tatsache, daß es in Jordanien nicht rechtsstaatlich zustande gekommene Aussagen gab oder gibt, keinerlei zwingende Rückschlüsse darauf zuläßt, daß im vorliegenden Fall solche rechtsstaatswidrigen Methoden angewendet wurden". Riou hatte dies bei seiner Vernehmung hier am 14. Verhandlungstag etwas salopper ausgedrückt, als er sagte: "Ich habe keine Schreie gehört!"
Das die Vernehmung Issawis nicht durch einen Richter, Staatsanwalt oder Polizeibeamten erfolgte, begründe kein Einführungs- bzw. Verwertungsverbot, da es "dem ersuchten Staat überlassen bleibt, wie er nach seinen Gesetzen ein solches Rechtshilfegesuch erledigt".
Um all dem die Krone aufzusetzen, folgte ein Satz, bei dem etliche Prozeßbeteiligte meinten, sich verhört zu haben: "Die Hilfserwägung, daß es möglicherweise gar keinen Zeugen gab oder der vernommene Zeuge nicht Al Issawi war, steht einer Einführung und Verwertung nicht entgegen." Diese "Problematik" falle in die Kategorie Beweiswürdigung, die die Richter in "freier Gesamtschau" vorzunehmen hätten.
Im dritten Beschluß hielt die Kammer die Verwendung von Fotokopien als Grundlage von (BKA-) Gutachten für zulässig (siehe hierzu auch Prozeßbericht 30. Verhandlungstag "Graphologische und philatelistische Wahrscheinlichkeiten bei Bekennerschreiben").
Die von der Verteidigung vorgebrachte Begründung, bei Fotokopien seien Verfälschungen oder Manipulationen nicht auszuschließen und solches Material unterliege deshalb einem Verwertungsverbot, sei "unrichtig". Vielmehr habe das Gericht in "freier Beweiswürdigung" darüber zu befinden. Es würde sich also "nicht um ein Einführungs- oder Verwertungsverbot, sondern allenfalls um ein untaugliches Beweismittel handeln".
Verteidiger Elfferding beantragte daraufhin eine halbe Stunde Pause zur Beratung.
Aus der halben Stunde wurden anderthalb Stunden, ohne daß die Verteidiger wieder aufzutreiben waren. Weinrich, nach dem Verbleib seiner Verteidiger befragt, antwortete aus seinem Panzerglaskasten, daß er "nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten" hätte, nach ihnen zu suchen. Infolgedessen vertagte der Vorsitzende die Verhandlung, ohne daß es zur Verlesung der Protokolle kam.
Nachdem fast alle Beteiligten gegangen waren, tauchten die Verteidiger etwas verdutzt wieder auf, da sie einer Justizangestellten Bescheid gesagt hatten, daß sie sich im Anwaltszimmer befänden und später kämen.
Der vorsitzende Richter Ehestädt hat sich bei seiner bisherigen Verhandlungsführung bemüht, es sich mit keiner Seite (Staatsanwaltschaft/Verteidigung) zu "verscherzen".
Mit diesen Beschlüssen hat nach Einschätzung der Anwälte die Kammer in diesem Mammutverfahren klar gezeigt, "wohin der Zug fahren soll und wie der Bahnhof heißt".
Der erste Ablehnungsantrag der Verteidigung ist damit sehr wahrscheinlich.
Nächster Termin: 24. 09., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500
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