München: Empörende Urteile gegen Antifaschisten
1) Pressemitteilung der Roten Hilfe München
2) Artikel von Nikolaus Brauns, München
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Empörende Urteile gegen Antifaschisten
Pressemitteilung
München, 22. September 2003
Am heutigen Montag, den 22.September fanden vor dem Amtsgericht
München zwei Prozesse gegen Antifaschisten statt, denen „Aufruf zu
Straftaten“ vorgeworfen wird. In beiden Fällen sollen die Angeklagten
dazu aufgerufen haben, am 30.11. einen Naziaufmarsch gegen die
Wehrmachtsausstellung zu blockieren. Dieser Aufmarsch wurde von
Christian Worch und Martin Wiese angemeldet. Letzterer, sowie weitere
Personen aus seinem Umfeld sind kürzlich wegen des Besitzes von
mehreren Kilo Sprengstoff verhaftet worden und ganz offensichtlich gab
es konkrete Anschlagspläne.
Dem Angeklagten Christian B. legte der Staatsanwalt zur Last, kopierte
Stadtpläne der Umgebung des Naziaufmarsches verteilt und so zur
Störung aufgefordert zu haben. Die Zeugin, Polizeimeisterin Alexandra
K., konnte sich allerdings nicht erinnern, dass der Angeklagte zu
einer Blockade aufgerufen hätte. Christian betonte in seiner
politische Erklärung: „Wir sagen aber, die Form des Protestes gegen
die Nazis war politisch korrekt. Auch wenn wir verurteilt werden
sollten, ändert sich daran nichts.“ Er wies auch darauf hin, daß der
gesamte Stadtrat wie auch OB Ude sich über die Zivilcourage erfreut
zeigten, nun aber diejenigen, die sich den Nazis entgegengestellt
haben, stellvertretend in seiner Person verurteilt werden sollen.
Christian wurde zu 30 Tagessätzen á 30 Euro verurteilt.
Ähnlich fadenscheinig war der Vorwurf gegen Martin L. Er erklärte auf
der Protestkundgebung am Odeonsplatz, daß er nach Ende der Kundgebung
die Nazi-Gegner durch seine Präsenz am Goetheplatz unterstützen wolle
und betonte im Folgenden sogar, daß jeder seine eigene Entscheidung
treffen müsse, was zu tun ist. Auch in diesem Fall kann keine Rede von
einem Aufruf zur Blockade sein. Als ehemaliger KZ-Häftling erlebte
Martin Aufstieg und Machtübernahme der Nazis und hat auch noch sehr
gut in Erinnerung, daß viel zu wenige Menschen sich den Nazis damals
entgegen gestellt haben. Martin: „Die Nazi-Diktatur war nicht über
Deutschland hereingebrochen, sie war keine unverhinderbare
Katastrophe, sie ist von Menschen gemacht worden und kann auch daher
von Menschen verhindert werden.“ Diese Lehre aus der Geschichte habe
sich im Grundgesetz niedergeschlagen, das weit höher zu bewerten sei,
als die Versammlungsfreiheit von Neonazis. Auch in diesem Fall befand
der Richter den Angeklagten für schuldig.
Paula Schreiber von der Roten Hilfe e.V., Ortsgruppe München:
“Der Staatsanwalt Hoffmann verteidigte in beiden Prozessen das
Versammlungsrecht der Nazis. Beide Angeklagten betonten zu Recht, das
persönliche Engagement gegen alte und neue Nazis sei angesichts der
Untätigkeit der Ermittlungsbehörden gegenüber Rechtsextremisten
notwendiger denn je. Empört nahmen die zahlreichen Prozeßteilnehmer
das Schlußwort des Staatsanwalts zur Kenntnis: `Wenn der Angeklagte
ausführt, daß eine Verurteilung seiner Person den Rechten den Rücken
stärke, so hat er durchaus Recht - nur hätte er sich das eben vorher
überlegen müssen."
Verteidigerin Angelika Lex: "Ich schäme mich heute hier zu stehen und
diesen Mann verteidigen zu müssen." Sie forderte vergeblich in beiden
Fällen Freispruch.
Während die Staatsanwaltschaft und das Gericht die Zivilcourage und
das bloße Verteilen von Stadtplänen als Straftat wertet, sind sie
nicht willens gegen unverhohlen offene nationalsozialistische
Propaganda vorzugehen. Oder gehört nach Meinung dieser Herren zur
„Meinungsfreiheit“ das Tragen von Transparenten mit der Aufschrift
`National Sozialismus`?“
Paula Schreiber: „Diese Urteile sind empörend und nicht hinzunehmen.
Die Rote Hilfe wird auch in Zukunft alle Antifaschistinnen und
Antifaschisten, die wegen ihres Widerstands von der Staatsgewalt
kriminalisiert werden, mit allen Kräften unterstützen.“
Der nächste Prozeß in diesem Zusammenhang findet gegen den Stadtrat
Sigi Benker am 6. Oktober, 10 Uhr im Raum A 219 im Justizzentrum in
der Nymphenburgerstr. statt.
Mit freundlichen Grüßen,
Paula Schreiber
Rote Hilfe e.V.
Ortsgruppe München
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Zum gleichen Thema ein Artikel von Nikolaus Brauns, München:
Im Namen des Volkes: Zivilcourage gegen Nazis strafbar
Zwei Münchner Antifaschisten wurden am Montag vom Münchner Amtsgericht wegen
öffentlicher Aufforderung zu Straftaten und Verstoßes gegen das
Versammlungsgesetz zu Geldstrafen verurteilt. Sie hatten im vergangen Jahr
dazu aufgerufen, sich einer Nazidemonstration entgegenzustellen.
Tausende Münchner hatten am 30. November 2002 versucht, eine Demonstration
von Rechtsextremen durch München blockieren. Anmelder dieser Demonstration
gegen die Wehrmachtsaustellung war der kürzlich nach Sprengstofffunden
verhaftete Rechtsterrorist Martin Wiese.
Die Staatsanwaltschaft warf dem 51-jährige Maschinenschlosser Christiaan
Boissevain vor, kopierte Stadtpläne mit der Marschroute der Nazidemo
verteilt zu haben. Dass Boissevain dabei konkret zu einer Blockade
aufgefordert habe, konnten als Zeugen geladene Polizisten nicht bestätigen.
Anwältin Angelika Lex verwies darauf, dass auch Oberbürgermeister Christian
Ude und die Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch
aufgerufen hätten, sich den Nazis in den Weg zu stellen, ohne dafür
Strafbefehle erhalten zu haben.
"Dies ist ein politischer Prozess!", erklärte Boissevain, "Es ist empörend,
dass hier Antifaschisten, die den sogenannten Aufstand der Anständigen
mitorganisiert haben, stellvertretend für viele Menschen abgestraft werden.
Damit soll allen Teilnehmern gezeigt werden: euer Verhalten war kriminell,
beim nächsten Naziaufmarsch verhaltet euch also polizeikonform, lasst sie
marschieren. Einzelne sollen für die Zivilcourage tausender Menschen büßen."
Der Richter verurteilte Boissevain zu 30 Tagessätzen von 30 Euro.
Der 78-jährige Martin Löwenberg, Mitglied im bayerischen VVN-Landesvorstand,
wurde wegen seiner Rede auf einer antifaschistischen Kundgebung am 30.
November angeklagt: "Verhindern wir gemeinsam den Aufmarsch von alten und
neuen Nazis! Es ist legitim, ja es ist legal, sich den Totengräbern der
Demokratie entgegen zu stellen." In den Augen des Gerichts war dies der
Aufruf zu einer strafbaren Blockade des genehmigten Naziaufmarsches.
In einer bewegenden, immer wieder vom Applaus der zahlreichen Zuschauer
unterbrochenen Rede schilderte Löwenberg, wie ihn die Erfahrungen der
nationalsozialistischen Diktatur geprägt hatten "Ich habe sehen müssen,
dass zu viele Deutsche unbeteiligt zuschauten, als am 9. November 1938 Juden
auf offener Straße geschlagen wurden." Im November 1941 wurden 15 jüdische
Verwandten seines Vaters aus der Heimatstadt Breslau deportiert. "Keiner ist
zurückgekommen", erzählte Löwenberg tränenerstickt. 1944 musste er selber in
einem Konzentrationslager in Lothringen als Zwangsarbeiter die Leichen
jüdischer Häftlingen, die bei der unterirdischen Rüstungsproduktion umkamen,
heraustragen. "Nach der Befreiung war für uns die Lehre: Faschismus und
Krieg hätten verhindert werden können, wenn Demokraten und Antinazis
rechtzeitig die Gefahr erkannt und die Nazis aktiv bekämpft hätten."
Löwenberg, der aufgrund seines politischen Engagements vom Oberbürgermeister
mit der Medaille "München leuchtet" ausgezeichnet wurde, erklärte, der
antifaschistische Auftrag des Grundgesetzes sei ihm ebenso eine
Verpflichtung, wie der Schwur von Buchenwald: "Die Vernichtung des Nazismus
mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des
Friedens und der Freiheit ist unser Ziel".
"Ich schäme mich für den Rechtsstaat, dass ich hier stehen muss, um diesen
Mann zu verteidigen", verkündete Rechtsanwältin Lex in ihrem
Schlussplädoyer. Antifaschistisches Engagement der Bürger sei notwendig zur
Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung, da Polizei und Justiz hierzu
offensichtlich nicht in der Lage seien. Im Polizeiprotokoll über Löwenbergs
Rede sei beispielsweise von einer "KFZ-Häftlingskleidung" die Rede gewesen,
sowie davon, dass "Göppel" am 9. November 1938 die "Reichsprognomnacht"
auslöste. Offensichtlich habe weder der Staatsschutz, noch der Staatsanwalt
oder der Richter dies gelesen. "Wie kann ich einem Staat bei der Bekämpfung
des Rechtsextremismus vertrauen, wenn die dafür zuständigen Beamten nicht
einmal die geschichtlichen Grundbegriffe aus dem Unterricht der 3. Klasse
kennen"
Er habe sich im Namen einer höheren Moral bewusst für eine Straftat
entschieden, als er den Rechtsextremen das Demonstrationsrecht absprach,
warf der Staatsanwalt Löwenberg vor. Über die Rechtmäßigkeit einer
Demonstration hätten alleine die Gerichte zu befinden. "Sonst würde der
Pöbel auf der Straße bestimmen, wer das Versammlungsrecht ausüben darf."
Löwenberg wurde "im Namen des Volkes" zu 15 Tagessätzen von 20 Euro
verurteilt.
Mit Rufen wie "Nicht in meinem Namen" protestierten Zuschauer gegen das
Urteil. Mehrere Antifaschisten, darunter der Fraktionschef der Münchner
Grünen Siegfried Benker wurden daraufhin vom Richter des Saales verwiesen.
Am 16. Oktober wird Stadtrat Benker selber vor Gericht stehen, weil auch er
im vergangenen Jahr dazu aufgerufen hat, einen Naziaufmarsch zu verhindern.
Nikolaus Brauns, München
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