Berlin: Weinrich-Prozess: 46. Verhandlungstag
Französischer Verfassungsschutz gibt Spuren vor - und hinterläßt selbst keine
46. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß
Inspektor Alain Helfrich, bis 1987 leitender Ermittlungsbeamter der Kripo Lyon für den Anschlag auf den TGV in der Nähe von Tain l'Hernitage am 31. 12. 1983, war als Zeuge geladen.
Richter Ehestädt möchte zuerst etwas über eventuelle Bekenneranrufe oder -schreiben wissen und ob es in der Folge Verdächtige gegeben habe. Helfrich referiert aus seinem persönlichen Bericht, daß es insgesamt 12 Bekennungen gegeben habe und einer "Organisation des bewaffneten arabischen Kampfes" (laut Akten ein weiterer Name der sog. Carlos-Gruppe) sehr schnell eine "besondere Aufmerksamkeit" zukam. Es hätte zwar noch "eine Reihe anderer Bekennungen" gegeben, diese seien jedoch als "Phantasie" (vergl. hierzu Desessard im 32. Verhandlungstag) abgetan und nicht weiter verfolgt worden.
Die sogenannte Carlos-Spur blieb dann ohne Ergebnisse und nach seinem Wissen gebe es bis heute in dieser Richtung keine neuen Erkenntnisse. Um dies jedoch zu präzisieren, bietet Helfrich an, bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Frankreich nachzufragen. Darauf reagiert der Vorsitzende nicht. Als der Zeuge daraufhin ein zweites mal direkt fragt: "Wünschen Sie, daß ich den Staatsanwalt nach dem letzten Stand der Ermittlungen frage?", reagiert Ehestädt mit dem Satz: "Da können wir später noch drüber reden": Allerdings ohne diese Ankündigung dann auch tatsächlich wahr zu machen.
Er sei auch anderen als der Carlos-Spur nachgegangen, wisse heute aber nicht mehr, ob darunter auch eine heiße Spur war, die auf andere Täter deutete. In "enger Zusammenarbeit" mit der Anti-Terror-Abteilung (6. Direction) in Paris und dem französischen Verfassungsschutz (Renseignement Generaux) in Lyon seien die Ermittlungen fortgeführt worden. Auch der DST (franz. Inlands-Geheimdienst, vergleichbar mit dem hiesigen polizeilichen Staatsschutz) habe eine Rolle gespielt. Diese "Fachstellen" hätten die Hinweise gegeben, die der Carlos-Spur "besondere Aufmerksamkeit" zukommen ließ.
Zum Ablauf des Anschlages gab es seinerzeit einen Zeugen mit Namen Dablanc, der am Abend des 31. 12. 83 einen Mann nordafrikanischer Herkunft auf dem Bahnhof Marseille dabei beobachtet hatte, wie dieser mit einer weißen Plastiktüte das Abteil 3 des TGV (dem späteren Ort der Explosion) betrat und dieses ohne die Tüte wieder verließ. Von diesem Verdächtigen sei auch ein Phantombild erstellt worden.
Im Zuge einer Auseinandersetzung um die Entführung eines Basken sei dann ein Monsieur Talbi in Bayonnes festgenommen worden, der im Gefängnis erklärte, er könne etwas zu den Anschlägen in Marseille und Tain l'Hernitage aussagen. Helfrich sei daraufhin mit Kollegen zu mehreren Vernehmungen des Talbi gereist. Demnach wollte spezielle baskische Kreise mit diesen Anschlägen Druck auf die französische Regierung ausüben. Die Namen von drei Fremdenlegionären und der Transport von Sprengstoff seien von Talbi auch erwähnt worden. Talbi habe einen Monsieur Echalier schwer belastet, die Kripo sei jedoch zu keinen "konkreten Ergebnissen" gelangt. Bei der Vorlage einer Bildermappe sei sich der Zeuge Dablanc "nicht sicher" gewesen, ob Talbi der Attentäter gewesen sei, bei einer späteren Gegenüberstellung durch eine verspiegelte Glaswand habe er Talbi dann als Täter identifiziert (laut Akten spricht Dablanc nur von einer gewissen Ähnlichkeit). Talbis Alibi, er habe sich zum Zeitpunkt des Anschlages in einer Sozialstation für Alkoholiker befunden, wurde vom Leiter dieser Institution nicht bestätigt. Eine Anklage in dieser Angelegenheit sei nie erhoben worden, sämtliche Akten an den zuständigen Untersuchungsrichter in Valences weitergeleitet worden.
In seinem Abschlußbericht vom September 1987 hält Helfrich die Carlos-Spur trotz alledem für die wahrscheinlichste. Die "Fachstellen" hätten auf den Zusammenhang mit einem Drohbrief von Carlos an das französische Innenministerium und die Übereinstimmung des Gruppennamens (Organisation des bewaffneten arabischen Kampfes/OBAK) aufmerksam gemacht. Vom Vorsitzenden daraufhin befragt, ob denn nicht die Talbi-Spur wesentlich plausibler sei, antwortet der Kriminale: "Vielleicht hat Carlos Talbi beauftragt". Anhaltspunkte für eine solche Verbindung gebe es allerdings nicht.
Verteidiger Häusler macht in seiner Befragung dann darauf aufmerksam, daß 69 Seiten in den Ermittlungsunterlagen fehlen. Helfrich kann hier nicht wirklich helfen, verweist darauf, daß er alle Akten dem Untersuchungsrichter zugeleitet habe.
Nach der Mittagspause geht Verteidiger Elfferding noch einmal detailliert auf die diversen Bekennungen ein und stellt fest, daß Helfrich in einer Aktennotiz vermerkt, daß die "schnellste" Bekennung ein Indiz für die Wahrscheinlichkeit von Täterschaft sei. Je später ein Bekennerschreiben oder -anruf eingehe, desto unwahrscheinlicher die Täterschaft des Bekennenden. Helfrich kann sich nicht erinnern. Es folgen eine Reihe von Vorhalten aus den Akten: Noch am Abend des Anschlages habe sich eine rechtsextreme französische "Gruppe Okzident" ("Wenn die Linke ihre Politik weiter fortsetzt, werden wir wieder zuschlagen") gleich zweimal zu den Anschlägen bekannt. Im Verlauf des folgenden Tages habe es verschiedene Bekennungen von arabischen, islamistischen und französischen rechtsextremen Gruppen gegeben. Ein Bekennerschreiben der OBAK sei erst am 2. Januar bei Agence France Press (afp) in Berlin beziehungsweise Tripoli (Libanon) eingegangen und habe sich inhaltlich auf die französische Bombardierung des libanesischen Ortes Baalbek bezogen ("Nicht nur unsere Kinder werden weinen. Dem Andenken der Märtyrer von Baalbek"). Die Arbeit der "Fachstellen", so Helfrich, habe "den Ausschlag gegeben". Weitere Anschläge um den 31. 12. Herum seien ihm "in Frankreich" nicht bekannt.
Verteidiger Elfferding weist nun anhand der Akten nach, daß es am 1. 1. 84 in Tripoli einen Bombenanschlag auf das dortige französische Kulturinstitut gab und die Bekennungen der OBAK sich möglicherweise darauf beziehen, will wissen, warum das in Berlin aufgegebene Schreiben diese "besondere Aufmerksamkeit" erfuhr während das fast wortgleiche Schreiben aus Tripoli zwar aufgezählt, aber sonst nicht weiter beachtet wurde. Helfrich kann sich nicht erinnern. Eine Anruf bei afp in Paris am 2. 1. 84, indem sich ein Mann im Namen der OBAK zu drei Anschlägen (Marseille/Tain l'Hernitage/Tripoli) bekennt, kann Helfrich auf hartnäckiges Nachfragen auch als Trittbrettfahrerei gelten lassen.
Und als der Verteidiger sich wundert, daß es in den Akten keinerlei Hinweise auf den Renseignement Generaux gibt, hat Helfrich eine einfache Erklärung: Es sei in Frankreich verboten, Hinweise des RG in den Akten als solche zu vermerken. Diese dürften nur anonym erscheinen. Gleiches gelte auch für Hinweise des DST. Danach befragt, warum die Spur "Gruppe Okzident" nicht weiter verfolgt wurde, weiß Helfrich zu berichten, daß der RG seinerzeit signalisiert habe, daß es diese Gruppe nicht mehr gebe. Damit war die Spur erledigt und wurde nicht weiter verfolgt. Ähnlich erging es dem "Islamischen Dschihad", der "Neuen Gruppe für ein sauberes Marseille" und einigen anderen. Weitere Bekennungen wie beispielsweise die der "Kinder Sheik Abdullahs" fanden erst gar kein Eingang in Helfrichs Bericht.
Nächster Termin: 03. 12., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500
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