Berlin: Weinrich-Prozess: 48. Verhandlungstag
Wissenschaftlichkeit und Subjektivität
48. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß
Frau Wagner, Schriftsachverständige beim BKA, war in Fortsetzung ihrer Vernehmung (vergl. 30. und 38. Verhandlungstag) geladen. Da dieses mal ein Projektor und eine hinter dem Richtertisch aufgehängte Leinwand zur Erläuterung bestimmter Schriftvergleiche zur Verfügung standen, begaben sich Richter und Schöffen zwecks besserer Sicht auf die Pressebank (einem Gegenbesuch des Pressevertreters wurde nicht wirklich stattgegeben).
Frau Wagner entwickelte dann anhand verschiedener Schriftstücke mit Weinrichs angeblicher Handschrift ein etwas verwirrendes Szenario von Buchstabenvergleichen. Verwirrend vor allem deshalb, weil niemand so recht wußte, was da eigentlich miteinander verglichen wurde und Frau Wagner reichlich Fachterminologie benutzte. Da war von Korentschriften, Auf- und Abstrichen, Verschleifungen und Ähnlichem mehr die Rede. Auch Anwälten, denen die dazu entsprechenden Unterlagen vorlagen, verstanden nicht immer, wovon die Rede war. Eine zuschauende Schulklasse empfand das Ganze wohl als arg langweilig und verließ nach einer Viertelstunde den Saal.
Anhand einer Diskussion in der Pause wurde dann klar, daß in dem erstatteten Gutachten Kopien von Kopien ungarischer Unterlagen miteinander verglichen wurden.
Frau Wagner charakterisierte ihre Ergebnisse als "exemplarische Befunde" die so auch "übertragbar seien". Am Rande räumte sie ein, daß "Nicht-Originale" problematisch sind. So kam sie in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, daß die untersuchten Handschriften mit "leicht überwiegender Wahrscheinlichkeit" Weinrich zuzuordnen seien. Dies sei in der neuen Sprachregelung des BKA die unterste Stufe der positiven Wahrscheinlichkeiten.
In der Befragung durch die Verteidigung und den Angeklagten wurde die Wissenschaftlichkeit der gemachten Äußerungen deutlich erschüttert. So räumte Frau Wagner nach Vorhalten ein, daß "der Schriftdruck eine bedeutende Rolle" bei der Bewertung einer Schriftprobe spiele und Verfälschungen ohne die Originale nicht auszuschließen sind. Bei Kopien, zudem solch schlechter Qualität, könnten alle Aussagen immer nur "Tendenzaussagen" seien, die "methodisch nicht abgesichert" sind. Auch spiele die "Erfahrung" eines Gutachters eine nicht unwesentliche Rolle.
In der weiteren Befragung relativierte sich die Wissenschaftlichkeit durch die teilweise beliebige Buchstabenauswahl der Gutachterin, zugegebener "subjektive(r) Momente in der Bewertung", sowie "Plausibilitäten" und "Interpretationen".
Am deutlichsten wurden solcherart "subjektive Momente", als Weinrich Frau Wagner vorhielt, daß sie in einem Schriftstück "Blow Marseille" und "action" gelesen hatte, während einer ihrer BKA-Kollegen an gleicher Stelle "Blow Marseille" und "election" (Wahl) gelesen hatte. Die eine Lesart vermittelt einen Tätereindruck, die andere einen Analytikervermerk, denn vor dem Attentat in Marseille hatten dort Bürgermeisterwahlen stattgefunden.
Verteidiger Häusler widersprach wegen der deutlich gewordenen Zweifel der Verwertbarkeit dieses Gutachtens.
Nächster Termin: 15.12., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500
|