Berlin: 159. Prozesstag | Sprengsätze für die Wahrheitsfindung
Einen „Prozess der politischen Justiz“ nannte RA Kaleck für den Angeklagten Matthias B. das RZ-Verfahren zu Beginn seines Plädoyers, nach Otto Kirchheimer einen „dubiosen Abschnitt der Rechtsgeschichte" und konstatierte, das 129-a-Verfahren gegen mutmaßliche einstige RZ-Mitglieder mute angesichts einer im Vergleich zu den 70-er Jahren völlig veränderten Situation anachronistisch an. Der Nimbus der Staatsschutzbehörden verblasse, doch der alte Beißreflex nach links funktioniere immer noch, wie Göteborg und Magdeburg zeigten. Ein weiteres Mal verwies er auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg im Magdeburger Verfahren, dass der problematische Paragraph 129 a nicht bei „terroristischen Vereinigungen“ greife, welche sich aufgelöst hätten, zumal ihnen eine spezifische Gefährlichkeit dann ja mangele. Die BAW habe mit dem billigen rhetorischen Trick, den Angeklagten den Willen zur Aufarbeitung der RZ-Geschichte abzusprechen, versucht, in einen politischen Diskurs dort einzusteigen, wo ihr die konkreten Verfahrensergebnisse nicht gepasst hätten.
Breit rechnete Kaleck einmal mehr mit der Kronzeugenregelung ab, die er mit dem SZ-Kommentator Heribert Prantl (8.12.03) als „gesetzliche Anstiftung zur Falschaussage“ nannte. Die Geschichte und Entwicklung der Vernehmungen und Aussagen des Kronzeugen im Laufe des nun vier Jahre laufenden Verfahrens gäben all jenen Kritikern der Kronzeugenregelung recht, die darin hohe Anreize zur Lüge und eine Eigendynamik von Falschaussagen sehen. Im übrigen, das komme erschwerend hinzu, sei ein Gutteil der Vernehmungen nicht einmal durch Aktenvermerke dokumentiert und somit nicht nachvollziehbar, mithin auch kaum für eine Verurteilung zu gebrauchen, welche allein auf Tarek Mouslis Aussagen beruhen soll. Außerdem seien die Aussagen der vernehmenden Beamten, insbesondere der beiden BKA-Beamten Schulzke und Trede nicht glaubwürdig, was Kaleck einmal mehr (u.a. im Zusammenhang mit der unendlichen Seegraben-Geschichte) nachwies. Trede hätte „objektiv die Unwahrheit“ gesagt und es gebe grundsätzliche Zweifel an den Aussagen der beiden Vernehmungsbeamten und – daraus folgend – ; am Zustandekommen der Mousli-Aussagen, so Kaleck. Bezug nehmend auf den BAW-Vorwurf der allzu blühenden Fantasie der VerteidigerInnen, reklamierte Kaleck geradezu ein Höchstmaß an Fantasie, um dem Denken der Staatsschützer auf die Spur kommen zu können: er erinnerte im Zusammenhang mit dem Seegraben an eine Episode im Schmücker-Prozess, wo im Mittellandkanal eine Schreibmaschine gesucht und – wie bei der Seegraben-Posse beim zweiten Anlauf – auch gefunden wurde. Einmal mehr machte Kaleck auch auf das Auseinanderklaffen von echtem Täterwissen und reinem Hörensagen in den Aussagen des Kronzeugen aufmerksam und wies in für eine Verurteilung relevanten Passagen nach, dass sich Mousli auf reines Hörensagen und Wissen aus zweiter Hand bezieht.
Liebedienerei, Kumpelhaftigkeit und unsägliche Tölpelhaftigkeit
Rechtanwältin Edith Lunnebach plädierte für ihren Mandanten Matthias B. auf Freispruch. Sie machte in einem geschliffenen Plädoyer deutlich, dass es niemandes Ernst sein könne, ihren Mandanten allein wegen der Aussagen des Kronzeugen verurteilen zu wollen. Dabei bezog sie sich u.a. auf Aussagen des Bundesgerichtshofes (BGH) in diesem Zusammenhang: Der kritischen Bewertung der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen müsse der Tatrichter danach mit besonderer Qualifikation, nämlich Kenntnissen der modernen Aussagepsychologie, nachkommen, hier seien besonders strenge Maßstäbe anzulegen. Die auf durchsichtige Weise gelenkte und, in der Dynamik von Erwartungshaltung der Behörden, Erfolgsdruck des Kronzeugen und entstehenden persönlichen Beziehungen, sich vollziehende Entwicklung seiner Aussage strotze nur so haarsträubenden Widersprüchen, von offenen Lügen und großzügig übersehenen Fehlern, denen zwingend ein Freispruch für den solchermaßen belasteten Angeklagten folgen müsse, so Frau Lunnebach. Ausführlich ging die Verteidigerin auf die einzelnen Ungeheuerlichkeiten von Vernehmungen und Aussagen des Kronzeugen ein. Insbesondere bei dem, was die Anwältin im Zusammenhang mit der Identifizierung ihres Mandanten durch Mousli an Aussagen zusammengetragen hatte, kann sich der unvoreingenommene Beobachter einmal mehr nur an den Kopf fassen. Da wirkt die Aussage der BAW in ihrem Plädoyer, Mouslis Aussagen enthielten „ausreichend viele Real-Kennzeichen“, angesichts deren „skandalös dürftiger Bewertung"; geradezu lächerlich. „Bei uns im Rheinland“, so führte Frau Lunnebach aus, gebe es bei Gericht eine Art Gegenprobe zu Zeugenaussagen in der Frage: „Was haben wir eigentlich ohne die Aussagen des Kronzeugen“. Diese Kontrollfrage sei dem hiesigen Gericht dringend zu empfehlen, denn – so ihre Schlussfolgerung – es habe der „erkennende Senat keine ausreichende Sachkenntnis, den Sachverhalt zu bewerten“. Auch sie ging noch einmal auf die Vernehmungsbeamten Schulzke („unsägliche Tölpelhaftigkeit“) und Trede sowie Mouslis Kontaktpersonen im Zeugenschutz und bei der BAW ein, sprach von deren „liebedienerischem Ansatz“ nichts zu hinterfragen oder offensichtliche Unklarheiten, Widersprüche oder Falschaussagen „in kumpelhafter Weise“ einfach stehen zu lassen. Dies Verhalten sei ein „Sprengsatz für die Wahrheitsfindung“. Mousli habe, so Lunnebach, bis zum Schluß ein, was den Wahrheitsgehalt betrifft, wohl dosiertes, taktisches Aussageverhalten an den Tag gelegt, mithin „sein Spielchen“ mit den Beamten gespielt, „überschießende Belastungstendenzen“ offenbart und stets das ausgesagt, was er für die Erwartung der Vernehmenden hielt. Rechtsanwältin Lunnebach stellte zur Untermauerung ihrer niederschmetternden Bilanz drei Hilfsbeweisanträge:
1. Mouslis sämtliche Aussagen als – zunächst – Beschuldigter, dann gleichzeitig Zeuge und Beschuldigter und schließlich als Kronzeuge zwischen 1999 und Januar 2001 sollen vor Gericht zur Verlesung kommen, um beweisen zu können, dass er von Anfang an – was er eingestand - "kunstvoll und bewußt gelogen“ hat, dann weiterhin bis zum 31.12.99 wahrheitswidrig erfunden hat und ab da quasi als Sachverständiger betrachtet und unhinterfragt gehört wurde.
2. Zu laden sei Prof. Köhnken, forensischer Psychologe an der Uni Kiel, der anhand des Aussageverhaltens des Kronzeugen zu den Lichtbildmappen nachweisen werde, dass die Vorlage „offensichtlich nicht korrekt“ vonstatten ging, die Identifizierung des vermeintlichen „Heiner“ eine „suggestive Vorgeschichte“ hat und der Aussagewert mithin gleich null ist.
3. Verlesung der Passagen aus Mouslis Aussage zum berühmten Waldspaziergang der Berliner RZ-Mitglieder, um zu beweisen, dass der Waldspaziergang eine reine Erfindung sei. In Mouslis Aussage nehmen an diesem fast schon legendären RZ-Ausflug in etlichen aufeinander folgenden Aussagen immer mehr Personen teil: was anfangs eine lauschige Vierergruppe war wächst sich im Laufe der Kronzeugenschaft geradezu zum Volkswandertag aus, der da durchs Unterholz bricht.
Beide Plädoyers werden ins Netz gestellt, deshalb entfällt ein noch längerer Bericht.
Am Freitag, 19. Dezember 2003 (4. Jahrestag!!!), geht es um 9.15 Uhr mit dem Plädoyer von RA Euler weiter.
Das Gericht hob den Termin am 2. Januar auf. D.h. nach dem Kurztermin am 29. Dezember 2003 (Richterin Hennig: „Muss ja!“) geht es dann erst am 8. Januar weiter!
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