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Berlin: Nachtrag: Weinrich-Prozess: 59. Verhandlungstag

Die selektive Darstellung eines Urteils

59. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß

Wie bereits angekündigt, beschäftigte sich die Kammer mit juristischen Formangelegenheiten, um den Verhandlungstag zu füllen. Dazu gehörte die Mitteilung, daß es in Sachen Rechtshilfeersuchen an Jordanien keine Neuigkeiten gebe, da "die jordanischen Behörden nicht reagieren", Teile aus den Aktenbeistücken "Separat" (MfS-Material über die Carlos-Gruppe) von Schöffen und Beisitzern im Selbstleseverfahren zu erkunden sind und eine etwas umfangreichere Verlesung von Teilen des Maison de France-Urteils gegen Weinrich und den seinerzeit mitangeklagten Shritah aus dem Jahre 2000. Letzteres war aufgrund der Auswahl der verlesenen Teile dann nicht nur Formsache, sondern ließ Ausrichtungen der Kammer erkennen. Dem Selbstleseverfahren des MfS-Materials widersprach die Verteidigung, da sie jenes Material aus hier schon des öfteren diskutierten Gründen für nicht verwertbar hält.

Die verlesenen Passagen aus dem MdF-Urteil betrafen zuerst eine Kurzbiographie Weinrichs, die auf Aussagen seines ehemaligen Mitkämpfers Schnepel beruhen. Demnach ist Weinrich in einem liberalen Elternhaus großgeworden, hat sich früh der linken Szene angeschlossen und war "vermutlich ab 1974" Mitglied der Revolutionären Zellen. Er lebte seinerzeit mit Magdalena Kopp zusammen, die "wahrscheinlich 1980 Illich Ramirez Sanchez heiratete". Weinrich und Kopp haben sich demnach Ende der 70er Jahre der Carlos-Gruppe angeschlossen. Diese verfolgte das Ziel, verschiedene Guerilla-Organisationen in Europa und dem arabischen Raum miteinander zu vernetzen.


Seit 1979 habe es dann auch Kontakte der Gruppe zum MfS gegeben. Dabei habe es sich um eine Art Stillhalteabkommen gehandelt. Das MfS sei einerseits daran interessiert gewesen, daß die Gruppe keine Anschläge gegen DDR-Einrichtungen im Ausland unternahm und wollte andererseits Informationen über die Gruppe(n) und ihre Aktivitäten "abschöpfen". Eine Bedingung dieses Abkommens sei gewesen, daß die Gruppe von Ost-Berlin aus keinerlei "Operationen" gegen West-Berlin oder West-Deutschland unternehme. Die Staatssicherheit habe die Gruppe aufgrund dieser Vereinbarung zeitweise in Ost-Berlin geduldet. Gruppenmitglieder seien in aller Regel mit syrischen Diplomatenpässen eingereist und hätten mitunter Kisten voller Waffen durch Ost-Berlin in Richtung Westen geschleust. Die Mitglieder der Carlos-Gruppe hätten dabei gewußt, daß sie überwacht wurden und ihre Hotelzimmer abgehört bzw. konspirativ durchsucht wurden. Weinrich habe sich bei verschiedenen Gelegenheiten gegenüber MfS-Mitarbeiter darüber beschwert.

Mit einem Telegramm des syrischen Außenministeriums sei die syrische Botschaft in Ost-Berlin angewiesen worden, der Carlos-Gruppe Unterstützung zu gewähren. Deshalb habe Weinrich ständig ein Koffer mit einer Pistole, einer Maschinenpistole und Sprengstoff in der Botschaft deponiert gehabt, wobei er die Pistole bei jedem seiner Besuche in der DDR dort abgeholt haben soll, um sie jeweils kurz vor dem Verlassen des Landes wieder dort zu hinterlegen.

Nach der Festnahme der mutmaßlichen Gruppenmitglieder Kopp und Breguet im Frühjahr 1982 in Paris habe die Gruppe zuerst versucht, die beiden durch Verhandlungen mit der französischen Regierung frei zu bekommen. Durch eine gezielte Indiskretion auf französischer Seite seien diese Geheimverhandlungen gescheitert und die Gruppe sei zu Anschlägen gegen französische Einrichtungen übergegangen. Das Gericht habe seinerzeit allerdings keine weiteren Feststellungen dazu treffen können.

Im Sommer 1982 soll Weinrich dann von Budapest kommend mit einem Koffer eingereist sein, der 24 Kg Nitropenta, einem militärischen Sprengstoff, enthielt. Dieser sei zuerst vom MfS konfisziert worden. Nach monatelangen Verhandlungen und nachdem Weinrich erklärt hatte, daß der Sprengstoff für eine arabische Befreiungsbewegung bestimmt sei, habe das MfS das Explosivmaterial am 16. August 1983 wieder an Weinrich übergeben. Dieser habe den Koffer nach Absprache mit dem Botschaftsmitarbeiter Shritah in der syrischen Botschaft in Ost-Berlin deponiert. Am gleichen Tag seien die Gruppenmitglieder Al Issawi ("Abul Hakam") und Al Sibai ("Feisal") in Ost-Berlin eingetroffen. Das MfS habe bei konspirativen Durchsuchungen der Hotelzimmer von Gruppenmitglieder Hinweise auf die Ausspähung französischer Einrichtungen in Berlin, Rom und Nizza abfotografiert, darunter Material über das Maison de France in West-Berlin. Am Tattag, den 25. August 1983 sei Weinrich frühmorgens bei Shritah in der syrischen Botschaft erschienen, um die 24 Kg Nitropenta abzuholen. Einen von Weinrich gewünschten Transport des Sprengstoffes nach West-Berlin hat Shritah nach eigenen Aussagen seinerzeit abgelehnt. Die Gruppenmitglieder Al Issawi und Al Sibai hätten um 10.05 Uhr desselben Tages die Grenzkontrollstelle Friedrichstraße nach West-Berlin überquert. Weinrich blieb in Ost-Berlin. Wie der Sprengstoff nach West-Berlin gelangt sei, konnte nicht geklärt werden. Ebensowenig konnte seinerzeit geklärt werden, wer den Sprengstoff im vierten Stock des Maison de France deponiert haben soll. (Anmerkung: Es gab nie ein Sprengstoff-Gutachten, das hätte klären können, ob es sich bei dem verwendeten Sprengstoff im Maison de France um Nitropenta handelte). Die Explosion im für den Besucherverkehr gesperrten vierten Stock des Gebäudes habe sich um 11.20 Uhr ereignet. "Abul Hakam" und "Feisal" hätten die Grenze von West- nach Ost-Berlin um 11.40 Uhr passiert und seien noch am gleichen Tag in verschiedene Richtungen abgereist. Weinrich sei gegen 13 Uhr in der syrischen Botschaft erschienen und habe Shritah aufgefordert, das Radio einzuschalten. Bei der Meldung des Anschlages habe Weinrich Shritah gegenüber bekundet, daß er mit dem Anschlag zu tun habe. Noch am gleichen Tag sei ein Bekenneranruf der armenischen Befreiungsorganisation ASALA bei einer Nachrichtenagentur eingegangen. Weinrich, von Mitarbeitern des MfS wegen des Anschlages zur Rede gestellt, habe auf die ASALA verwiesen, um nicht gegen das Stillhalteabkommen zu verstoßen. Zwei Tage später habe Weinrich Ost-Berlin verlassen. Anfang September sei dann beim damaligen westdeutschen Innenminister Zimmermann ein Bekennerschreiben der Carlos-Gruppe eingegangen, dessen Original allerdings verschollen ist. 1984 habe der ungarische Staatssicherheitsdienst dann bei konspirativen Durchsuchungen einer Wohnung der Carlos-Gruppe einen Brief von Weinrich an Sanchez abgelichtet, in dem sich dieser auf "die Operation Berlin" bezieht.

Durch herabstürzende Deckenteile seien bei dem Anschlag im darunterliegenden dritten Stock ein Mensch ums Leben gekommen und zahlreiche andere verletzt worden.

Die Begründung zum Urteil wurde vom Vorsitzenden Ehestädt mit der Begründung: "Die können wir uns schenken" übersprungen. Das ist verständlich, denn der Richterspruch der seinerzeitigen 23. Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Boß enthält äußerst bedenkliche Passagen. So wird dort beispielsweise zur Legitimität von MfS-Akten als Beweismaterial festgestellt, daß westdeutsche Geheimdienste wesentlich weitergehende Befugnisse als die Stasi hatten und dieses Material deshalb rechtsstaatlich verwertbar sei. Richter Ehestädt hat schon mehrfach zu erkennen gegeben, daß er dieses, durch den BGH abgesegnete Urteil übernehmen wird und sich so eine Prüfung der Legitimität gerne ersparen würde.

Weinrich wurde am 17. Januar 2000 nach vierjähriger Verhandlung zu lebenslanger Haft wegen Mordes, fünffachen versuchten Mordes und der "Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion" verurteilt. Der mitangeklagte Shritah erhielt als Kronzeuge zwei Jahre Haft auf Bewährung. Richter Ehestädt sprang sodann mit der Verlesung zu der Stelle im Urteil, mit der "die besondere Schwere der Schuld" gegen Weinrich festgestellt wurde. Diese wurde unter anderem mit einer "besonders grausamen Tötung" begründet, da der Tote unter den Trümmern erstickt sei, auch wenn sich nicht feststellen ließe, ob er das noch bewußt wahrgenommen habe.

Verteidiger Elfferding, der Weinrich auch damals verteidigt hat, wies auf einige "Merkwürdigkeiten" und "juristische Kuriositäten" hin, die sich beispielsweise in der Begründung zum Urteil gegen Shritah finden (Anmerkung: Dort wurden "mildernde Umstände" für Shritah u. a. damit begründet, daß "sich der Angeklagte während des gesamten Prozesses der Verhandlung zur Verfügung gestellt hat").

Weiterhin machte Elfferding darauf aufmerksam, daß Shritah laut einem SPIEGEL-Artikel seinerzeit vom BKA-Beamten Lehmann massiv bedroht und zu einer Aussage genötigt wurde. Aus den Akten gehe weiterhin hervor, daß sich die Aussagen von Beamten der deutschen Botschaft in Budapest (Anmerkung: Dort hielt sich Shritah vor seiner "freiwilligen" Einreise 1994 nach Deutschland auf) und dem BKA-Beamten Lehmann widersprechen. "Interessant an diesem Urteil ist eigentlich das, was nicht drinsteht" stellte Elfferding anschließend fest. Denn Richter Boß habe in seiner mündlichen Urteilsbegründung offen davon gesprochen, daß "Lehmann nachweislich die Unwahrheit gesagt hat". Davon findet sich dann in der schriftlichen Ausfertigung des Urteils allerdings nichts mehr. Elfferding zog dann als Beleg eine Notiz eines Richters Marhofer aus der Tasche, der seinerzeit im "La Belle-Prozeß" den Vorsitz innehatte. Auch in diesem Verfahren sollte Lehmann mit einem Auftrag ins Ausland reisen. Die damalige Verteidigung monierte dies allerdings aufgrund der Erfahrungen mit Lehmann im Umgang mit Shritah in Budapest. Richter Marhofer hatte daraufhin mit Richter Boß gesprochen und dieser hatte ihm bestätigt, daß Lehmann wahrheitswidrig ausgesagt hatte. Darüber hatte Marhofer eine Notiz angelegt und die war in die Hände der jetzigen Verteidiger gelangt.

Die Überraschung darüber war Generalstaatsanwalt Mehlis, der sowohl im Maison de France-Verfahren als auch im La Belle-Prozeß die Anklage vertrat, anzusehen. Diese Notiz kannte er scheinbar noch nicht.

Nächster Termin: 01.03., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500

 

23.02.2004
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  [Schwerpunkt: Weinrich-Prozess]  Zurück zur Übersicht

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