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Berlin: Nachtrag: Weinrich-Prozess: 62. Verhandlungstag

Juristisches Neuland auf der Grundlage von Nazi-"Recht"

62. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß

Eingangs des heutigen Verhandlungstages teilte der Vorsitzende Ehestädt mit, daß der Zeuge Riou noch "nicht entschieden hat, ob er für das Verfahren (weiterhin) zur Verfügung steht".

Es folgte die Mitteilung, daß die Staatsanwaltschaft MfS-Aktenteile nachgeliefert hat, die zur Einsicht bereit stehen, sowie drei "Mini-Beschlüsse". Wie fast schon nicht anders zu erwarten gewesen ist, lehnte die Kammer darin Anträge der Verteidigung über die Ladung von Zeugen und die Verlesung spezieller Schriftstücke im Zusammenhang mit der angeblichen Aussage des angeblichen Zeugen Issawi ab.

Der Rest dieses Verhandlungstages gehörte dann ganz der Verteidigung, die in der Person von RA Elfferding eine Gegenvorstellung zu den Beschlüssen der Kammer vom 1. März 2004 (siehe hierzu: 60. Verhandlungstag "33 abgelehnte Anträge in 20 Minuten") vortrug.

Zentrales Thema war auch hier wieder die angebliche Issawi-Aussage.

Zum einen vertrat Elfferding die Ansicht, daß der angebliche Zeuge Issawi bei der (auch von der Kammer so prognostizierten) voraussichtlichen Dauer des Verfahrens von mindestens vier Jahren jetzt noch nicht als "unerreichbar" gelten könne, sodaß die Verlesung seiner "Aussage" nicht geboten sei, bevor nicht wirklich alles versucht wurde, den "Zeugen" unmittelbar zu befragen. Ein Dringlichkeitsgebot bestehe nicht.

Zum anderen ging der Verteidiger detailliert auf die Begründungen der Beschlüsse vom 1. März unter besonderer Berücksichtigung der dort zitierten BGH-Entscheidungen ein. Die Verteidigung hatte sich der Mühe unterzogen, jene Entscheidungen ausführlich nachzulesen, was die Kammer bei ihren Beschlüssen "offenbar nicht getan hat". Denn alle zitierten BGH-Entscheidungen sind nach Ansicht der Verteidigung auf den hiesigen Fall nicht anwendbar. In allen Fällen, in denen ein anonymer Zeuge als Beweismittel akzeptiert und höchstrichterlich abgesegnet wurde, war zumindestens der jeweils Vernehmende erreich- und befragbar. Dies sei hier nicht der Fall. Im Gegensatz dazu, seien beispielsweise Erklärungen von Dritten über Zeugen in den BGH-Entscheidungen nicht als "mit dem Willen und im Auftrag des Zeugen zustande gekommene Erklärungen" zu werten und deshalb nicht verwertbar. Der "Wille und Auftrag eines Zeugen" müsse in dem jeweiligen Dokument neben Unterschriften und vernehmbaren Vernehmern erkennbar sein. Auch dieses Merkmal fehle bei der Issawi-"Aussage". Insofern könne sich die Kammer eben nicht auf jene BGH-Entscheidungen berufen.

Mit einem Abstecher in die Geschichte der Jurisprudenz in Deutschland eröffnete Elfferding eine weitere Dimension im Rahmen der angefochtenen Beschlüsse. Demnach sei die Identifizierbarkeit eines Zeugen ein Produkt der bürgerlichen Revolution zum Schutz des Bürgers vor der Willkür der Feudalherren. Dieses Recht habe von 1852 an gegolten und wurde erst 1943 per Anordnung von der Nazi-Justiz "ergänzt", weil seinerzeit die Notwendigkeit bestand, Verfahren auch dann durchführen zu können, wenn Zeugen an den verschiedenen Kriegsfronten im Einsatz waren. (Anmerkung: Hier ist vom =A7 251, Abs. 2 StPO die Rede, siehe unten *). Elfferding verwies darauf, daß die Kammer in ihren Beschlüssen vom 1. März 2004 ausdrücklich Bezug auf dieses bis heute geltende "Nazi-Recht" genommen habe, um "über das hinaus zu gehen, was bisher höchstrichterliche Rechtsprechung war". Dabei habe die Kammer unberücksichtigt gelassen, daß selbst der =A7 251, Abs. 2 StPO davon ausgeht, daß eine Vernehmung nur dann durch eine Niederschrift oder Urkunde ersetzt werden kann, wenn diese "eine von ihm (dem Zeugen) stammende schriftliche Erklärung enthält". Dies aber sei bei der in Berichtsform abgefaßten GID-"Aussage" Issawis nicht erkennbar. Ob dies einer möglichen Revision standhalte, sei sehr fraglich.

Staatsanwalt Mehlis kommentierte dies mit dem Hinweis, daß RA Elfferding bereits im Maison de France-Verfahren mit der "Revisionskeule gedroht" habe und dies schließlich auch nicht erfolgreich war.

Eine mögliche Revision im jetzigen Verfahren schien man hinter dem Richtertisch ebenfalls nicht sonderlich zu fürchten, denn während der Verlesung der Gegenvorstellung waren zwei Schöffen eingeschlafen, während sich die Richterschaft unterhielt bzw. gelangweilt in Papieren herumblätterte.

*(=A7 251, Abs. 2 StPO: Hat der Angeklagte einen Verteidiger, so kann die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten durch die Verlesung einer Niederschrift über eine andere Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Staatsanwalt, der Verteidiger und der Angeklagte damit einverstanden sind. Im übrigen ist die Verlesung nur zulässig, wenn der Zeuge, Sachverständige oder Mitbeschuldigte verstorben ist oder aus einem anderen Grunde in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann.)

Nächster Termin: 22.03., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500

 

15.03.2004
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  [Schwerpunkt: Weinrich-Prozess]  Zurück zur Übersicht

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