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Berlin: 174. Prozesstag | Klassendünkel + Verurteilungswille = Karlsruher Logik˛ nach Berliner Kammergerichts- Art


Er war die ganze Zeit spürbar präsent, während die Vorsitzende Richterin des 1. Strafsenats des Kammergerichts Berlin, Gisela Hennig, die Urteile im so genannten Berliner RZ- Prozess verkündete. Dass die Revolutionären Zellen 1987 dem Asylrichter am Bundesverwaltungsgericht a.D. Dr. Günther Korbmacher im Rahmen ihrer Flüchtlingskampagne wegen dessen skandalösen Entscheidungen in die Beine geschossen hatten, bewegte auch mehr als 25 Jahre danach die RichterkollegInnen des Kammergerichts. Anfang der achtziger Jahren wurde der 9. Senat unter der Leitung von Korbmacher durch zahlreiche Entscheidungen zum Vorreiter für eine restriktive Asylrechtsprechung. 1983 fällte das Bundesverwaltungsgericht unter Korbmacher das denkwürdige Folter- Urteil, in dem festgelegt wird, dass Folter nur dann als Asylgrund anerkannt wird, wenn der folternde Staat sie aus explizit politischen Motiven begeht. (vgl. auch Plädoyer der Rechtsanwältin Silke Studzinsky) An diesem Donnerstag ging fast auf den Tag genau nach drei Jahren der Prozess in Sachen Berliner RZ zu Ende. Wie der Senat mit seinen Ausführungen deutlich machte, hätte es dieser dreijährigen Verfahrensdauer aber eigentlich nicht bedurft - die zum Teil recht engagiert und zäh geführte Beweisaufnahme an dem einen oder anderen Punkt spielte bei der Urteilsbegründung nämlich keine Rolle.


Unerwartete Eile zum Schluss

Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass an diesem Donnerstag der Prozess zu Ende gehen würde. Noch eine Woche zuvor hatte die Verteidigung einige Beweisanträge gestellt. Insofern war frühestens für den folgenden Tag mit dem Urteilsspruch gerechnet worden - wenn nicht sogar erst eine Woche später. Und so waren es nur die üblichen Hand voll Verdächtiger, die seit einiger Zeit regelmäßig auf den ZuschauerInnenbänken saßen, die diesen Schlusspunkt beispielhafter politischer Feindjustiz hautnah miterleben konnten. Dass nur ein Teil der Angeklagten und der VerteidigerInnen über das Programm des Prozesstags informiert waren, war für das Verfahren charakteristisch, hatte es doch eine gemeinsame Haltung der Angeklagten zu den Vorwürfen, geschweige denn eine gemeinsame Verteidigungsstrategie in diesem Verfahrens nicht gegeben.

Bevor die Vorsitzende Hennig allerdings zur Tat, also der schon lange feststehenden Verurteilung der Angeklagten, schreiten konnte, musste dem ordentlichen Verlauf der Hauptverhandlung genüge getan werden. Also erklärte Rechtsanwalt von Schliefen, dass er den am letzten Prozesstag gestellten Antrag auf Vernehmung der Zeugin J. zurückziehe - "weil sie sich aufs Kreuz gelegt fühlen", Hennig: "So ist es!". So mussten nur noch seine Hilfsbeweisanträge, mit denen die Ladung von VernehmungsbeamtInnen verlangt worden waren, verhandelt werden. Die Stellungnahme der Bundesanwaltschaft (BAW): Der Antrag sei abzulehnen, weil unbegründet. Die in den Vernehmungen vorgetragenen Behauptungen des Kronzeugen seien bereits Thema der Beweisaufnahme gewesen, eine Vernehmung der BeamtInnen deshalb nicht notwendig. Danach stellte von Schliefen einen weiteren Hilfsbeweisantrag, in dem er im Falle einer Verurteilung seines Mandanten wegen eines Sprengstoffvergehens die Vernehmung einer Zeugin verlangte, die bestätigen würde, dass Axel H. vor 1989 nicht als freier Mitarbeiter im Mehringhof beschäftigt gewesen sei. Dass es nicht üblich sei zu Hilfsbeweisanträgen in dieser Form Stellung zu beziehen, betonte zunächst Bundesanwalt Bruns, der sich nach entsprechender Aufforderung durch das Gericht - dann doch noch - zu einer Bewertung durchrang: Ihm sei nicht aufgefallen, dass Mousli jemals einen solchen formalen Status in seiner Aussage behauptet habe. Problem erledigt.


Die Angeklagten haben das letzte Wort

Nach einer Unterbrechung folgte dann das Übliche: Alle noch offenen Beweisanträge wurden vom Gericht abgelehnt. So beschied das Gericht dem Antrag der Verteidigung von Matthias B., eine Zeugin zu laden, die noch zwei Tage vor dem Knieschussattentat auf Korbmacher das bei dem Anschlag benutze Motorrad in Neuss gesehen haben will, dass er "aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung sei". Auch die Beweisanträge der Verteidigung von Axel H. wurden abgelehnt, habe man doch der Intention der Anträge durch die Ladung des Kronzeugen Mitte Januar 2004 entsprochen. Punkt, Schluss, Aus: Die Beweisaufnahme war damit endgültig geschlossen.

Weiter ging es nach dem formalen Programm eines "rechtsstaatlichen" Verfahrens - mit den Strafanträgen der Bundesanwaltschaft und der Verteidigung sowie den Schlussworten der Angeklagten. Bundesanwalt Bruns macht es diesmal kurz: "Ich wiederhole die bereits gestellten Anträge." Gleiches tat - ähnlich wortkarg - die Verteidigung. Axel H. verwies auf seine Erklärung vom 26.2.2002, in der er die gegen ihn erhobenen Anklagepunkte im wesentlichen bestritten hatte. Rudolf Sch. schloss sich ausdrücklich den Anträgen seiner Verteidigung an. "Ich habe diesem Gericht nichts zu sagen", erklärte dagegen Harald G.


Urteilsgründe nach Anklage

Nun folgte der lange, in seinem Ergebnis vorherzusehende, in seiner Umsetzung dann aber doch die ganze Fragwürdigkeit dieses Verfahren offenbarende Schlusspunkt - die Urteilverkündung samt abgelesener Begründung (bis zum Schluss also blieb die Vorsitzende ihrer inkompetenten und unbeholfenen Verfahrensführung treu): Wegen Rädelsführerschaft und Beteiligung an den Sprengstoffanschlägen auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) 1987 sowie die Berliner Siegessäule 1991 erhielt Matthias B. vier Jahre und drei Monate. Ebenfalls wegen Rädelsführerschaft, allerdings nur wegen dem ZSA- Anschlag lautete der Urteilsspruch für Sabine E. und Rudolf Sch. jeweils drei Jahre und neun Monate. Axel H. verurteile das Gericht zu zwei Jahren und zehn Monate - drei Monate über dem Antrag der BAW - wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" und der Beteiligung an beiden Sprengstoffanschlägen. Wegen der Beförderung explosionsgefährlicher Stoffe, dem Siegessäulen-Anschlags und Mitgliedschaft erhielt Harald G. zwei Jahre und neun Monate. Die Haftbefehle wurden aufgehoben, so dass alle Angeklagten sich fortan ohne Restriktionen frei bewegen können; die gestellten Sicherheitsleistungen werden zurückgezahlt. Die Kosten des Verfahrens gehen allerdings auf das Konto der Angeklagten - gesamtschuldnerisch.

Da sich die vorgetragenen Urteilsgründe in Gänze der Anklage der Bundesanwaltschaft entnehmen lassen, greifen wie an dieser Stelle auf die Zusammenfassung der Anklageschrift zurück, wie sie am 17. Mai 2001 auf www.freilassung.de erschienen ist, und ergänzen sie um die entsprechende Ausführung des Senats:
Zusammenfassung der Anklageschrift (mit Ergänzungen des Senats)

In den Anklageschriften wirft die Bundesanwaltschaft allen fünf Beschuldigten neben der Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen einen Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) vom Februar 1987 vor (Senat: "Die Idee hatte Sch. Die Computeranlage sollte vernichtet werden. Die Hintergrundinformationen lieferte Matthias B."). Matthias B., Harald G. und Axel H. werden darüber hinaus beschuldigt, einen Anschlag auf die Berliner Siegessäule im Januar 1991 verübt zu haben. (Senat: "Beide Zellen diskutierten noch die Aktion. B., G. und H. beschlossen den Anschlag auszuführen.") Axel H. wird weiter des "Hantierens mit Sprengstoff" bezichtigt, er soll zwischen 1987 und März 1995 ein Waffen- und Sprengstoffdepot im Berliner Mehringhof verwaltet haben. (Senat:"Tarek Mousli lenkte von Anfang an den Verdacht darauf, dass im Mehringhof ein Depot gewesen wäre. Eine genaue Erinnerung, wo der Sprengstoff versteckt werden sollte, hatte er nicht. Die Beweisaufnahme kam nicht zu dem Ergebnis, dass dort kein Versteck war. Die Durchsuchungen ergaben jedoch, dass es dort viele Versteckmöglichkeiten gab." Dennoch wurde Axel H. nicht wegen dieses Straftatbestands verurteilt, da der Senat nicht ausschließen konnte, "dass das Depot in rechtsverjährter Zeit ausgelagert wurde".) Außerdem wird er angeklagt, unerlaubt eine Waffe besessen zu haben, die im November 1999 in seiner Wohnung gefunden worden sei. (Dieser Vorwurf wurde am 172. Prozesstag "vorläufig fallen gelassen") Auch Harald G. ist des "Hantierens mit Sprengstoff" angeklagt. Er soll im März 1995 den restlichen Sprengstoff aus dem "Mehringhof-Depot" im Keller von Tarek Mousli, dem Zeugen der Anklage, hinterlegt haben. (Senat: "Im März 1995 trat G. an den Zeugen Mousli mit der Bitte heran, den Sprengstoff kurze Zeit zu lagern.")

Rudolf Sch. wird eine besondere Rolle zugeschrieben und daher "Rädelsführerschaft" vorgeworfen. (Im Verlauf des Prozess hatte der Senat den Vorwurf der Rädelsführerschaft auch auf die Angeklagten Sabine E. und Matthias B. ausgeweitet.) Nicht mehr strafrechtlich relevant sind die so genannten Knieschussattentate auf den Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg im Jahr 1986 und auf den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Karl Günter Korbmacher im Jahr 1987 ("Sollte der Höhepunkt der Flüchtlingskampagne sein."). Dennoch nehmen sie in der Anklageschrift einen breiten Raum ein. Von den fünf Angeklagten sollen sich auf den Anschlag auf Harald Hollenberg Sabine E., Matthias B., Axel H. und Rudolf Sch. beteiligt haben. (Harald G. befand sich zu diesem Zeitpunkt im Ausland) Beim Anschlag auf Günther Korbmacher geht die BAW von einer Beteiligung aller fünf Angeklagten aus.

Die BAW glaubt beweisen zu können, dass es zwischen 1985 und 1990 in Berlin zwei RZ-Gruppen gab.(Senat: entspricht dem RZ-Motto "Schafft viele Revolutionäre Zellen") Weiterhin hätte es weitere Gruppen in Hamburg und Niedersachsen, dem Rhein-Main-Gebiet und in Nordrhein-Westfahlen gegeben. Ab 1977 hätte sich die "Rote Zora" als feministischer Zweig gebildet, die sich - nach Ansicht der BAW - spätestens 1987 ideologisch von den Revolutionären Zellen getrennt habe. Die einzelnen Zellen sollen "autonom" existiert und abgeschottet voneinander operiert haben. Gleichwohl - so die BAW - "waren sie doch dem gemeinsamen Ziel verpflichtet und suchten den gemeinsamen Zweck mit vereinten Kräften zu erreichen." Die Berliner Zusammenhänge hätten als selbstständige "regionale Teilorganisation" agiert. (Senat: "Die RZ waren eine linksextreme Terrororganisation, die aus zahlreichen autonomen Gruppen bestand. Es bestand ein strenges Abschottungsprinzip.")


Die eine Berliner Zelle bestand - nach Ansicht der BAW - aus Sabine E. (Deckname "Judith"), Harald G. ("Sigi"), Rudolf Sch. ("Jon"), Lothar E. ("Sebastian") und Gerd Albartus ("Kai"), der im Jahre 1987 von einem palästinensischen Tribunal ermordet wurde. Die zweite Zelle hätte aus Matthias B. ("Heiner"), Axel H. ("Anton") und einem Mann mit dem Decknamen "Toni" bestanden, der bislang nicht identifiziert werden konnte. Obwohl - so die BAW - "alle Mitglieder nach den Prinzipien der Organisation gleichberechtigt waren" hätte es eine "Führungsposition" der langjährigen Mitglieder der Gruppen gegeben. (Senat: "Auf Grund ihrer Erfahrungen und ihrem praktischen Wissen hatte die älteren Mitglieder eine bestimmende Rolle.") Diese "führenden Mitglieder" hätten auf überregionalen Treffen der verschiedenen regionalen Zellen, den "Assemblea-" oder "Miez-Treffen" eine zellen- oder gruppenübergreifende Abstimmung gewährleistet (Die hervorgehobene Stellung von Matthias B., Sabine E. und Rudolf Sch. "manifestierte sich nach außen durch die Kontakte auf den Mieztreffen".). In der einen Berliner Gruppe hätten nach Anklageschrift Sabine E. und Rudolf Sch. eine führende Rolle innegehabt. In der anderen Berliner Gruppe sei Matthias B. ein besonderes Gewicht bei Entscheidungen zugefallen.

Soweit unsere damalige Zusammenfassung.


Was das Gericht nach drei Jahren über die Angeklagten noch wusste

Sabine E. und Rudolf Sch., die 1978 in Frankfurt am Main in den Verdacht geraten waren, RZ-Militante zu sein, gelang es "abzutauchen, fortan lebten sie in der Illegalität". Dort hätten sie sich nach Ansicht des Senats von den RZ zurückgezogen, seien dann aber Mitte der 1980er Jahre in Berlin wieder aktiv geworden. 1985 seien sie in die Mauerstadt gezogen. Hier sollen dann Lothar E. und Tarek Mousli ins Spiel gekommen sein. Beide seien damals in einer Funkgruppe aktiv gewesen, die gezielt den Funkverkehr von Verfassungsschutz und politischer Polizei abhörte. "Ihre Erkenntnisse waren für E. und Sch. wichtig." Ermöglichten diese doch nach Auffassung des Senats, dass beide sich in der Illegalität quasi gefahrlos bewegen konnten, da sie durch die Gegenspionage der Funkgruppe über jeden Schritt der Ermittlungsbehörden informiert gewesen wären. Eine Erkenntnis, die sich im weiteren Verlauf der Urteilsbegründung als äußerst praktisch erweisen sollte. Denn: "Jederzeit habe man die Illegalen warnen können. Welche Gefahr hatte da gedroht?" Also konnten sich die beiden in Westberlin frei bewegen, mussten keine besonderen Vorkehrungen treffen und waren für alle Aufgaben einsetzbar.

Dass Matthias B. RZ-Militanter war, "daran besteht nicht der geringste Zweifel". So habe Mousli von Anfang an behauptet, "Heiner" sei bei der TU beschäftigt gewesen, wohne in einer bestimmten Straße in Berlin-Kreuzberg, habe eine Tochter und kenne Thomas Kram. Zwar habe Mousli "Heiner", den er nur einmal beim so genannten Waldspaziergang gesehen haben will, auf Fotos nicht gleich erkannt, doch Dank der Hilfe von Bundesanwalt Moré habe die Identifizierung dann doch geklappt. Matthias B. sei wohl ein langjähriges Mitglied - "mit großer Wahrscheinlichkeit, aber sicher ist das nicht". Schließlich habe er ja auch jahrelang in der Mehringhof-Kneipe "Ex" verkehrt.

Auch wenn es "offiziell" keine Kommandostrukturen gegeben habe, hätten die drei dennoch eine bestimmenden Einfluss auf die Politik der RZ genommen. Sabine E. sei eine "dominante Persönlichkeit", was sie im Gerichtssaal anschaulich bewiesen hätte und wie es auch Mousli berichtet habe. Rudolf Sch. dagegen sei "wegen seiner handwerklichen Fähigkeiten der Mann fürs Praktische". Matthias B. - so wusste der Senat zu berichten - war "als Verfechter einer harten Linie bekannt". Woher er dieses Wissen bezog, ist nicht klar, von Matthias B. nicht, den er schweige im Gegensatz zu den teilgeständigen E. und Sch. Dieses "Dreigestirn" (Bundesanwalt Bruns) hatte eine "hervorgehobene Stellung" gehabt, "sie stimmten das Vorgehen der beiden Gruppen in Berlin ab". Sabine E. und Matthais B. sollen zudem Bekennerschreiben zu verschiedenen Anschlägen verfasst haben.

"Er gibt nur das zu, was ihm ohnehin nachzuweisen war", so beurteilte der Senat die Einlassung von Axel H.. Er hatte Unterstützungsleistungen für die RZ eingestanden, und zudem angegeben, nach kurzer Zeit den Kontakt ganz abgebrochen zu haben, weil er in anderem Zusammenhang ins Blickfeld polizeilicher Ermittlungen geraten war. Abwägung ist die Sache dieses Senats nicht. Die untrüglichen Beweise für seine Mitgliedschaft: die Telefonnummer von Rudolf Schindler im Adressbuch ; ein Karbonband einer im Wohnprojekt von Axel H. gefundenen Schreibmaschine, auf der das BKA die Worte "Hallo Langer" (Spitzname von Tarek Mousli) und den Namen "Anton" gefunden hat; und die Aussage eines Rechtsanwalts, ein Kollege habe ihm Grüße an Mousli von "Anton" ausgerichtet, und auf die Nachfrage, wer das sei, die Antwort bekommen, Axel Haug. Harte Indizien, die seine Einlassung widerlegen, sind das nicht. Auch Unterstützer können sich so verhalten, wenn ein ehemaliger Militanter in den Knast einfährt.

Dass Harald G. Mitglieder der RZ war, "davon muss zweifellos ausgegangen werden", so das Gericht, denn: Noch heute engagiere er sich in der Flüchtlingspolitik. Weitere Indizien: Die von Mousli in einen RZ-Zusammenhang gebrachte so genannte Postsparbuch-Aktion. 1987 war Harald G. wegen Betrugs verurteilt worden, weil er mit einem gefälschten Postsparbuch Geld abgehoben hatte. In den Augen des Gerichts zeigte sich in diesem Delikt zwei fatale Eigenschaften von Harald G.: Seine Bereitschaft, sich finanzieller Belange anzunehmen und sich mit Buchhaltung zu beschäftigen, und seine Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Senats-O-Ton: "Er ist ein Vereinsmeier, der dazu neigt, sich mit anderen zusammenzuschließen." Team-Fähigkeit nennt mensch das in anderen Zusammenhängen, und dies gilt dort als eine wichtige Qualifikation. Buchhaltung und "Vereinsmeierei" - Eigenschaften, die Harald G. in der Wahrnehmung des Senats geradezu zur Idealbesetzung eines ominösen "Koordinierungsausschusses" machen; ein vom Kronzeugen eingeführtes Gremium der radikalen Linken Westberlins der 1980er Jahre, das großzügig Geld verteilte - unter anderem, so das Gericht, auch an untergetauchte RZ-Militante. Weiteres Indiz: Die Bekanntschaft von Harald Glöde mit Personen, die laut Mousli in diesem "Ausschuss" saßen. So geht es wohl tausend anderen auch, die in den 1980er Jahren autonome Politik in Westberlin gemacht haben, handelt es sich dabei doch um szenebekannte Personen mit einem hohen Bekanntheitsgrad.


Das zentrale Beweismittel: der Kronzeuge

Wie gezeigt, haben drei Jahre Beweisaufnahme gegen die Angeklagten nicht viel mehr an Erkenntnis zu Tage gebracht als Mutmaßungen, Unterstellungen und interessensgeleitete Interpretationen. Normaler Weise hätte man von einem rechtsstaatlichen Verfahren erwarten dürfen, dass die Aussagen des Zeugen der Anklage kritisch überprüft und in Verbindung mit anderen Erkenntnissen abgewogen werden. Hier war es allerdings genau anders herum: Die Anschuldigungen Mouslis wurden für bare Münze genommen und alle entgegenstehenden Erkenntnisse - mit zum Teil enormer Fantasie - zum Teil bis zur Unkenntlichkeit gegengebürstet. An der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen durften keine Zweifel bestehen, wollte man zumindest den Schein eines rechtsstaatlichen Verfahrens aufrecht erhalten - war der Kronzeuge doch das zentrale, um nicht zu sagen einzige "Beweismittel". Deshalb durfte kein trübes Licht auf den Kronzeugen fallen. Und das funktionierte so:


Kein Druck, nirgends

1. "Der Senat glaubt ihm (= Mousli), dass er die Kronzeugenregelung nicht vor seiner dritten Verhaftung annehmen wollte." Denn: Bei seiner ersten Festnahme im April 1999 habe Mousli sich zu den Vorwürfen nicht geäußert. Einen Monat später räumte er den Sprengstoffbesitz ein, doch erst nachdem er von seiner ehemaligen Lebensgefährtin Carmen T. schwer belastet worden war und die BAW gegen ihn den Vorwurf der Rädelsführerschaft erhob (Mindeststrafe" drei Jahre"), habe sich Mousli zur Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden entschlossen. "Erst dann änderte er sein Verhalten." Wir erinnern uns: Bundesanwalt Monka machte zu diesem Zeitpunkt Mousli eine einfache Rechnung auf. Das "Negativszenario" (Monka): lange Ermittlungen, langes Verfahren, langer Prozess. Mousli müsse als "Märtyrer der RZ" mit mindestens fünf bis sechs Jahren Haft rechnen. Variante 2, der "günstigste Fall" (Monka): Mousli mache "hochkarätige Aussagen", lege ein voll umfängliches Geständnis ab und Informationen offen, die dem BKA bis dahin noch nicht bekannt waren. Insbesondere die Berliner RZ sei bis dahin ein "unbeschriebenes Blatt, man könnte auch sagen Schwarzes Loch" für die Ermittlungsbehörden gewesen. Er habe, so Monka, Mousli auch klargemacht, dass er nicht nur umfangreich aussagen müsse, sondern auch "Knüller" zu liefern habe. Mousli, ein "Mann der klaren Worte", müsse auch "Hintermänner" nennen. Aussagen zu anderen Personen könnten strafmildernd wirken, wie dies etwa in Betäubungsmittel-Verfahren üblich sei, wenn Beschuldigte Aussagen zu "Tatgenossen" machten. Bei dieser Variante könne er, Mousli, mit einem schnellen Verfahren und Prozess rechnen und käme in den Bereich einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. (Wie es dann auch geschah) Die schlichte, rechtsstaatliche Würdigung dieses Vorgangs durch den Senat: Das sei "keinesfalls eine Nötigung, wie es ein Verteidiger ausdrückte, sondern ein zulässiges Mittel der Strafverfolgungsbehörden".


Kein Grund zum Lügen

2. Selbst die BAW hatte eingeräumt, es sei "nicht zu verkennen, dass für Tarek Mousli ein starkes Motiv bestand, ein Geständnis abzulegen". Der Senat bewies an dieser Stelle Selbstständigkeit und setzte sich von der BAW ab: "Der Senat ist überzeugt, dass er die Angeklagten nicht aus Eigennutz über Gebühr belastete." Von Anfang an habe er "Jon", "Judith", "Heiner" und "Siggi" beschuldigt. "Anton" und "seinen besten Freund Lothar E. wollte er anfangs heraushalten". Deshalb habe Mousli in dieser Situation "zum Teil widersprüchliche und falsche Aussagen" gemacht. Aber daraus mag der Senat dem Kronzeugen keine Strick drehen und vor allem keine weiteren Schlussfolgerungen ziehen - ganz im Gegenteil: "Das Lavieren zeigt seine Unerfahrenheit mit einer solchen Situation" - denn: "Er ist nicht der geborene Lügner, wie er in der Hauptverhandlung dargestellt wurde." Zudem: "Der Senat hält er es für ausgeschlossen, dass er falsche Tatbeteiligungen ausspricht." Warum: Die originelle Begründung des Senats lautete, er habe sich oft mit Sympathie zu den Angeklagten geäußert, etwa zu Harald G., den er als "Lieben" charakterisierte.


Detailliertes Täterwissen

3. Der Senat stellte qua "freier Beweiswürdigung" fest: Die Aussagen des Kronzeugen "enthielten eine Fülle von Täterwissen". Viel mehr war dem Senat dazu nicht zu entlocken. Also halten wir an dieser Stelle fest: In einer Reihe von Punkten stimmen seine Schilderungen mit dem Tatablauf nicht überein - richterlicher Ausweg: "Der Tatplan war ohne sein Wissen geändert worden." Da wurde ein Auto angeblich gestohlen, tatsächlich aber gekauft. Da wurde ein Bahnübergang zur Brücke und der Ort, wo RZ-Militante das Fahrzeug wechselten, zu einer anderen Straße. Der geschilderte Aufbau des Sprengsatzes, der beim Anschlag auf die ZSA zur Verwendung kam, passt nicht mit den Tatortermittlungsergebnissen des BKA zusammen. Da soll Harald G. am Anschlag auf die ZSA beteiligt gewesen sein, tatsächlich befand er sich in Polizeigewahrsam. Worin sich das "Täterwissen" beim Anschlag auf die Siegessäule äußerte, wird wohl immer Geheimnis des Gerichts belieben. Mousli selbst hat zugegeben, dass er davon nur vom Hörensagen weiß (und was er zu berichten hatte, reichte tatsächlich nicht über die damalige Presseberichterstattung hinaus). Aber wie gesagt, eine "Fülle von Täterwissen".


Was nicht passt, wird passend gemacht

Dass den Aussagen Mouslis auch von einem Teil der Angeklagten widersprochen wurde, war für den Senat ohne Belang. Galt für den Kronzeugen absolute Glaubwürdigkeit, waren die Angeklagten generell unglaubwürdig - und eigennützig, um bei der Wortwahl des Senats zu bleiben. Rudolf Sch. habe aus dem einfachen Grund einer möglichen Haftverschonung Einlassungen gemacht. Dabei allerdings "nur das Mindeste und nicht bestreitbar" zugegeben. Gleichzeitig habe er das Ziel verfolgt, seine Ehefrau Sabine Eckle zu entlasten. Unglaubwürdig sei seine Aussage auch deshalb, weil er andere nicht belasten wollte, Mousli als Lügner hinstelle und sich weigerte, zu seiner Einlassung befragt zu werden. "Es liegt auf der Hand, warum das verweigert wurde", so der Senat: Er wollte sich nicht in Widersprüche verwickeln. Das vernichtende Urteil: "Dieses Taktieren hat den Angeklagten Sch. und E. mehr geschadet, als genutzt." Denn: "Mit einem solchen Aussageverhalten werden die Aussagen des Tarek Mousli gestützt."

Um zu dieser Bewertung zu kommen, schreckte der Senat auch nicht vor Falschdarstellungen zurück. Rudolf Sch. hatte in seiner ersten Einlassung im Januar 2002 u.a. ausgeführt: "Während die Absicht hinter den meisten seiner Lügen entschlüsselbar bleibt, ist mir ein Rätsel, warum er Leute als Mitglieder angibt, die keine waren, und andere dafür rauslässt." Mit spürbarer Verachtung behauptete die Vorsitzende, Rudolf Sch. habe davon gesprochen, dass keiner der Angeklagten Mitglied der RZ war. Mit Trimmmolo in der Stimme holte die Vorsitzende zum vermeintlich vernichtenden Schlag aus: "Wenig später gibt 'Anton' das zu - so viel zu Wahrheitsliebe des Schindler." Von ähnlicher Qualität waren die weiteren Bemühungen des Senats, andere Darstellungen der Ereignisse zu diskreditieren - etwa bei den beiden Zeuginnen Barbara W. und Carmen T. "Der Senat stimmt zu, dass die Zeugin grotten schlecht war, wie es ein Verteidiger genannt hat", wurde erstere abgekanzelt, die sich selbst der Schüsse auf die Beine von Hollenberg bezichtigt hatte. Der ehemaligen Lebensgefährtin von Mousli, Carmen T, attestierte der Senat - in offenkundiger Verkennung der Tatsache, dass immer vier Finger auf einen selbst zeigen, wenn man mit dem Zeigefinger auf eine Person deutet -, sie sei "geistig nicht sehr beweglich". Als "ehemalige DDR-Bürgerin" war ihr die ganze Sache sowieso "fremd", und dass Mousli ihr etwas über seine Vergangenheit erzählt habe, sei unwahrscheinlich. Allerdings reichte ihre Aussagen im Oktober 1999 - zumindest der BAW - aus, um die Ermittlungen gegen Tarek Mousli um den Vorwurf auf Rädelsführerschaft auszudehnen und der Zeugin die Aufnahme ins BKA-Zeugenschutzprogramm anzubieten.


Revolutionärer Zorn zum objektiven Beweismittel geadelt

Neben Wissen von Hörensagen zog der Senat für die Verurteilung auch reichlich angelesenes Wissen heran. Vor allem auf zwei Quellen stütze sich das Gericht: Auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz aus dem Jahr 1992 und Ausgaben des Revolutionären Zorns - wobei die Wette gilt, dass diese Wissen sich aus Sekundärquellen angelesen wurde. "Die wichtigste Praxis einer Zelle ist politische Diskussion", wurde etwa aus dem Zorn Nr. 5 zitiert, was in den Augen des Senats der unumstößliche Beweis sei, dass Rudolf Sch. nur gelogen haben kann, wenn er behauptet, er sei im Vorfeld des Hollenberg-Attentats lediglich zwei Mal in Westberlin gewesen. Und wenn er behaupte, Mouslis Darstellung sei falsch, beim ZSA-Anschlag seien alle RZ-Militante der beiden Gruppen aufgeboten worden, entgegnete der Senat mit dem Zorn-Zitat, dass es beim militanten Kampf "nicht um 100-prozentige, sondern um 1000-prozentige Sicherheit" ginge - also alle Militanten aufgeboten werden mussten, usw. usf.


Antipat, Seegraben und Mehringhof-Depot

Kurioses wusste der Senat auch zu diesen drei Themen zu sagen, die bis zuletzt umkämpftes Feld im Verfahren waren. Für den Senat spielte es keine Rolle, dass trotz zweimaliger intensiver Suche im Mehringhof kein Waffen- und Sprengstoffdepot gefunden wurde. (s.o) Es spielte auch keine Rolle, dass der Sprengstoff, den Mousli 1995 in einem Seegraben im Norden Berlins entsorgt haben will, erst nach mehrfacher Suche 1999 hundert Meter entfernt von der angeblichen Einwurfstelle entgegen der Fließrichtung gefunden wurde und nach Aussage von Gutachtern dort nicht vier Jahre gelegen haben kann. Erst vor wenigen Wochen hatte sich die Gutachterin Dr. Kasten in der Hauptverhandlung dagegen verwahrt, dass ihr Gutachten zum Algenbewuchs auf dem Sprengstoffpaket aus dem Seegraben irgendeine Gerichtsrelevanz zugesprochen werde - genutzt hat es nichts. Scheinbar einlenkend führte der Senat aus, dass das Gutachten nichts darüber aussage, ob der Sprengstoff 1995 entsorgt worden war, um dann ganz dreist festzustellen, "es gibt Hinweise, dass er dort länger als eine Vegetationsperiode gelegen hat".

Sabine E. und Rudolf Sch. hatten für sich in Anspruch genommen, bereits 1987 zur Erkenntnis gelangt zu sein, dass es für die Fortführung der militanten Politik der RZ weder Anlass noch Legitimation gegeben habe. Diese Haltung sei auch durch das zu dieser Zeit von Sabine E. geschriebene Papier "Was ist das Patriarchat" dokumentiert worden. Der Senat schloss sich der Sichtweise der BAW an, dass dieses Papier nie und nimmer ein "Ausstiegspapier" sei. Vielmehr sollte damit eine Neuausrichtung der Politik der RZ vorangetreiben werden. Zwar stellte der Senat selbst fest, dass die Neuorientierung innerhalb der RZ auf wenig Gegenliebe gestoßen sei (u.a. auch auf den Widerstand von Matthias B., der sich - wie der Senat zu berichten wusste - für eine soziale Orientierung ausgesprochen habe), doch sei der Anschlag auf die Siegessäule der unumstößliche Beweis, dass es diese Neuorientierung gegeben hätte. War doch in der Anschlagserklärung von der Siegessäule als "Symbol, das den Krieg und die Männergewalt verherrlicht", die Rede. Warum die Rest-RZ in Berlin nach dem Ausstieg von Sabine E. und Rudolf Sch. ausgerechnet unter dem "Rädelsführer" Matthias B. (der - wir erinnern uns - die antipatriarchale Ausrichtung der RZ laut Senat bekämpft hat) diese Aktion gemacht haben soll, verriet der Senat allerdings nicht.


Naumburg ist nicht Berlin

Aber um Wahrheitsfindung ging es hier weder im Allgemeinen, noch im Konkreten - vielmehr ging es um die Frage, ob der Straftatbestand nach § 129a nicht eigentlich verjährt ist, bzw. ob er überhaupt nach Auflösung der RZ noch in Anschlag gebracht werden kann. Sollten Sabine E. und Rudolf Sch. Ende der 1980er Jahre den RZ den Rücken gekehrt haben - bzw. zu dieser Zeit keine Zelle mehr in Berlin bestanden haben, dann käme man gefährlich nah an die gesetzlichen Verjährungsfristen heran. Und obwohl die Auflösung der RZ wohl von niemanden bestritten wird, sah der Senat auch keinen Strafaufhebungsgrund vorliegen, wie ihn das Oberlandesgericht Naumburg erst Ende letzten Jahres in einem anderen §-129a-Verfahren erkannt hat. Anders wie die Naumburger KollegInnen, die sich für eine "nicht-restriktive Anwendung" ausgesprochen hatten, votierte der Senat für eine BAW-kompatible Rechtsauslegung: "Tätige Reue" oder das "freiwillige und ernsthafte Bemühen" liege bei keinem der Angeklagten vor. Die RZ sei nicht aus freien Stücken aufgelöst worden, sondern weil deren Politik gescheitert sei.

Die lange U-Haft, die objektiv lange Verfahrensdauer, die lang zurückliegende Tatzeit sowie die Tatsache, dass die Angeklagten in der Regel nicht vorbestraft und sozial eingebunden waren - so der Senat - müsse bei der Schuld- und Straffrage positiv für die Angeklagten gewertet werden. Gegen sie sprach aber ihre lange Mitgliedschaft und dass sie mehrfache schwere Taten begangen hätten - vor allem "Taten, die menschenverachtend waren". Und da war er wieder, fast körperlich präsent: Dr. Korbmacher.

Es darf davon ausgegangen werden, dass die Angeklagten gegen dieses Urteil in Revision gehen.

 

23.03.2004
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