Genua: Manifest der Betroffenen aus der Diaz-Schule
Gipfelinfo - Meldungen über globalisierte Solidarität
und die Proteste gegen unsolidarische Globalisierung
--------------------------------------------------------------------------
Manifest der Betroffenen aus der Diaz-Schule
Das letzte mal waren wir hier in der Nacht vom 21.auf den 22. Juli 2001. In
dieser Nacht sind wir von der Polizei brutal verprügelt, zum Teil fast
totgeschlagen worden. Sie kennen die Bilder von uns, wie wir (z.T. schwer)
verletzt aus diesem Gebäude herausgetragen wurden. Sie wissen, dass wir
anschließend in der Kaserne Bolzaneto weiter misshandelt, bedroht und erniedrigt
wurden, dass wir nicht schlafen und nicht essen durften und nicht medizinisch
versorgt wurden.
Wir werden das nie vergessen. Doch genauso wenig werden wir vergessen, warum wir
damals hierher nach Genua gekommen sind.
So verschieden wir auch sind, so unterschiedlich unsere politischen Positionen
auch aussehen, so haben wir doch eines gemeinsam: nämlich dass wir hier in Genua
zusammen mit 300.000 anderen Menschen unseren Protest gegen die Politik der G8
auf die Strasse getragen haben.
Wir haben hier gekämpft gegen die alle Lebensbereiche durchdringende
kapitalistische Verwertungslogik, gegen eine Aufteilung der Welt in arm und
reich, in GewinnerInnen und VerliererInnen, gegen eine rassistische und stetig
repressiver werdende Migrationspolitik
Wir haben hier gekämpft für eine Welt ohne Herrschafts- und
Ausbeutungsverhältnisse.
Die Knüppel die wir zu spüren bekommen haben, sollten uns zum Schweigen bringen.
Aber: Heute sind wir wieder hier und lassen uns das Wort nicht nehmen. Wir leben
noch und der italienische Staat hat es nicht geschafft, mit ihrem abstrusen
Konstrukt einer ?terroristischen Vereinigung? gegen uns durchzukommen und uns
für Jahre ins Gefängnis zu bringen.
Deshalb können wir jetzt hier sein und sprechen.
Andere können das nicht. 26 italienische Genossen und Genossinnen stehen zur
Zeit vor Gericht und werden mit 8-15 Jahren Gefängnis bedroht - auf der
Grundlage einer ähnlich abstrusen Beweislage, wie sie gegen uns vorgebracht
wurde. Wir erinnern daran, dass auch wir beschuldigt waren, einer imaginären
?Terroristischen Vereinigung Black Block? anzugehören - schwarze
Kleidungsstücke schienen als Beweise für die ?Mitgliedschaft? in diesem
Konstrukt zu genügen.
Nachdem die Konstruiertheit dieser vermeintlichen ?terroristischen Vereinigung?
offensichtlich war, wurde sie nach Jahren schließlich vom Gericht verworfen,
doch gegen die angeklagten 26 Genossen und Genossinnen wird nun von der
Staatsanwaltschaft trickreich ein Paragraph zu ?Verwüstung und Plünderung? ins
Feld geführt, mittels dessen selbst bei dünner Beweislage ähnlich absurd lange
Gefängnisstrafen verhängt werden können.
Außerdem hat die Staatsanwaltschaft angekündigt, dass noch gegen weitere 50
Aktivistinnen und Aktivisten Anklage erhoben wird. Wir vermuten, dass sich unter
diesen 50 z.B. die Angehörigen der Volxtheaterkarawane befinden, denen ihre
Theaterrequisiten als Waffen ausgelegt werden und die aufgrund dieser
sogenannten ?Beweise? schon 3 Wochen inhaftiert waren.
Diese Strategie ist mehr als durchschaubar und sie darf nicht aufgehen.
Wiedereinmal werden Sündenböcke gesucht, um das mehr als brutales vorgehen der
Polizei vor fast drei Jahre und die Welle der Repression in der Zeit danach zu
rechtfertigen.
Den 26, den 50 und allen anderen, die von der Repression betroffen sind, gilt
unsere Solidarität und Unterstützung. Wir lassen uns nicht spalten in ?gute? und
?böse? Demonstrierende.
Die Proteste beim G8-Gipfel waren vielfältig, auch widersprüchlich, sie waren
kraftvoll und entschlossen. Hunderttausende Menschen aus verschiedenen Ländern,
aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und politischen Spektren kamen
hier zusammen und haben gezeigt, dass der globale Kapitalismus angreifbar ist.
Auf die Einteilung in ?kriminell? und ?nicht-kriminell? werden wir uns nicht
einlassen. Wahllos wurden Tausende mit Gas attackiert und Hunderte während der
Demonstrationen und in den Kasernen misshandelt und erniedrigt - einige wenige
wurden nun vor Gericht gestellt. Es hätten auch andere sein können. Und es
hätten auch wir sein können - wären nicht die blutigen Bilder von uns um die
Welt gegangen, wäre nicht die Wahrheit über die gefälschten ?Beweise?, über als
Waffen titulierte Campingutensilien, über den der Phantasie eines Polizisten
entsprungenen Messerstich und über die von der Polizei eigenhändig in die Schule
getragenen Molotowcocktails ans Licht gekommen.
Und so können wir heute nach Genua zurückkehren und dem Auftakt des Prozesses
beiwohnen, der gegen einige eröffnet wurde, die für den Überfall auf uns
verantwortlich sind. Selbst bei der Brutalität der Ereignisse, wie wir sie hier
in der Diaz-Schule erlebt haben, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass die
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Dass es zu diesem Prozess
kommen konnte ist der medialen Aufmerksamkeit, vor allem aber der hartnäckigen
und unermüdlichen Arbeit unserer Anwältinnen und Anwälte gezollt. Angeklagt sind
nur wenige identifizierbare Polizisten und sogenanntes medizinisches Personal.
Teilhabende und verantwortliche PolitikerInnen, diejenigen, die Weisungen
gegeben und die Ausführenden gedeckt haben.
Auf den Strassen, in den Kasernen, in den Gefängnissen und in den Krankenhäusern
von Genua haben wir während und nach dem Gipfel offenes faschistisches Auftreten
von Polizisten und Polizistinnen und - daran gibt es nichts zu beschönigen -
Folter erlebt. Die Erklärung des Innenminister Scajola lautete ?wir haben gute
Arbeit geleistet?. Dieser Ausspruch traf auf Zustimmung im In- und Ausland und
hierbei handelte es sich nicht etwa um voreilige Äußerungen.
Das zeigt auch der Blick auf die aktuellen Geschehnisse:
Berlusconis Auftritt als Nebenkläger gegen die 26 angeklagten AktivistInnen von
Genua und auch die Tatsache, dass ParlamentarierInnen der Alleanza Nazionale die
angeklagten Polizisten verteidigen, machen eindeutig klar, dass an der Linie,
die von den knüppelnden Polizisten verfolgt wurde, von staatlicher Seite
unbeirrt festgehalten wird.
Wir sind inzwischen nicht mehr Beschuldigte, denn die Verfahren gegen uns sind
eingestellt. Wir sind inzwischen KlägerInnen und Kläger im Prozess gegen die
verantwortlichen Polizisten und gegen die sogenannte ÄrtztInnen, die uns Hilfe
verweigert haben. Und dennoch hat die Repression gegen uns kein Ende.
Zu den seelischen und körperlichen Verletzungen, die uns geblieben sind, kommt
hinzu, dass wir seit dieser Nacht in der Diaz-Schule in länderübergreifenden
StraftäterInnen-Dateien geführt werden. Aufgrund dieses Eintrags werden wir in
unserer Bewegungs- und Meinungsfreiheit eingeschränkt. So wurde einem von uns
beispielsweise ein russisches Touristenvisum verweigert. Andere von uns konnten
nicht an politischen Demonstrationen teilnehmen, weil sie bei Personenkontrollen
als vermeintliche potentielle StraftäterInnen vorbeugend in Gewahrsam genommen
wurden.
Repression hat viele Gesichter. Sie betrifft überall auf der Welt Menschen, die
den globalisierten Kapitalismus nicht als das Ende der Geschichte akzeptieren
wollen. Misshandlungen und Psychoterror, Reiseverbote und vorbeugende
Gewahrsamnahmen, Gefängnisstrafen und in letzter Instanz Schüsse wie auf Carlo
Guiliani sind verschiedene Mittel, die Kämpfe für Gerechtigkeit und
Selbstbestimmung zu zerschlagen.
Seitdem beim EU-Gipfel in Göteborg scharf geschossen wurde wissen wir, dass
dabei der Tod von politischen Aktivistinnen und Aktivisten einkalkuliert und im
nachhinein gar staatlich legitimiert wird: Carlos Mörder wurde freigesprochen.
So ist ein Aktivist, dem bei einer Blockadeaktion beim G8-Gipfel in Evian sein
Sicherungsseil durchtrennt wurde, angeklagt, wohingegen der Polizist, der den
Lebensgefährlichen Absturz aus der Höhe von 20m verursachte, keine Konsequenzen
zu erwarten hat.
Viele Menschen haben uns unterstützt und dadurch ermöglicht, dass die
Geschehnisse in der Diaz-Schule öffentlich wurden und nun vor Gericht verhandelt
werden. Hierfür wollen wir uns bedanken; wir wollen die Unterstützung und
Aufmerksamkeit, die wir bekamen, teilen mit den 26 angeklagten AktivistInnen von
Genua, mit den angeklagten Kletterern von Genf und mit all den Aktivistinnen und
Aktivisten, die sie noch brauchen oder brauchen werden.
Wir sind heute hier nicht als Opfer (wie vor 3 Jahren) sondern als Ankläger. Und
wir sind hier in kämpferischer Solidarität mit denen, deren Widerstand
kriminalisiert wird.
Viele Knochen wurden in der Diaz-Schule gebrochen, aber nicht wir als politisch
denkende und handelnde Menschen.
Trotz aller Repression während des G8-Gipfels in Genua ist es nicht gelungen, in
unseren Köpfen die Bilder dieser bedeutenden und vielfältigen Demonstration für
eine solidarische Welt zu löschen. Das gibt uns die Kraft, heute wieder hierher
zurückzukommen, Kraft, die wir den Genossinnen und Genossen vor Gericht, in den
Gefängnissen und in den unzähligen lokalen sozialen Kämpfen überall auf der Welt
von ganzem Herzen wünschen.
Juni 2004
--------------------------------------------------------------------------
gipfelsoli infogruppe
Die AutorInnen der Beiträge, so sie nicht von uns verfasst sind, sind
mit eckigen Klammern versehen. Wir können leider keine Verantwortung
für die Richtigkeit der Beiträge übernehmen. Auch geben die Beiträge
nicht zwangsläufig unsere Meinung wieder.
Kontakt, Kritik, Beiträge: gipfelsoli@nadir.org
--------------------------------------------------------------------------
|