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Berlin: 77. Verhandlungstag im Weinrich-Prozess


Der Tag der Nebenklage

Plädoyers der Nebenklagevertreter und rechtliche Hinweise der Kammer bildeten den inhaltlichen Schwerpunkt des heutigen Verhandlungstages.

Eröffnet wurde er mit einem Antrag der Nebenklagevertreter Ehrig und Maigne. Darin fordern sie die Kammer auf, noch einmal bei der Senatsverwaltung für Justiz dahingehend zu intervenieren, Illich Ramirez Sanchez als Zeugen zu laden (dies hat die Senatsverwaltung bereits zweimal abgelehnt). Die Sachlage habe sich seit dem Beschluß der Senatsverwaltung insofern geändert, als mittlerweile drei der sechs verhandelten Tatkomplexe abgetrennt seien und somit die Befragung des Zeugen entsprechend kürzer ausfallen würde. Die Kammer ging in ihrer Anfrage seinerzeit von einer Vernehmungsdauer von sechs bis acht Wochen aus. Die Senatsverwaltung hatte argumentiert, daß die Sicherheit für Sanchez "nicht mit vertretbarem Aufwand zu gewährleisten" sei.

Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, daß man weiterhin von einer Vernehmungsdauer von sechs bis acht Wochen ausgehe. (Am Rande des Prozesses erklärte RA Maigne dazu, daß dies "unser Revisionsgrund" sei. Demnach scheint die Nebenklage auch einen Freispruch in Betracht zu ziehen.)

Parallel dazu erklärte RA Ehrig, daß er und Maigne Klage beim Verwaltungsgericht auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erhoben hätten mit dem Ziel, Sanchez doch noch als Zeugen in Berlin zu sehen.

Es folgte das Plädoyer von RA Maigne, neben RA Weise der einzige von knapp einem Dutzend Nebenklagevertreter, der während des gesamten Prozesses anwesend war.

Maigne fragte eingangs und in Anlehnung an Staatsanwalt Mehlis, welchen Sinn dieses Verfahren habe. Er erklärte, daß dieser Prozeß "für die Opfer" wichtig gewesen sei. Seit mehr als 20 Jahren seien sie hier mit ihren Leiden "das erste mal wirklich ernst genommen" worden. Er betonte an dieser Stelle, daß es in Frankreich bis heute keine Anklageerhebung gegeben habe.

Im Folgenden ging er näher auf den Verlauf der Hauptverhandlung und die einzelnen Tatkomplexe ein. Zur Rue Marbeuf führte er aus, daß "es hier ungeklärt geblieben" sei, ob jene Frau, die seinerzeit in Jugoslawien das mutmaßliche Tatfahrzeug unter dem Falschnamen Stadelmann gemietet hatte, Christa Fröhlich gewesen sei. Tatsache sei jedoch, daß der Sprengsatz genau zum Zeitpunkt der Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Kopp und Breguet in Paris detonierte. Unklar sei auch geblieben, wer das Fahrzeug präparierte, bzw. in der Rue Marbeuf abgestellt hatte. Zu den Anschläge auf den TGV bei Tain l'Hermitage und im Bahnhof von Marseille stellte Maigne vor allem die Leiden der Opfer heraus, indem er deren Verletzungen sehr detailreich schilderte. Er bezeichnete Weinrich als "den Planer und Organisator" jener Anschläge. Indizien seien für ihn handschriftliche Notizen Weinrichs, die über den Umweg des ungarischen Staatssicherheitsdienstes in die Hände des MfS gelangt seien, sowie ein Bekennerschreiben der Carlos-Gruppe. Die "Aussage" Ali al Issawis ma=DF er "kein entscheidendes Gewicht hinsichtlich eines Urteils" bei. Sie sei "bestenfalls als Hinweis" zu werten. Maigne beantragte, Weinrich wegen sechsfachen Mordes und 21fachen versuchten Mordes zu verurteilen. Auffällig am Plädoyer des Nebenklagevertreters waren jene Aspekte der Beweisaufnahme, die er nicht erwähnte. Unerwähnt blieb so beispielsweise, daß es vor dem Bekennerschreiben der Carlos-Gruppe zu den Anschlägen vom 31. 12. 1983 bereits elf andere - meist von Rechtsextremen verfaßte - Bekennerschreiben gegeben hatte.

Es folgten drei weitere Plädoyers von Nebenklagevertretern, die sich dem Plädoyer Maignes anschlossen und von "Genugtuung für die Opfer" und den Schrecken und Traumatisierungen der Geschädigten sprachen. Keiner dieser Kurzvorträge dauerte nach mehr als fünfzehnmonatiger Verhandlungsdauer länger als fünf Minuten.

RA Weise ging, nachdem er detailreich die Verletzungen von Geschädigten und das "Einsammeln von Organteilen" beschrieben hatte, noch einmal auf die verhinderte Zeugenladung von Sanchez ein. Er verglich Sanchez mit Georgi Dimitroff, der im Reichstagsbrandprozeß "den NS-Staat diffamiert" habe und betonte, daß solche möglichen Überlegungen in Hinblick auf "den einzigen direkten Zeugen" keine Rolle spielen dürften. Der Verteidigung warf er vor, einen "Foltervorwurf in diesem Verfahren hochstilisiert" zu haben. Für ihn sei "die Täterschaft der Gruppe, losgelöst von einzelnen Personen" entscheidend, wobei er die Unterstützung der Gruppe durch Geheimdienste betonte.

Nebenklagevertreter Schulz (einer der Großverdiener in diesem Verfahren) bezeichnete sich als "Organisator" der Nebenklage und beschränkte sich in seinem Kurzvortrag darauf, die Schöffen vor den Plädoyers der Verteidigung zu warnen und zwei Artikel aus der "taz" bzw. der "Welt am Sonntag" auszugsweise zu zitieren, in denen Sanchez bzw. dessen Rechtsanwältin Coutant-Peyre ihre "menschenverachtende Haltung" zum Ausdruck gebracht hätten.
Ausdrücklich unterstützte er die Intention von Staatsanwalt Mehlis, "den Begnadigungsgedanken im Keim zu ersticken".

Der "rechtliche Hinweis" der Kammer, daß Weinrich möglicherweise auch wegen tateinheitlich versuchten Mordes in 21 Fällen bzw. Beihilfe verurteilt werden könnte, löste bei der Verteidigung den Antrag aus, den für kommenden Freitag terminierten "Sondersitzungstermin" aufzuheben, um mehr Zeit für die Analyse dieses Hinweises zu haben. Dies lehnte die Kammer zunächst mit direktem Beschluß ab. Die Verteidigung argumentierte daraufhin, daß es sehr wohl möglich sei, einen Termin aufzuheben, wenn die Nebenklagevertreter einen Termin beim ,La Belle'-Revisionsverfahren wahrnehmen müßten und sprach von einer Behinderung der Verteidigung. RA Elfferding beantragte deshalb einen Gerichtsbeschluß. Dem gab die Kammer nach der Mittagspause statt und hob ihren Beschluß sowie den kommenden Termin auf.

Für den nächsten Termin werden erste Plädoyers und Hilfsbeweisanträge der Verteidigung erwartet.

Nächster Termin: 28. 06., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500

 

24.06.2004
anomym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  [Schwerpunkt: Weinrich-Prozess]  Zurück zur Übersicht

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